86
Abbey sah, wie der Körper mit einem ekelerregenden Schlag mit dem Kopf voran ins Meer flog und verschwand. Die Wucht der Kollision warf sie nach vorn gegen die gebogene Reling, und sie kippte beinahe darüber. Jackie gab vollen Rückwärtsschub, das Wasser um das Heck der Marea II brodelte wild, und Abbey klammerte sich mit aller Kraft fest, während die Marea II anhielt, zur Seite kippte und beinahe kenterte. Nach einem grauenhaften Augenblick glitt das Boot rückwärts und richtete sich auf. Abbey hatte keine Chance gehabt, an Bord zu gehen. Der Schwung ihres Bootes stieß das andere in die krachende Brandung, wo es von einem riesigen Brecher erfasst und bebend gegen die Felsen geschmettert wurde. Zu Abbeys Entsetzen entdeckte sie ihren Vater in der Steuerkabine, wo er versuchte, sich von Handschellen zu befreien, die ihn ans Steuer ketteten.
Ohne erst ihren Befehl abzuwarten, gab Jackie der Marea II wieder Schub nach vorn und brachte sie ans halb zertrümmerte Heck des anderen Bootes.
»Dad!« Den Bolzenschneider schon in der Hand, machte Abbey einen riesigen Satz vom Bug und landete auf dem sinkenden Heck. Die nächste Welle warf das Boot mit fürchterlichem Krachen ein zweites Mal gegen die Felsen, und Abbey fiel. Sie hielt den Bolzenschneider fest, packte ein Stück der geborstenen Reling und kämpfte sich auf die Füße. Sie versuchte, auf dem splitternden Deck Halt zu finden. Ein Blitz tauchte die Szene in unirdisches Licht, gefolgt von einem scharfen Donnerknall. Sie taumelte auf die Steuerkabine zu. Ihr Vater war da drin, immer noch ans Steuerrad gefesselt.
»Dad!«
»Abbey!«
Ein schwindelerregend hoher Brecher rollte aus der Dunkelheit heran und türmte sich über dem Boot auf. Abbey wappnete sich, schlang beide Arme um die Reling, und die Welle krachte herab, schleuderte das Boot mit voller Wucht gegen die Wand aus Felsen und zerdrückte die Steuerkabine wie einen Pappbecher. In aufgewühltes Wasser getaucht, klammerte Abbey sich aus Leibeskräften fest, um nicht vom Sog des nächsten Wellentals vom Boot gerissen zu werden. Nach einer scheinbaren Ewigkeit, als ihre Lunge schon zu platzen drohte, zog sich das wirbelnde Wasser zurück, und sie kam japsend an die Oberfläche. Das Boot war plötzlich nur noch ein Wrack. Es lag auf der Seite, mit geborstenem Rumpf und gesplitterten Spanten, das Cockpit in Stücke gehauen – und das Steuer war jetzt unter Wasser. Ihr Vater war weg.
Mit übermenschlicher Kraft packte sie die Reling und hangelte sich zu der zerschmetterten Steuerkabine. Das Boot sank schnell, alles war schon unter Wasser.
»Dad!«, kreischte sie. »Dad!«
Eine weitere Welle traf das Boot und schleuderte sie so heftig gegen die gebrochene Wand des Cockpits, dass ihr der Bolzenschneider aus den Händen flog und im schwarzen Wasser verschwand.
Sie hielt den Atem an und tauchte hinab, die Augen im trüben, wirbelnden Wasser weit aufgerissen. Sie sah ein zuckendes Bein, einen Arm – ihr Vater. Ans Steuer gefesselt. Unter Wasser.
Der Bolzenschneider.
Mit einem Scherenschlag tauchte sie hinab in das umgekippte Cockpit und tastete verzweifelt nach dem Bolzenschneider. Das trübe Licht des Suchscheinwerfers von der Marea II drang zu ihr herab, und sie konnte wieder etwas sehen. Schroffe Felsen unter der Wasseroberfläche brachen und sägten sich durch den tiefer gelegenen Teil des Cockpits, der am Riff hängengeblieben war, doch darunter gähnte schwarze Leere – der Bolzenschneider war im Abgrund davor verschwunden. Die Strömung wirbelte um sie herum, das Wasser war voller Trümmerteile und Öl, das aus dem geborstenen Motor leckte, so dass sie kaum mehr etwas sehen konnte. Das war’s – ohne den Bolzenschneider hatte ihr Vater keine Chance. Sie konnte den Atem nicht mehr anhalten, schwamm an die Oberfläche, rang nach Luft und tauchte wieder ab in der verrückten Hoffnung, sie könnte bis zum Grund tauchen und das Ding finden.
Und da war es plötzlich: Der Bolzenschneider war an einem zerbrochenen Fensterrahmen hängengeblieben und baumelte über der schwarzen Tiefe. Sie riss ihn an sich und schwamm zum Steuerrad. Ihr Vater schlug nicht mehr um sich, sondern trieb reglos im Wasser. Sie packte das Rad, hielt sich daran fest, legte den Bolzenschneider an die Kette der Handschellen und drückte die Griffe zusammen. Die Kette fiel auseinander, sie ließ den Bolzenschneider los, krallte eine Hand ins Haar ihres Vaters und zog ihn hoch. Sie brachen im Inneren des Cockpits durch die Oberfläche, als eine weitere Welle in das Boot krachte und es auf den Kopf stellte. Plötzlich waren sie unter Wasser. Abbey hielt immer noch den Schopf ihres Vaters gepackt und hievte ihn gleich darauf wieder hoch. Diesmal kamen sie in der Kabine wieder hoch, in einem Lufteinschluss unter dem Rumpf. »Dad!«
Er hustete und japste nach Luft.
Abbey schüttelte ihn. »Dad!«
»Abbey … O Gott … Was?«
»Wir sind unter dem Rumpf gefangen!«
Ein ungeheurer Krach ließ alles erbeben, und der Rumpf rollte seitwärts. Gleich darauf riss ein zweiter donnernder Schlag ihn auf, und er brach mit einem Kreischen auseinander. Wasser schoss herein, als die Luft entwich.
»Abbey! Raus hier!«
Im Durcheinander des wirbelnden Wassers bekam sie einen mächtigen Stoß versetzt, und sie schwammen in der tosenden Brandung am äußeren Rand der Felsen, wo ein starker Sog sie auf die tödlichen Brecher zuzog.
»Abbeeey!« Sie sah die Marea II in etwa zehn Metern Entfernung. Jackie stand mit einem Rettungsring an der Reling. Sie schleuderte ihn in ihre Richtung, aber das Seil war nicht lang genug, und der Ring schaffte es nicht ganz bis zu ihnen. Gleich darauf tauchte ihr Vater wieder auf. Sie packte erneut eine Faust voll Haare und arbeitete sich mit Scherenschlägen und einhändigen Schwimmzügen voran, so gut es ging. Sie schaffte es, ihn zu dem Ring zu ziehen. Jackie legte den Rückwärtsgang ein und schleppte sie aus dem Sog der Brandung, dann holte sie den Rettungsring ein und hievte sie beide nacheinander an Deck, wo sie bäuchlings liegen blieben.