23

Randall Worth machte sein Boot an einer unbenutzten Ankerboje im Ankerplatz vor Harbor Island fest und löschte alle Lichter. Die Mädchen hatten die Insel des Admirals in großer Eile verlassen und sich in einer Bucht von Otter Island verkrochen. Da würden sie den Rest der Nacht bleiben.

Die waren wohl wahnsinnig geworden – die Insel zu betreten, wenn der Admiral zu Hause war, vor allem, nachdem der alte Sack hatte feststellen müssen, dass die Hälfte seiner Antiquitäten verschwunden war. Worth lachte keuchend, wenn er sich vorstellte, wie der Admiral sein ausgeräumtes Haus vorgefunden hatte, mit einem Scheißhaufen mitten in der Eingangshalle.

Worth holte ein Bud aus der Kühlbox, öffnete die Dose und genehmigte sich einen großzügigen Schluck. Die mussten wirklich eine heiße Spur zu diesem Schatz haben, wenn sie so ein Risiko eingingen. Er bekam einen Steifen bei der Vorstellung, wie er es den beiden Biestern besorgen würde, wie ein Pirat, erst der einen, dann der anderen. Nachdem er sich den Schatz geholt hatte.

Seine Gedanken kehrten zu seiner Begegnung mit Abbey am Kai zurück. Tiefer, tiefer. Was für eine Schlampe, so was vor diesem Klatschmaul Jackie Spann zu sagen. Jackie würde es wie einen Witz im ganzen Ort herumerzählen. Brennender Zorn erfasste ihn, wie Meth-Nebel in seinem Kopf. Er hasste die ganze Stadt. Die Kinder, die ihn in der Schule herumgeschubst und ihn »Worthless« genannt hatten, waren jetzt Trainer, Versicherungsvertreter, Mechaniker, Fischer, Buchhalter – dieselben Dreckskerle, nur erwachsen. Er würde sie alle fertigmachen, angefangen mit Abbey und Jackie, und sie dann umbringen. Abbey erinnerte ihn an seine Mutter, die es mit jedem Fettwanst in der Stadt getrieben hatte. Gestöhnt und gebumst hatte sie, während er gezwungen war, sich das durch die papierdünnen Wände des Wohnwagens anzuhören. Das war der schönste Tag seines Lebens gewesen, als sie ihren Reiskocher um einen Baum gewickelt hatte, so dass sie sie in Einzelteilen hatten herausschneiden müssen.

Er warf die Bierdose über Bord und öffnete die nächste mit zitternden Fingern. Er tat einen tiefen Zug, dann noch einen, leerte die ganze Dose in nicht einmal einer Minute und warf sie weg. Machte die dritte auf, rülpste, kippte sie herunter. Er konnte spüren, wie sich der Alkohol in sein Hirn schlich, aber der half nicht gegen das Kribbeln. Er konnte dieses Gefühl nicht dämpfen, das Krabbeln von Ameisen und Würmern. Ein saurer, übelkeiterregender Geschmack stieg ihm die Kehle hoch, und in seinem Hals begann ein Muskel zu zucken. Eine seiner Schorfstellen blutete schon wieder.

Sein Blick fiel auf den RG-44er auf dem Armaturenbrett. Er griff danach und schwenkte die Trommel aus. Wäre vielleicht eine gute Idee, den Revolver ein paarmal abzufeuern, um sich zu vergewissern, dass er noch funktionierte. Worth ließ die unbenutzten Patronen herausfallen und sah sie sich an. Sie waren ein bisschen angerostet, sahen aber noch fest verschlossen aus. Er schob sie wieder hinein, schloss den Zylinder und ging hinaus an Deck. Er atmete ein paarmal tief durch und sah sich um. Mit dem Geld für den Schatz würde er sich nicht mehr mit Säcken wie Doyle herumschlagen müssen. Keine Einbrüche mehr, kein Risiko, wieder im Knast zu landen. Er würde diesen Pub eröffnen, an den er schon immer gedacht hatte, mit Breitbildfernseher, Holzvertäfelung, Billardtisch und englischem Ale vom Fass. In seiner Gefängniszelle hatte er Stunden damit verbracht, ihn sich genau auszumalen, die Sägespäne auf dem Boden, den Geruch nach Bier und Fritten, die Bar aus Eichenholz über die gesamte Länge, Kellnerinnen in Miniröcken, die mit den straffen Hintern wackelten.

Ein weiteres Zittern in seinem Rücken, ein unangenehm kriechendes Gefühl, ließ den Tagtraum zerplatzen. Er würde sich der Empfindung nicht einfach ergeben. Noch nicht. Er würde nie zulassen, dass das Meth die Kontrolle übernahm.

Worauf konnte er schießen? Die Mondsichel stand am Himmel, und er konnte eine Hummerboje in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung sehen, die langsam auf den sanften Wellen schaukelte. Früher war er ein ganz guter Schütze gewesen, aber er wusste, dass diese Waffe Müll war, und fünfundzwanzig Meter waren ziemlich weit für ein 44er-Geschoss.

Seine Hände waren schmutzig, er wischte sie an seinem T-Shirt ab und spürte die knochigen Rippen darunter. Herrgott, er wurde wirklich dünn. Wieder spürte er dieses Jucken, wie Hakenwürmer, die sich unter seiner Haut krümmten.

Er hob den Revolver mit beiden Händen, zielte auf die Boje, zog den Hahn zurück und schoss.

Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und einen heftigen Rückstoß. Einen knappen Meter rechts von der Boje schoss ein kleiner Wasserstrahl in die Höhe.

»Scheiße«, sagte Worth laut. Er zielte erneut, entspannte sich, versuchte, das Zittern in seinen Händen zu unterdrücken, und feuerte. Diesmal spritzte es links von der Boje auf. Er machte eine kurze Pause, wartete, bis sich sein Ärger gelegt hatte, und zielte dann ein drittes Mal, wobei er auf seine Atmung achtete, sich konzentriert ruhig hielt und langsam abdrückte. Diesmal sprang die Hummerboje mit einem lauten Schnalzen in die Luft, Styroporfetzen flogen herum.

Er ließ die Waffe sinken, erhitzt vor Befriedigung. Das verlangte nach einer kleinen Feier. Er fummelte in der Steuerkabine herum, rückte den Fischerkram beiseite und holte seine Pfeife und den Vorrat heraus. Mit zitternden Fingern bereitete er den nächsten Hit vor. Wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappt, sog er heftig an der Pfeife und füllte jede Bronchie und jedes Lungenbläschen mit heißem Meth.

Er sackte rücklings ans Steuerrad und spürte, wie der Rausch sich von der Lunge zu seinem Reptiliengehirn und weiter durch das limbische System ins höhere Gehirn ausbreitete. Er stöhnte laut vor purem Genuss, vor absoluter Seligkeit, als die beschissene Welt weicher wurde und sich in einem glatten See gleichgültiger Zufriedenheit auflöste.

Abbey kippte auf dem Segeltuchstuhl nach hinten, stützte die Füße aufs Seitendeck und schaute in den Himmel. Die Marea lag in einer tiefen Bucht auf der Südseite von Otter Island vor Anker. Die Nacht war voll glitzernder Sterne, die Milchstraße ein riesiger Bogen über ihr. Wasser plätscherte an den Rumpf, und ein Steak brutzelte auf dem Grill.

»Was ist mit dem Meteoriten?«, fragte Jackie. »Wir haben die Insel nicht ganz abgesucht. Vielleicht haben wir den Krater verpasst.«

»Ich gehe da nicht wieder hin.« Abbey trank einen Schluck aus der einzigen echten Flasche Wein, die sie mitgebracht hatte – ein Brunello von Il Marroneto, Jahrgang 2000. Ein hervorragender Wein. Sie wagte es nicht, Jackie zu sagen, dass sie fast hundert Dollar dafür ausgegeben hatte.

»Gib mir auch einen Schluck.« Jackies Stimme wurde vorübergehend vom Gluckern der Flasche unterbrochen. »Der ist ziemlich trocken für meinen Geschmack. Macht es dir was aus, wenn ich mir was davon mit der Limo mische?«

Abbey lächelte. »Nur zu.« Sie wandte sich wieder dem Nachthimmel zu. Wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich immer seltsam bewegt, und ein Gefühl, das man nur als religiös bezeichnen konnte, überkam sie. »Das da oben ist verdammt riesig«, bemerkte sie.

»Was?«

Abbey deutete in den Himmel.

»Ich kann mir das nicht mal vorstellen.«

»Das menschliche Gehirn kann es sich nicht vorstellen. Die Zahlen sind zu gewaltig. Das Universum hat einen Durchmesser von hundertsechsundfünfzig Milliarden Lichtjahren – und das ist nur unser Teil davon. Der Teil, den wir sehen können.«

»Hm.«

»Vor ein paar Jahren hat das Hubble-Weltraumteleskop elf Tage lang auf ein leeres Fleckchen Nachthimmel gestarrt, nicht größer als ein Staubkorn. Nacht für Nacht hat es selbst das schwächste Licht an diesem Pünktchen Himmel gesammelt. Das war nur ein Experiment, um mal zu sehen, ob da was ist. Und weißt du, was das Teleskop gesehen hat?«

»Gottes linkes Nasenloch?«

Abbey lachte. »Zehntausend Galaxien. Galaxien, die man noch nie zuvor gesehen hatte. Jede einzelne mit fünfhundert Milliarden Sternen. Und das war nur eine winzige Nadelspitze Himmel, willkürlich bestimmt.«

»Glaubst du wirklich, dass es irgendwo anders im Universum intelligentes Leben gibt?«

»Mathematisch ist gar nichts anderes möglich.«

»Was ist mit Gott?«

»Falls es einen Gott gibt – einen echten Gott –, wäre er jedenfalls nicht wie der lahmarschige Jehova, den sich ein paar Schafhirten ausgedacht haben. Der Gott, der das geschaffen hat, wäre … so überwältigend, dass wir ihn unmöglich begreifen könnten.« Abbey trank noch einen Schluck. Der Wein entfaltete sich allmählich. Sie könnte sich wirklich daran gewöhnen, so guten Wein zu trinken. Vielleicht sollte sie doch an die Uni zurückgehen und Ärztin werden. Der Gedanke verdarb ihr augenblicklich die gute Laune.

»Also, was machen wir mit diesem Meteoriten, wenn wir ihn finden?«

»Ihn bei eBay verkaufen. Pass auf, dass das Fleisch nicht verbrutzelt.«

Jackie nahm die Steaks vom Grill, legte sie auf Pappteller und hielt Abbey einen hin. Ein paar Minuten lang aßen sie schweigend.

»Komm schon, Abbey. Hör auf, dir was vorzumachen. Glaubst du wirklich, dass wir ihn finden werden? Das ist wieder so eine Luftnummer wie damals, als wir nach Dixie Bulls Schatz gesucht haben.«

»Was ist denn los – amüsierst du dich etwa nicht?«

Jackie trank einen kleinen Schluck Wein mit Limo. »Wir haben bis jetzt nichts weiter gemacht, als uns durch irgendwelche Wälder zu schlagen. Und bei dieser Jagd auf Ripp Island hatte ich eine Scheißangst. Das ist kein Abenteuer, wie ich es mir vorgestellt habe.«

»Wir können jetzt nicht aufgeben.«

Jackie schüttelte den Kopf. »Dein Vater wird einen Tobsuchtsanfall kriegen, weil du sein Boot gestohlen hast.«

»Geborgt.«

»Er wird dich rausschmeißen, und dann kannst du dein restliches Studium vergessen.«

»Wer hat denn gesagt, dass ich an die Uni zurückwill?«, erwiderte Abbey hitzig.

»Komm schon, Abbey, natürlich gehst du wieder an die Uni. Du musst. Du bist der klügste Mensch, den ich kenne.«

»Ich muss mir diesen Mist schon oft genug von meinem Vater anhören, da brauchst du nicht noch was draufzulegen.«

»Es gibt hier keinen Meteoriten«, erklärte Jackie trotzig.

Abbey kippte die Flasche, trank den letzten Schluck und hatte auf einmal den Mund voll Bodensatz. Sie spuckte ihn ins Wasser. »Es gibt diesen Meteoriten, und wir werden ihn finden.«

Drei Schüsse in langsamer Folge rollten über das Wasser zu ihnen heran, dann war es wieder still.

»Hört sich an, als wären die Hinterwäldler unterwegs«, bemerkte Abbey.

Der Krater
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