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Während die Marea II immer weiter hinaus aufs offene Meer vordrang, verstärkte sich der Wind zu einem brüllenden Sturm, und die See türmte sich zu monströsen Hügeln und Tälern auf. Die Schaumstreifen auf den Kämmen der riesigen Wogen kamen wie verschwommene graue Bergrücken auf sie zu. Abbey überließ Jackie gern das Steuer und war froh über deren seemännisches Geschick. Jackie hatte einen Trick drauf, jede Welle im Dreißig-Grad-Winkel hinaufzufahren, dabei langsam Gas zu geben, dann das Boot zu drehen und Vollgas zu geben, so dass es möglichst leicht durch schäumende Wellenkämme kam, um dann wieder langsamer zu werden und vorwärts in den Wellentrog zu sinken. Das Manöver machte Abbey eine Scheißangst, aber Jackie zog es erfolgreich durch, ein ums andere Mal.
»O Scheiße«, sagte Jackie und spähte voraus. Eine weiße Linie kam auf sie zugerollt, höher als die anderen, so hoch, dass sie über dem Wasser zu schweben schien wie eine absurd tiefhängende Wolke. Das Boot sank so schnell, dass einem der Magen absackte, in den Trog davor, wo es im Windschutz des Wellenbergs unheimlich still war. Dann begann das Boot zu steigen und neigte sich steil aufwärts, der über ihnen aufragenden, brechenden Welle entgegen.
»Langsam!«, schrie Abbey, die die Nerven verlor.
Jackie ignorierte sie, jagte den Motor auf 3000 Umdrehungen hoch und stellte das Boot noch stärker diagonal zur Welle, während sie an ihr hochfuhr. Der Kamm erschien plötzlich über ihnen, ein fauchender, schäumender Wasserfall, und der Bug des Bootes schoss hinein, als Jackie das Steuer plötzlich herumriss. Das Wasser brach sich brüllend am Bug und raste über das Deck, klatschte gegen die Fenster der Kabine und spritzte in die Höhe. Das Boot erbebte, zögerte kurz, als werde es gleich unter Wasser gedrückt, brach dann mit brüllendem Motor durch, neigte sich nach vorn und schoss abwärts. Jackie nahm sofort das Gas weg, beinahe bis zum Standgas zurück, und ließ die Schwerkraft das Boot ins nächste Wellental hinabtragen.
»Da kommt wieder so eine«, bemerkte Abbey. »Noch höher.«
»Ich sehe sie«, murmelte Jackie. Sie gab Gas, stieg an der Welle empor, schoss durch den brechenden Kamm, wobei das ganze Boot stöhnte vor Anstrengung, ehe es wieder in die Tiefe sank. Sie kämpften sich durch die Reihe gewaltiger Wellen, eine nach der anderen, Berge aus Wasser, die ins Nirgendwo marschierten. Jedes Mal war Abbey sicher, dass sie untergehen würden; doch jedes Mal befreite sich das Boot aus dem Wasser und kam wieder in die Waagerechte, ehe es sich nach vorn neigte und der ganze schreckliche Tanz von vorn begann.
»Himmel, hast du das auf dem Boot deines Dads gelernt?«
»Wir haben im Winter oft hinter Monhegan gefischt. Sind in ein paar Nordoster geraten, nicht weiter dramatisch.«
Sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, aber Abbey ließ sich nicht täuschen. Sie dachte an ihren eigenen Vater, der sie übervorsichtig behütet und ihr nie erlaubt hatte, sein Boot zu steuern. Ihr wurde schlecht vor Angst, wenn sie an ihn dachte, an die Reling gefesselt, in diesem Sturm mit einem Wahnsinnigen. Ihr Plan war verrückt, ja im Grunde war er gar kein richtiger Plan. Sich ergeben? Und was dann? Natürlich würde er sie alle umbringen. Das war seine Absicht. Was glaubte sie eigentlich, dass sie es ihm irgendwie würde ausreden können? Sollte sie doch einen Notruf an die Küstenwache absetzen? Er würde es hören und ihren Vater umbringen, falls sie das versuchte. Und selbst wenn nicht – die Küstenwache würde bei diesem Wetter niemals rausfahren.
Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Und dann schnarrte eine Stimme über Kanal 72: »Dein Daddy ist wach. Möchtest du ihm hallo sagen?«