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Mit Hilfe der GPS-Daten fixierte Burr einen Zielpunkt auf seiner Karte und nahm Kurs auf das Riff mit der Bezeichnung »Devil’s Limb«.

Er warf einen Blick hinter sich zu Straw; der hing zusammengesackt im Heck, immer noch an die Reling gefesselt, nur halb bei Bewusstsein und von Regen und Gischt völlig durchnässt. Möglicherweise war dieser letzte Schlag etwas zu hart gewesen. Scheiß drauf, er würde schon wieder so weit zu sich kommen, dass er seine Rolle in der letzten Szene spielen konnte.

Als sich das Boot aus dem Schutz der Muscle Ridge Islands auf die offene Penobscot Bay hinausschob, hatte Burr plötzlich Mühe, das Steuer zu halten. Eine gewaltige Woge nach der anderen marschierte aus der Dunkelheit auf ihn zu, jede mit einem hohen, schaumigen Kamm gekrönt und von Regenschleiern begleitet. Er schaltete den Suchscheinwerfer ein, der auf dem Dach montiert war, und schwenkte den Strahl durch die stürmische Dunkelheit. Er beleuchtete Berge über Berge aufgepeitschten Wassers, so weit der Lichtschein reichte. Es war beängstigend.

Das war doch verrückt. Vielleicht brauchte er gar nichts zu unternehmen – wahrscheinlich würden sie ganz von allein sinken und das Problem für ihn lösen. Aber dafür gab es keine Garantie, und man konnte nicht wissen, was sie bis dahin der Küstenwache alles erzählen würden. Außerdem hatten sie womöglich eine Seenotfunkboje an Bord – sein Boot hatte jedenfalls eine –, die in so einem Fall automatisch ein Notsignal senden würde, auch wenn sie die Küstenwache nicht selbst riefen. Nein, er durfte nicht das geringste Risiko eingehen, dass sie das hier überlebten. Alle drei mussten sterben. Und das Unwetter bot ihm schließlich Deckung.

Der Radarbildschirm war voller Rauschen vom Regen, der aufgewühlten See und der spritzenden Gischt. Er verstellte die Auflösung, aber das Radar war praktisch nutzlos. Das GPS-Gerät gab seine Geschwindigkeit mit sechs Knoten an, und zumindest der Kartenplotter funktionierte einwandfrei. Er gab langsam Gas bis auf acht Knoten, und das Boot schaukelte buckelnd und wankend durchs Wasser, stieg an jeder Welle gefährlich in die Höhe, stürzte durch den schäumenden Kamm und fiel dann steil ins Wellental, dass einem schlecht werden konnte – es war beinahe, als stürzte man einen Wasserfall hinab. Er klammerte sich am Steuerrad fest und versuchte, den Bug vorn zu halten, obwohl es schien, als wollten alle Mächte der Welt das Boot seitwärts vor die schrecklichen Wellen schieben. Wie um seine Angst zu bestätigen, klatschte eine Welle gegen den Bug, grünes Wasser raste an den Schandecks entlang, schwappte ins Cockpit und sprudelte zu den Speigatten hinaus. Harry verlor die Nerven und verlangsamte die Fahrt auf sechs Knoten. Das Mädchen konnte ihm nicht entkommen – und der Vater war sein Ass im Ärmel. Die kleine Schlampe würde nie ihren Vater im Stich lassen.

Er bedachte auch die Möglichkeit, dass dies eine Art Falle sein könnte, ein Versuch, ihn aufs offene Meer zu locken, wo der Sturm sein Boot versenken würde. Aber das war gewiss nicht ihr Plan: Er hatte ihren Vater an Bord. Abgesehen davon hatte er das größere, seetüchtigere Fahrzeug. Wenn irgendjemand untergehen würde, dann sie.

Hatten die Mädchen vor, ihm aufzulauern? Möglich. Wenn ja, war das der dümmste Plan überhaupt. Er hatte eine Pistole, er hatte den Vater an der Reling festgekettet und den Schlüssel in der Tasche. Wollten sie ihn auf die Felsen locken? Nicht mit dem supermodernen GPS und dem Kartenplotter, die er an Bord hatte.

Nein, Harry Burr nahm an, dass sie tatsächlich die Wahrheit sagten, was ihr Treibstoffproblem anging. Sie waren so panisch, dass sie sogar bereit waren, seinen lahmen Versprechungen zu glauben. Er hatte nicht weniger als fünf Magazine durch die Desert Eagle laufen lassen, insgesamt 30 Schuss 44er-Magnum-Patronen, und da war es sehr gut möglich, dass mindestens eine davon irgendeine Treibstoffleitung beschädigt hatte. Devil’s Limb lag auf dem Weg nach Rockland, und es erschien ihm auch logisch, dass der Weg um den Nubble herum nach Owls Head bei diesem Seegang als viel zu gefährlich galt. Alles, was sie behaupteten, passte.

Er hielt sich mit einer Hand am Steuerrad fest und legte die vier leeren Magazine vor sich auf das Armaturenbrett, daneben eine Schachtel Munition. Dann drückte er mühsam mit nur einer Hand die Kugeln in die Magazine, bis alle wieder voll waren. Er steckte die schweren Magazine in seine Hosentaschen, zwei auf jeder Seite. Er hatte nicht vor, hier herumzuspielen. Sein Plan war ganz einfach: sie umbringen, ihr Boot versenken und sich nach Rockland Harbor zurückziehen. Dort würde er dieses Boot festmachen und einfach davonspazieren. Sein Name tauchte nirgends auf, Straw hatte das Boot allein angemietet und ihn später außerhalb des Hafens aufgesammelt, in einer beinahe menschenleeren kleinen Bucht ein Stück die Küste hinauf. Niemand ahnte auch nur, dass er an Bord war. Ja, in ein paar Tagen oder Wochen würde man vielleicht Straws angeknabberten Leichnam mit einer Kugel im Kopf finden, doch bis dahin würde Burr längst weg sein. Und er würde dafür sorgen, dass Straw eine ordentliche Seebestattung erhielt, mit reichlich Ankerkette und Tau, damit er auch unten blieb.

Was die Mädchen anging – nun, die würde er auf ähnliche Weise bestatten und auch ihr Boot versenken.

Es war vermutlich schon zu spät, um die Festplatte in die Hände zu bekommen und seine zweihunderttausend einzusammeln, jedenfalls in dieser Runde. Aber es war nicht zu spät, um sauber zu machen – und sauber machen musste man auf jeden Fall. Er spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte, und versuchte, sie unter Kontrolle zu halten. Das kommt eben mal vor, sagte er sich. Man kann nicht immer nur gewinnen. Dies war nicht der erste Auftrag, bei dem er versagt hatte, und es würde nicht der letzte sein. Lass nichts unerledigt herumliegen, dann lebst du weiter und kannst den nächsten Job annehmen.

Er fischte die Zigaretten aus der Tasche und stellte fest, dass sie natürlich völlig durchweicht waren. Das Boot sprang über eine Welle und stürzte auf der anderen Seite hinab, und er packte das Steuerrad mit beiden Händen und hielt sich fest. Herrgott, er konnte es kaum erwarten, dass diese drei Arschlöcher endlich am Grund des Atlantiks lagen.

Der Krater
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