26

Ford wartete auf der Veranda, während die Minuten verstrichen. Die Soldaten standen herum, die Waffen schussbereit. Nummer Sechs saß im Schaukelstuhl und blickte über das Tal hinweg. Der Stuhl quietschte leise beim Schaukeln, vor und zurück. Vor und zurück. Selbst im Schatten der Veranda war die Hitze schier unerträglich, die Luft wie tot. Lärm hallte von der Mine herauf, wo schwankende Reihen von Arbeitern sich in einer grausamen Endlosschleife bewegten. Hin und wieder verkündete ein Schuss das umstandslose Ende eines weiteren Lebens. Kinder krochen auf dem Steinhaufen herum, und der Rauch der Kochfeuer stieg in den weißen, vor Hitze glühenden Himmel auf. Tuk stand reglos da, die Augen wie im Schlaf geschlossen. Die Soldaten traten immer wieder nervös von einem Fuß auf den anderen und ließen den Blick hastig in den Himmel oder zu der doppelten Hügelkuppe hinüberschweifen.

Das langsame Quietschen endete mit einem Knirschen. Nummer Sechs sah auf die dicke Rolex an seinem Handgelenk und hob das Fernglas, um sich den Hügel anzuschauen. »Vierzig Minute. Nichts. Ich Ihnen gebe zehn Minute umsonst.«

Ford zuckte mit den Schultern.

»Wir gehe in Haus«, sagte Nummer Sechs zu Ford und erhob sich aus dem Schaukelstuhl. »Kühler drinnen.«

Die Bewaffneten schoben Ford durchs Haus. Hinter der Küche, neben einem Schweinekoben, war ein schuppenartiger Anbau errichtet worden. Er war aus Rohholz gezimmert und leer bis auf einen Holztisch und einen Stuhl. Sobald sie den Raum betraten, begannen die Schweine draußen erwartungsvoll zu quieken und zu grunzen.

Ford bemerkte getrocknetes Blut an dem Stuhl und mehrere große Blutschmieren am Boden, den jemand halbherzig gewischt hatte. Fliegen brummten in der stinkenden Hitze. Eine Blutspur führte zu einer Tür nach hinten raus, die sich direkt in den Schweinekoben öffnete.

Die Soldaten stießen Ford auf den Stuhl und fesselten ihm die Hände im Rücken an die Lehne. Mit Klebeband schnürten sie ihm die Knöchel an die Stuhlbeine, und dann banden sie ihm die Sägekette einer Motorsäge um die Taille und den Stuhl und sicherten sie mit einem Vorhängeschloss. Die Sägezähne bohrten sich in seine Haut.

Die Soldaten arbeiteten mit einer Effizienz, die man nur durch Übung erlangte. Tuk betrat den Raum, bezog in einer Ecke Stellung und verschränkte die langen Arme vor der Brust.

Draußen begannen die Schweine vor Aufregung zu kreischen.

»Soso«, sagte Nummer Sechs und baute sich vor Ford auf. Er zog ein altes KA-BAR-Messer unter dem Hemd hervor und lächelte. Er setzte das Messer unter Fords obersten Hemdknopf und ließ es leicht nach oben schnippen. Der Knopf sprang ab. Er setzte die Messerspitze unter dem nächsten Knopf an, schnitt ihn ab, und dann den nächsten, bis das Hemd ganz offen war.

»Sie sind große Lügner«, sagte er.

Das Messer schnippte den letzten Knopf beiseite, und er schob es unter Fords Unterhemd, mit der Klinge nach außen, und schlitzte es von unten bis oben auf. Er legte die Messerspitze unter Fords Kinn, wartete kurz, und ließ sie dann leicht nach oben rucken. Ford spürte ein Brennen und nasses Blut, das sich an seinem Kinn sammelte und ihm in den Schoß tropfte.

»Oje«, sagte Nummer Sechs.

Die Klinge blitzte auf, ritzte Fords Brust, schoss noch einmal hinab und setzte einen weiteren Schnitt. Ford erstarrte, als er warmes Blut rinnen spürte. Das Messer war extrem scharf, deshalb empfand er bisher wenig Schmerzen.

»Ziel mit x markiere«, sagte Nummer Sechs.

»So etwas macht Ihnen wirklich Spaß, nicht wahr?«, erwiderte Ford.

Tuk beobachtete sie von seinem Platz neben der Tür.

Die Messerspitze zog sacht eine Spur an seiner Brust hinab zum Bauch und bohrte sich unter seinen Hosenknopf.

Ein tiefes Bumm donnerte durch das Tal und hallte von den Hügeln wider. Nummer Sechs und Tuk erstarrten.

»Oje«, sagte Ford.

Nummer Sechs schob das Messer in die Scheide und wechselte einen raschen Blick mit Tuk. Der große Mann schlenderte ohne ersichtliche Eile aus dem Raum und durch das Haus nach vorn. Gleich darauf kehrte er zurück und nickte Nummer Sechs zu. Der Kambodschaner bellte einen Befehl, woraufhin die Soldaten Ford von seinen Fesseln befreiten, ihm einen Lappen gaben, mit dem er sich das Blut abwischen konnte, und ihn wieder durchs Haus nach vorn auf die Veranda führten. Eine schlangenartig gekrümmte Wolke aus Rauch und Staub löste sich gerade über der Kuppe eines nahen Hügels auf.

»Falsche Hügel«, sagte Nummer Sechs, der Wolke und Himmel durch sein Fernglas musterte.

Ford zuckte mit den Schultern. »Diese Hügel sehen alle gleich aus.«

»Ich sehe nicht Drohne.«

»Natürlich sehen Sie sie nicht.«

Ford bemerkte, dass Nummer Sechs, dem die Hitze bisher offenbar nichts angehabt hatte, nun stark zu schwitzen begann.

Ford sagte: »Ihnen bleiben jetzt noch sechzig Minuten, bis das Lager zerstört und Sie alle gejagt und über den Haufen geschossen werden wie die Hunde. Sie sollten sich wirklich bald entscheiden.«

Nummer Sechs starrte ihn mit schmalen, harten schwarzen Augen an. »Wie bekomme ich diese Million Dollar Geld?«

»Holen Sie mir meinen Rucksack.«

Nummer Sechs brüllte einen Befehl, und einer der Soldaten verschwand und kehrte sogleich mit Fords Rucksack wieder, den sie ihm als Allererstes abgenommen hatten.

»Geben Sie ihn her«, verlangte Ford.

Ford bekam den Rucksack und holte einen Umschlag heraus. Der war bereits aufgerissen und wie alles andere durchsucht worden. Er reichte ihn Nummer Sechs.

»Was das?«

»Das ist der Briefkopf der Atlantik-Vermögensverwaltungsbank in der Schweiz. Der Brief enthält eine Kontonummer und eine Geheimzahl für den Zugang zu dem Konto. Bitte beachten Sie den Kontostand hier: eins Komma eins Millionen Schweizer Franken, das entspricht etwa einer Million Dollar. Mit diesem Geld können Sie sich irgendwo niederlassen, wo Ihnen nichts geschehen kann. Sie werden den Rest Ihrer Tage in Ruhe und Komfort verbringen, umgeben von Ihren Kindern und Enkeln.«

Nummer Sechs zog ein Leinentuch aus der Tasche und fuhr sich damit leicht über die Stirn.

»Sie brauchen nichts weiter zu tun«, fuhr Ford fort, »als diesen Brief vorzulegen und den Code zu nennen, um Ihr Geld abzuholen. Wer den Brief und den Code überbringt, bekommt das Geld – haben Sie das verstanden? Wer immer das ist. Aber es gibt da einen Haken.«

»Ja?«

»Wenn ich nicht binnen achtundvierzig Stunden in Siem Reap erscheine und mich melde, verschwindet das Geld von dem Bankkonto.«

Nummer Sechs fuhr sich erneut mit dem Tuch über die Stirn. Ford warf einen Blick auf Tuk. Der schwitzte nicht; er runzelte die Stirn und starrte auf die dünne Rauchspindel, die am Himmel über dem Hügel verschwand.

Dann sagte Tuk: »Das war eine kleine Rakete. Vielleicht schicken wir besser einen Mann auf den Hügel, der sich das ansieht.« Er wandte sich Ford zu und lächelte breit.

Ford sah auf seine Armbanduhr. »Wie Sie wollen. Sie haben noch fünfzig Minuten.«

Tuk sah ihn mit schlitzförmigen Augen an. »Das ist genug Zeit.« Er wandte sich ab und sagte etwas zu Nummer Sechs in dem Dialekt, den Ford nicht verstand. Nummer Sechs gab einem der Soldaten, einem drahtigen Jungen von höchstens achtzehn Jahren, einen ebenso unverständlichen Befehl. Der Junge legte seine Waffe weg, nahm den Munitionsgürtel ab und zog sich bis auf die weite schwarze Hose und das lockere Hemd aus. Nummer Sechs zog eine 9-mm-Pistole aus dem Gürtel, überprüfte das Magazin und gab sie dem Jungen, zusammen mit einem Walkie-Talkie. Der Junge verschwand wie der Blitz im Dschungel.

»Er wird den Hügel in einer Viertelstunde erreichen«, erklärte Tuk. »Dann werden wir ja sehen, ob das eine Rakete war – oder ein Trick.« Er lächelte und starrte Ford an, wobei er zum ersten Mal die Augen ganz öffnete. Das verlieh seinem Gesicht einen ulkigen, überraschten Ausdruck, der sogar noch unheimlicher wirkte.

Sie warteten. Äußerlich blieb Ford ruhig. Khon hatte offensichtlich nicht genug Zeit gehabt, um den Hügel mit der doppelten Spitze zu erreichen. Und anscheinend hatte er auch nicht genug Sprengstoff auftreiben können – das war eine eher armselige Explosion gewesen.

Die Spannung auf der Veranda nahm zu.

»Zehn Minuten«, sagte Tuk mit einem weiteren Lächeln, das faulige Zähne offenbarte.

Die Soldaten traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Nummer Sechs schwitzte. Er las den Brief noch einmal durch, steckte ihn in den Umschlag und schob ihn sich unters Hemd.

»Fünf Minuten«, verkündete Tuk.

Ein weiteres Bumm hallte durch das Tal, ein Feuerball stieg über dem Dschungel auf, und Rauch quoll in den Himmel. Nummer Sechs fummelte das Walkie-Talkie von seinem Gürtel und brüllte hinein – offenbar versuchte er, Kontakt zu dem Soldaten aufzunehmen. Nur Rauschen. Er warf das Funkgerät beiseite und suchte mit dem Fernglas den leeren Himmel ab. »Ich sehe nicht Drohne!«, kreischte er.

Ford konzentrierte sich ganz auf Tuk. Der alte Mann hatte den Blick von dem Hügel abgewandt und starrte Ford mit klugen braunen Augen an. Ein langer, fester Blick.

»Wer auch immer den Brief vorlegt, Sie oder ein Stellvertreter«, wiederholte Ford langsam, »bekommt das Geld.« Bei diesen Worten hielt er den Blick auf Tuk gerichtet, und er sah den Ausdruck verschlagener Erkenntnis in den intelligenten Augen des Mannes.

Mit einer einzigen, fließenden Bewegung zog Tuk eine 9-mm-Pistole aus dem Gürtel, zielte auf Nummer Sechs’ Kopf und schoss. Der Kopf des weißhaarigen Mannes zuckte zur Seite, sein Gesicht trug einen Ausdruck völligen Erstaunens, und sein Hirn spritzte laut klatschend auf den Boden der Veranda. Mit einem weichen Plumpsen brach er zusammen und blieb still liegen, die Augen weit aufgerissen.

Die Soldaten sprangen vor Schreck in die Luft, als seien sie selbst angeschossen worden. Sie wirbelten herum und richteten die Waffen auf Tuk, den sie mit hervorquellenden Augen anstarrten.

Tuk sagte gelassen auf Khmer: »Ich habe die Führung übernommen. Ihr arbeitet für mich. Habt ihr verstanden? Jeder von euch bekommt eine Belohnung von einhundert amerikanischen Dollar für seine Kooperation, zahlbar auf der Stelle.«

Nach kurzer Verwirrung war alles vorbei. Jeder der Soldaten presste die Handflächen zusammen und verneigte sich vor Tuk.

Der große Kambodschaner bückte sich und zog vorsichtig den Brief aus Nummer Sechs’ Jackentasche, um ihn zu retten, ehe die Blutlache auf dem Boden sich bis dorthin ausbreiten konnte. Er schob ihn in seine Tasche und wandte sich mit leichtem Lächeln Ford zu. »Was geschieht jetzt?«

»Befehlen Sie Ihren Soldaten, das Lager zu räumen. Alle sollen weg: Wachen, Gefangene, Arbeiter. Falls die CIA feststellt, dass sie unschuldige Arbeiter getötet hat, weil sie im Lager zurückgeblieben waren, bekommen Sie Ihr Geld nicht. Das Bombardement beginnt in …« Er sah auf seine Uhr. »… dreißig Minuten.«

Ruhig ging Tuk ins Haus und kam gleich darauf mit einem dicken Bündel Zwanzig-Dollar-Scheine wieder, in Plastik gehüllt. Er zählte jedem Soldaten fünf Scheine in die Hand, legte jeweils noch einen Zwanziger drauf und befahl ihnen, das Lager zu räumen und alle in den Dschungel zu treiben – die Amerikaner würden in einer halben Stunde das Lager bombardieren.

Während die Männer den Pfad entlangrannten und in die Luft schossen, streckte Tuk Ford die Hand hin. »Ich fand es immer angenehm, Geschäfte mit den Amerikanern zu machen«, erklärte er mit einem leichten Lächeln.

Ford brachte nur mit Mühe ebenfalls ein Lächeln zustande.

Der Krater
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