68

Als die Marea II zwischen die Inseln glitt, verlangsamte Abbey die Fahrt auf vier Knoten. Little Green lag fast in der Mitte der Inselgruppe, und es gab nur zwei Wege, sie anzusteuern, einen von Nordwesten und einen von Osten. Beide Routen waren eng und schwierig, mit Untiefen und Riffen zu beiden Seiten, und man musste sehr vorsichtig fahren. Es war dunkel geworden, und die ersten Sterne erschienen am Nachthimmel.

Die Inseln glitten dunkel und still vorüber. Den Blick fest an den Kartenplotter geheftet, manövrierte Abbey das Boot durch die gewundenen Kanäle, bis Little Green in Sicht kam, eine lange Insel mit Fichtenwald und einer halbmondförmigen Bucht in der Mitte. Von der Bucht gelangte man über eine große Wiese zu der alten Fischerhütte.

Vorsichtig steuerte sie das Boot in die Bucht, und Jackie ankerte.

Der Anker platschte ins Wasser, die Kette glitt scheppernd aus dem Kasten, dann folgte das lange Tau. Sobald der Anker fest war, schaltete Abbey den Motor aus.

In der plötzlichen Stille bemerkte sie das ferne Motorengeräusch eines anderen Bootes, irgendwo zwischen den Inseln westlich von ihnen.

Sie stiegen ins Beiboot und ruderten ans Ufer. Als sie die Hütte erreicht hatten, machte Jackie Licht, während Abbey im kleinen Küchenherd Feuer anfachte.

»Hamburger?«, fragte Jackie, die in der Kühlbox herumkramte.

»Hört sich gut an.«

Abbey feuerte den Herd an und stellte die Klappen ein. Der Zunder flammte knisternd auf. Sie ging zur Tür und sog die Nachtluft ein, die schwer war und still. Es roch nach feuchtem Gras, Holzrauch vom Herd und Meer. Mit leisem Zischeln klatschten sanfte Wellen an den Strand – und in der Ferne tuckerte beharrlich ein Motor. Das Boot schien sich hinter der Nachbarinsel zu befinden und bewegte sich sehr langsam.

Abbey drehte sich in der Tür um und sagte ganz ruhig, um Jackie nicht zu erschrecken: »Ich glaube, ich gehe ein Stück spazieren.«

»Bleib nicht lange weg, die Hamburger sind bald fertig.«

Statt am Ufer entlangzuschlendern, schlüpfte Abbey in die vom Mond gefleckte Dunkelheit des Waldes und eilte zur Westseite der Insel, von woher das Motorengeräusch kam. An der Landspitze hielt sie im Schatten des Waldrands inne und schaute über das Wasser. Die Luft war feucht. Die Flut hatte eingesetzt, die Strömung kräuselte und gurgelte an der Insel vorbei. Dicke Schäfchenwolken zogen von Nordosten heran, hatten aber den Mond noch nicht erreicht, der beinahe blendend vom Nachthimmel schien.

Das Boot, das sie hörte, musste hinter einer benachbarten Insel sein. Vermutlich war es nur eine Yacht, die nach einem Ankerplatz suchte – viele Leute machten im Sommer gern Ausflüge die Küste entlang. Sie schalt sich für ihre Paranoia.

Der dunkle Umriss eines Bootes glitt in etwa vierhundert Metern Entfernung durch die Lücke zwischen zwei Inseln. Ihr wurde eiskalt: Das Boot fuhr ohne Licht. Es verschwand hinter der nächsten Insel, und gleich darauf erstarb das Motorengeräusch.

Abbey lauschte aufmerksam, doch der Wind frischte auf, und das Seufzen der Bäume übertönte fernere Geräusche. Sie wartete geduckt in der Dunkelheit und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war nur nervös, weil Ford nicht mehr da war. Der Mörder konnte ihnen unmöglich nach Maine gefolgt sein, geschweige denn bis nach Little Green Island. Das war vermutlich nur irgendein Freizeitkapitän, der einen Martini zu viel getrunken und vergessen hatte, die Scheinwerfer einzuschalten. Vielleicht waren es auch Drogenschmuggler. Marihuana-Schmuggler nutzten diesen wilden Küstenstrich gern, um ganze Bootsladungen Gras aus Kanada ins Land zu schaffen.

Sie wartete und hielt Ausschau.

Und dann sah sie den dunklen Umriss eines Ruderboots aus dem Schatten ins Mondlicht gleiten. Es bewegte sich gleichmäßig über den schmalen Kanal, der Little Green Island von der Nachbarinsel trennte. Sie starrte hinüber, und als es näher kam, entpuppte es sich als Beiboot, vorsichtig gerudert von einem großen Mann. Es hielt direkt auf ihr Ende der Insel zu, und zwar so, dass man es von der Fischerhütte aus nicht sehen konnte. Die Strömung der Flut half dem Boot voran. In ein paar Minuten würde es auf einem Strand unterhalb der Klippe an dieser Spitze der Insel anlanden.

Abbey kroch in den Wald zurück und schlich zu einer Stelle, von der aus sie den wahrscheinlichen Landepunkt einsehen konnte. Der Mann pullte kräftig, das leise Klatschen seiner Ruder drang übers Wasser zu ihr. Er blieb eine dunkle Silhouette, die vornübergebeugt ruderte. Gleich darauf fuhr das Boot knirschend auf Kies. Er sprang heraus, zog es auf den Strand, blieb dann still stehen und sah sich um. Sein Gesicht war immer noch im Schatten verborgen.

Abbey drückte sich flach auf das Moos am Boden. Der Mann griff sich an den Gürtel, holte etwas hervor und betrachtete es. Sie sah einen metallenen Schimmer und erkannte, dass es eine Pistole war. Er steckte sie wieder ein, sah sich noch einmal kurz um und verschwand dann in der Dunkelheit unter den Bäumen. Gleich würde er direkt an ihr vorbeigehen.

Abbey sprang auf und sprintete durch den Wald, duckte sich unter Ästen durch, sprang über umgestürzte Baumstämme und hatte ein paar Minuten später die Hütte erreicht. Sie platzte zur Tür herein.

»Na endlich, die Hamburger sind schon verko-«

»Jackie, wir müssen weg. Sofort.«

»Aber die Hamburger …«

Abbey packte sie bei der Hand und zog sie zur Tür. »Sofort. Und sei leise – es ist jemand mit einer Waffe auf der Insel.«

»O Gott.«

Sie zog Jackie hinaus in die Dunkelheit und überlegte. Er würde vermutlich direkt zur Hütte gehen.

»Hier entlang«, flüsterte sie und führte Jackie über die Wiese in den Wald, der sich bis zur Südspitze der Insel erstreckte. Aber er war zu klein und zu naheliegend, um ein gutes Versteck abzugeben. Die Felsen und aus dem Wasser ragenden Walrücken an der Südspitze der Insel waren hingegen eine gute Idee, vor allem, da das Wasser noch recht tief stand, so dass eine Reihe riesiger, rundgeschliffener, mit Tang bedeckter Brocken herausragte.

Sie bedeutete Jackie, ihr zu folgen, und die beiden schlichen sich durch die Bäume zu einer Anhöhe oberhalb der Felsen. Der Mond hing noch tief am Himmel, und die hohen Fichten warfen lange Schatten über die wild durcheinandergewürfelten Felsbrocken und tauchten alles in Dunkelheit. Sie rutschten das Steilufer hinab und kletterten über die Steine. Abbey hielt auf die lange Kette von Felsen zu, die sich bis unter die Flutlinie hinabzog.

»Die Flut kommt«, flüsterte Jackie, die auf dem Seetang rutschte und schlitterte. »Wir ertrinken.«

»Wir brauchen nicht lange hierzubleiben.«

Ganz am Ende fand sie ein dunkles Versteck zwischen zwei schroffen, mit Seetang bewachsenen Felsen, die auf der Unterseite etwas unterspült waren. Das Wasser stieg schnell.

»Rein da.«

»Dann werden wir nass.«

»Das ist ja der Sinn der Sache.«

Jackie ließ sich auf den schwarzen, kalten Seetang sinken und quetschte sich unter den überhängenden Fels. Abbey folgte ihr und arrangierte den Seetang so gut wie möglich über ihnen. Der Gestank stieg ihr in die Nase. Aber sie konnte durch die Felsen zurück zu den Kiefern schauen und sogar die hell erleuchtete Hütte fünfhundert Meter weiter noch erkennen. Direkt unter ihnen plätscherte und gurgelte das Wasser zwischen den Felsen.

»Wer ist denn das?«, fragte Jackie.

»Der Kerl, der hinter uns her ist. Jetzt sei still.«

Sie warteten. Nach einer scheinbaren Ewigkeit sah Abbey den Mann aus dem Wald auf die mondbeschienene Wiese treten. Mit gezückter Waffe umrundete er die Hütte, schlich zu einem Fenster, drückte sich flach an die Wand und lugte nach drinnen. Er verbrachte einige Zeit damit, die Hütte auszuspähen, dann ging er zur Tür und trat sie ein. Der Lärm zerriss die nächtliche Stille und hallte über das dunkle Wasser.

Er ging in die Hütte, kam gleich darauf wieder heraus und sah sich um. Eine Taschenlampe erschien in seiner Hand, und er ging langsam am Rand der Wiese entlang und leuchtete zwischen die Bäume.

Inzwischen kam die Flut.

Die Gestalt verschwand im Wald oberhalb ihres Verstecks, und das Licht bewegte sich blinkend zwischen den Bäumen hin und her.

Der Mann erschien am Waldrand auf der Anhöhe über den Felsen. Er stieg vorsichtig herab, stellte sich auf einen hohen Stein und leuchtete mit der Taschenlampe das Ufer ab. Der gelbe Lichtstrahl glitt über die Felsen um sie herum und suchte hier und dort. Abbey legte Jackie die Hand auf den Arm und spürte, wie sie zitterte.

Die Gestalt bewegte sich weiter auf sie zu und trat dabei Steinchen los, die sie klappern hörten. Das Licht schwenkte erneut über die Köpfe der Felsen, unter denen sie steckten, und suchte auch beide Seiten ab. Abbey spürte, wie die Flut ihr zwischen die Füße kroch. Wie schnell stieg das Wasser? Um etwa einen Zentimeter pro Minute, bei Vollmond noch mehr.

Als er näher kam, zog sie den Kopf unter dem Seetang ein. Sie spürte das zischelnde Wasser, das nun um ihre Füße wirbelte und mit der sachten Dünung anstieg und wieder sank. Nun war der Mann so nahe, dass sie ihn atmen hörte.

Wieder, diesmal sehr sorgfältig, suchte der gelbe Lichtstrahl die Felsen ab. Er glitt quälend langsam an ihnen vorbei. Einmal. Zweimal. Dann hörten sie ein Brummen, und er bewegte sich wieder von ihnen weg. Der Lichtschein huschte über das Gewirr von Felsen rechts von ihnen und dann weiter das Ufer entlang.

Das Wasser kroch über ihre Knöchel hinaus, bewegte den Tang und sank wieder davon. Die Dunkelheit kehrte zurück. Abbey wartete eine Minute und noch eine, ehe sie einen Blick riskierte. Sie sah ihn vorsichtig am Ufer entlanggehen, schon ein paar hundert Meter weiter. Er schwenkte den Lichtstrahl hin und her und ging auf ihr Beiboot zu.

»Wir müssen von dieser Insel runter«, flüsterte Abbey.

»Wie zum Teufel sollen wir das machen, wenn unser Boot offen da draußen am Strand liegt?«

»Wir nehmen seines.«

Jackie zitterte. Abbey legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Bleib du hier. Rück mit der Flut immer ein Stück nach oben. Ich stehle sein Boot, hole unseres und komme zu dir. Ich rudere so nah ans Ufer heran, wie es geht. Wenn du mich kommen hörst, schwimmst du los. Die Strömung wird dir helfen.«

»Okay«, flüsterte Jackie.

Plötzlich bemerkte Abbey ein Blitzen am Himmel, ein unvermitteltes Aufleuchten. Einen Moment lang glaubte sie, der Killer hätte sie gefunden und plötzlich seine Taschenlampe eingeschaltet.

»Scheiße!«, entfuhr es Jackie, duckte sich instinktiv und schützte den Kopf mit den Armen.

Abbey streckte den Kopf aus ihrem Versteck und starrte zum Mond hinauf. »O Gott, sieh dir das an! Jackie!«

Ein gewaltiger Feuerball blühte auf einer Seite des Mondes auf, ein Strahl aus leuchtendem Staub schoss auf der gegenüberliegenden Seite hervor, streckte sich wie in Zeitlupe immer länger und wurde so hell, dass Abbey die Augen schließen musste. Es war seltsam, ein merkwürdiges, spektakuläres, wunderschönes Schauspiel, als sei der Mond aufgeplatzt und hätte eine Reihe glitzernder Edelsteine ausgespien, die von innen heraus leuchteten.

Auch der Feuerball auf der anderen Seite des Mondes dehnte sich aus und wechselte die Farbe, von strahlend kaltem Blau in der Mitte zu einem grünlichen Gelb, und dann zu Orange- und Rottönen an den Rändern, die sich wie ein Tortenstück aus der Oberfläche des Mondes ins All reckten.

»Was ist …?« Jackie starrte mit aufgerissenen Augen nach oben.

Das Licht wurde immer heller und tauchte die Inseln, die dunklen Fichten, die Felsen und das Meer in ein grünliches Gelb, eine falsche, scheußliche Farbe. Der Horizont war plötzlich rasiermesserscharf zu erkennen, der Himmel darüber tiefviolett, der Ozean blassgrün mit schwarzen und roten Flecken.

Abbey hob den Blick wieder zum Mond und kniff gegen das grelle Licht die Augen zusammen. Nun entwickelte sich eine Art Halo um die Scheibe, als hätte jemand den Mond geschüttelt und damit Staub aufgewirbelt. Eine gewaltige Stille breitete sich über das Meer und die Inseln, und das Spektakel spielte sich vollkommen lautlos ab, wodurch es nur noch surrealer wirkte.

»Abbey!«, stieß Jackie leise und panisch hervor. »Was ist das? Was passiert da?«

»Ich glaube«, sagte Abbey langsam, »dass die Waffe auf Deimos gerade dem Mond eine Ladung verpasst hat – diesmal eine sehr viel größere.«

Der Krater
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