59

Harry Burr spazierte in das Einkaufszentrum, ließ die Arme schwingen und schlenderte mit sorgsam leerer Shopping-Miene dahin. Er schaute auf einen bunten Lageplan und sah, wohin er gehen musste. Das Einkaufszentrum war von der billigen Sorte, schäbig, und etwa zwanzig Prozent der Läden standen leer. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Burr nahm an, dass diese sibirischen Temperaturen notwendig waren, um die Einkaufenden frisch zu halten. Man wollte schließlich nicht, dass all die fetten Leute einen Herzinfarkt bekamen, ehe sie ihr Geld ausgegeben hatten.

Endlich fand er, was er gesucht hatte – ein Schild mit der Aufschrift SICHERHEITSDIENST. Die Tür war geschlossen. Burr klopfte an, wartete und drehte dann am Türknauf. Abgeschlossen. Er sah sich um – kein Wachmann weit und breit.

Gereiztheit kroch ihm wie Sodbrennen die Kehle hoch. Die Angelegenheit wurde zur reinsten Katastrophe. Er hatte doch wohl nicht derart nachgelassen. Seine Recherche hatte ergeben, dass Ford ehemaliger CIA-Agent war, und irgendwie hatte der Scheißkerl ihn in dieser Bar gewittert, ehe der verdammte Japaner sein Schießeisen unter dem Tresen hervorgeholt hatte. Sein Glück, dass der Mann ein erbärmlicher Schütze gewesen war und wahrscheinlich noch nie im Leben einen Fünfundvierziger abgefeuert hatte. Irgendwie war Ford ihm auch aus dem Hotel entwischt. Burr musste sich sein Geld diesmal wahrlich sauer verdienen.

Er versuchte, seine Wut zu zügeln. Er war stolz darauf, von Natur aus ein fröhlicher Mensch zu sein, der weder zur Grübelei noch zur Rachsucht neigte. Das war auch eine seiner Stärken. Er gestattete sich keine emotionalen Verwicklungen in sein eigentlich ganz simples Geschäft, nämlich für Geld zu töten. Zumindest redete er sich das ein. Er durfte nicht zulassen, dass dieser Fall zu einer persönlichen Sache wurde.

Er blickte sich in dem Einkaufszentrum um, das sich rasch mit Vormittags-Shoppern füllte. Da konnte er lange suchen, bis er einen der Polizisten fand, die hier Streife gingen. Statt seine Zeit damit zu vergeuden, dass er überall nach dem Sicherheitsdienst suchte, sorgte er lieber dafür, dass der Sicherheitsdienst zu ihm kam. Der Berg zum Propheten sozusagen. Er entdeckte einen CD-Laden, spazierte hinein, suchte sich eine Zielperson in der Heavy-Metal-Sektion aus und näherte sich ihr gemächlich. Die Zielperson war perfekt: ein pickliger Goth mit lila Haar, der nach Gras stank und eine Einkaufstüte trug. Burr rückte näher heran, nahm eine CD von einer Gruppe namens Spineshank aus einem Fach, drehte sich um und rempelte den Jungen im Vorbeigehen sacht an.

»Entschuldigung.«

Der Goth brummte etwas Unverständliches und sah weiterhin CDs durch. Burr bewegte sich in Richtung der Kassen, wartete ab, bis der Junge seine Suche aufgab, und folgte ihm dann zum Ausgang. Sobald der Goth zwischen die Detektoren trat, schrillte der Alarm los, und der kleine Freak blieb stehen wie ein Reh im Scheinwerferlicht, die schwarzumrandeten Augen weit aufgerissen und mit einem Wer, ich?-Ausdruck im Gesicht.

Und da kam auch schon der Berg zum Propheten, vielmehr gleich zwei Berge, schnaufend und klimpernd. Sie umzingelten den Goth, durchsuchten seine Tüte und fanden die Spineshank-CD. Sie übergingen seine vergeblichen und völlig unglaubwürdigen Beteuerungen, die CD müsse irgendwie in die Tüte gefallen sein, und bearbeiteten ihn mit Fragen – ja, das waren harte Kerle, die den Jungen da ins Kreuzverhör nahmen.

Harry Burr ging hinüber, ließ eine Dienstmarke aufblitzen, die er immer bei sich trug – früher einmal hatte sie einem Officer der D.C. State Police gehört, der sich bei einer Verkehrskontrolle selbst hatte bestehlen lassen. »Officer Wilson?«, fragte er den vorgesetzten Sicherheitsmann, dessen Namen er vom Schild auf der Brust ablesen konnte.

»Ja?«

Burr klappte die Marke wieder weg. »Man hat mir gesagt, Sie seien der Mann, mit dem ich sprechen muss.«

»Ja?«

»Es geht um den Autodiebstahl heute Morgen auf dem Parkplatz. Ich bin der Verbindungsbeamte zwischen D.C. und Virginia, Undercover Investigations Division, Fahrzeugdiebstahl. Lieutenant Moore.« Er streckte die Hand aus. Wilson ergriff sie.

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten, Officer?«

»Sicher.«

Burr steuerte Wilson weg von dem Jugendlichen, der immer lauter protestierte und nun Handschellen angelegt bekam. Burr holte ein kleines Notizbuch hervor, leckte sich über den Zeigefinger und blätterte darin herum. »Es dauert nicht lange – ich brauche nur ein paar Einzelheiten.«

»Die Akte ist oben im Büro. Wir haben alle Informationen schon an die State Police weitergegeben.«

Burr verdrehte in gespielter Abscheu vor der Bürokratie die Augen. »Wir sind heutzutage ein bisschen schwerfällig, fürchte ich. Könnte eine Woche dauern, bis die Akte bei mir wieder auftaucht – aber Sie könnten mir jetzt gleich weiterhelfen.« Er zwinkerte. »Was sagen Sie?«

»Klar doch, Lieutenant. Freut mich, wenn ich Ihnen helfen kann.«

Das Büro sah genau so aus, wie Burr erwartet hatte – eine fensterlose Zelle, in der es nach billigem Deo-Stick roch. Wilson, der glorifizierte Nachtwächter, setzte sich an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte eine Akte heraus.

»Ich brauche das Übliche«, sagte Burr, »Fabrikat, Kennzeichen, Zeugen … was Sie eben haben.«

»Keine Zeugen, Lieutenant«, sagte Wilson mit ernster Miene, die der Schwere des begangenen Verbrechens angemessen war. »Es geht um einen weißen Ford F hundertfünfzig King Cab Pick-up, Jahrgang neunzehnhundertfünfundachtzig, Kennzeichen Virginia …« Er ratterte weitere Details herunter, während Burr sich Notizen machte.

»Wir finden das Fahrzeug wieder. Wir finden sie immer«, sagte Wilson. »Irgendwelche Jugendlichen, die eine Spritztour machen wollten. So ein alter Pick-up ist nichts zum Ausschlachten.«

»Ich zweifle nicht daran, dass Sie den Fall aufklären werden, Officer«, entgegnete Burr, klopfte mit seinem goldfarbenen Kuli auf das Notizbuch und steckte es dann ein. Er streckte die Hand aus. »Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, sich bei mir zu melden, ich halte selbst Kontakt zu Ihnen, telefonisch. Sollte dieser Pick-up wieder auftauchen, würde ich gern davon erfahren. Haben Sie eine Karte?«

Wilson reichte ihm seine Karte.

»Sehr zu Dank verpflichtet, Officer.« Er zögerte. »Es wäre vielleicht besser – diplomatischer, Sie verstehen schon –, wenn Sie meinen Besuch gegenüber der State Police von D.C. oder Virginia nicht erwähnen. Die sehen es nicht gern, wenn jemand aus der Undercover-Abteilung ihre bürokratischen Mauern unterläuft.« Wieder zwinkerte er Wilson verschwörerisch zu.

»Sicher doch«, sagte Wilson grinsend.

Burr verließ das Einkaufszentrum und stieg wieder in seinen Beetle. Herrgott, war das heiß, vor allem nach der eiskalten Luft da drin. Ford und das Mädchen hatten sich ziemlich sicher irgendwo verkrochen. Jetzt konnte er nichts tun als abwarten, bis der gestohlene Wagen irgendwo auftauchte. Harry Burr schlug frustriert mit der Hand aufs Lenkrad und fluchte leise. Was für eine verkorkste Situation. Vielleicht würde er diesmal doch eine Ausnahme machen – und das Töten genießen.

Der Krater
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