Dace

Wo ist sie ?«

Ich sehe mich aufgeregt in alle Richtungen um. Die Worte sind kaum mehr als ein heiseres Röcheln, doch ich weiß, dass er mich gehört hat. Er hat genau verstanden, was ich gefragt habe.

Ich spüre ihn neben mir.

In mir.

Überall um mich herum.

Die Grenzen zwischen uns sind jetzt verwischt.

Wir sind verbunden wie nie zuvor.

Ich betrachte meinen Monster-Zwilling, der jetzt wieder menschliche Gestalt angenommen hat und keine einzige Verletzung aufweist – im Gegensatz zu mir, dem nach wie vor ein Blutstrom aus dem Hals rinnt.

Ich presse eine Hand auf meine Wunde, in der Hoffnung, den Fluss zu stillen, ehe ich schließlich die Kraft zu sprechen aufbringe. »Was zum Teufel hast du mit ihr gemacht ?«

Auch wenn die Frage nicht ganz so klingt wie in meinem Kopf, ist das Lächeln, das mir entgegenschlägt, absolut widerlich und verrät mir, dass er jedes Wort verstanden hat.

»Ein kleiner leuchtender Mann hat sie mitgenommen«, sagt er. »Ich schätze mal, sie sind unterwegs in die Oberwelt. Eine Welt, in die du niemals vordringen wirst. Zumindest nicht jetzt. Es ist eine hochnäsige, elitäre Gruppe dort. Der ultimative Country-Club. Sie sind nicht gerade scharf auf uns. Doch das hindert uns nicht daran, es zu versuchen. Ich will unbedingt dort rein, und ich bin sicher, ich schaffe es. Ich habe gehört, dort glänzt und glitzert alles – und man hat eine perfekte Aussicht auf alle anderen. Das würde ich wirklich gerne sehen. Vielleicht schaffen wir es eines Tages.« Er grinst mich sardonisch an.

Ich verabscheue diese Verwendung von wir.

Verabscheue, dass sie zutrifft.

Verabscheue, dass ich mich von meinem Hass habe leiten lassen.

Hass ist der Grund, aus dem ich hier bin.

Der Grund, warum ich absichtlich meine Seele geschwärzt habe, um sie zu retten – nur um mit anzusehen, wie alles nach hinten losgeht – außerstande, irgendetwas anderes zu tun, als hilflos zuzusehen, wie der Traum vor mir ablief.

Und genau wie im Traum kam ich zu spät, um sie zu retten.

»Ich steh echt auf gute Ironie, du nicht ?« Cade legt den Kopf schief und bückt sich, um seinen gruseligen Kojoten zu streicheln. »Hast du gesehen, wie sie dich angeschaut hat ? Hast du diese köstliche Mischung aus Schock, Abscheu und Pein gesehen, als sie erkannte, was du getan hast, wozu du dich selbst gemacht hast, nur um mich zu besiegen ?«

Ich stolpere vorwärts, und in meinem Kopf wird es immer schwummriger, während mein Sehfeld sich bis zur Unschärfe verzerrt. Ich kämpfe wie ein Löwe dagegen an – ringe darum, die Szene auszulöschen, die er in meinen Gedanken skizziert, und weise es von mir, mich in dieser Form an Daire zu erinnern.

»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das demnächst mein Lieblings-Erinnerungsfilm wird. Diese Tragik ! Dieser Wahnsinn !« Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht, womit ein Geräusch einhergeht, das genauso krank und monströs ist wie er selbst. Es ermuntert Kojote, die Schnauze in die Luft zu recken und ein langes, klagendes Jaulen auszustoßen. Der Lärm, den die beiden veranstalten, ist eine unwillkommene Störung in einem Land, das gerade zum Frieden zurückkehrt. Cade beruhigt sich wieder und wendet sich wieder mir zu. »Zuzusehen, wie du absichtlich genau zu dem wirst, was du hasst, in einem ausgesprochen schwachsinnigen und völlig verfehlten Versuch, mich zu töten – nur damit sich dann genau diese Verwandlung als das erweist, was dich von ihr trennt … Das ist unbezahlbar. Wie bestellt. Zu schön, um wahr zu sein. Ich hätte es mir nicht besser erträumen können !« Er gönnt sich einen weiteren Anfall der Belustigung. »Weißt du denn nicht – du ziehst nicht das an, was du willst, Bruder. Du ziehst das an, was du bist. Hab mir schon gedacht, dass einer wie du das nicht weiß.«

Ich presse mir eine Hand auf den Hals, und sofort werden meine Finger klebrig und rot. »Dafür wirst du bezahlen !«, keuche ich. »Dafür sorge ich.«

»Unwahrscheinlich«, erwidert Cade. »Schließlich bist du derjenige, der blutet, nicht ich. Du bist derjenige, der die für ihn Bestimmte verloren hat. Es ist Zeit, der Realität ins Auge zu blicken, Bruder. Selbst wenn sie noch am Leben war, als sie von hier weggegangen ist, hat sie sich wahrscheinlich mittlerweile freigemacht. Würde es dein Kumpel Leftfoot nicht so bezeichnen – eine Befreiung des Körpers ?« Er hält lange genug inne, um zu grinsen und die Augen zu verdrehen. »Auf jeden Fall, Bruder, bin ich mir ganz sicher, dass sie tot angekommen ist. Das nächste Mal werden wir sie am Tag der Toten sehen, wenn sie gezwungen ist, der Knochenhüterin ihren Respekt zu bezeugen. Und ich glaube, wir wissen beide, dass mir Leandro bis dahin verzeihen wird. Er hat mich schon immer vorgezogen. Kann auch noch jede Menge von mir lernen, ob er es nun zugibt oder nicht. Letztlich ist das hier nicht mehr als eine Rüttelschwelle – mein Leben bleibt voll auf Kurs. Während deines dagegen ganz anders aussieht.« Er zeigt auf meinen blutenden Hals. »Du weißt, dass davon eine Narbe zurückbleiben wird, oder ? Noch etwas, wodurch sie uns werden auseinanderhalten können. Wenn du’s dir mal überlegst, ist es eigentlich echt witzig – je mehr du versucht hast, wie ich zu werden, desto mehr hebst du dich ab. Falls irgendjemand heute Abend versagt hat, Bruder, dann du.«

Ich lasse die Augen zufallen und genieße die Ruhepause. Doch im nächsten Moment schlage ich sie schon wieder auf und wische mir die blutigen Hände an meinen Jeans ab. Sehe mich in einer Welt um, die zu ihrer früheren Schönheit zurückkehrt, und weiß, dass dies Daires Werk ist.

Das Vermächtnis, das sie uns hinterlassen hat.

Da kann ich wenigstens dafür sorgen, dass es anhält.

Cade hat recht.

Er leidet nicht. Hat nie auch nur einen Moment des Leidens erlebt.

Ich bin derjenige, der alles verloren hat.

Bin ein Risiko eingegangen, indem ich meine Seele aufs Spiel gesetzt habe – nur um sie zusammen mit allem anderen zu verlieren, was mir je etwas bedeutet hat.

Doch das heißt nicht, dass ich nicht alles wieder umkehren, alles wieder in Ordnung bringen könnte.

Das heißt nicht, dass ich nicht wenigstens einen letzten Versuch der Wiedergutmachung wagen könnte.

Ich ringe mir einen flachen, abgehackten Atemzug ab, in der Hoffnung, dass er mir genug Kraft gibt, um weiterzumachen. Um mir zu erlauben, das zu tun, was am nötigsten ist.

Dann starre ich auf den Fleck neben Cades Füßen – will ihn zu mir herholen, doch offenbar haben mich meine magischen Kräfte verlassen.

Da mir keine andere Wahl bleibt, mache ich einen Satz und springe ihn an. Sehe zu, wie er außer meine Reichweite tänzelt. Und fälschlicherweise annimmt, ich würde auf ihn losgehen.

Doch das tue ich nicht.

Ganz und gar nicht.

Es gibt nur einen Weg, das wiedergutzumachen, was ich getan habe.

Nur einen Weg, all das Elend und die Zerstörung zu beheben, die die Richters verursacht haben.

Ich greife nach Daires Athame – demselben, das Cade gegen sie gerichtet hat und das noch feucht von ihrem Blut ist – und umfasse den Schaft.

Es gibt nur einen Weg, der Sache ein Ende zu bereiten.

Ich hebe die Klinge, ohne je den Blick von Cade abzuwenden. »Offenbar hattest du die ganze Zeit schon recht«, sage ich. »Wir sind auf Arten miteinander verbunden, die ich mir nie hätte ausmalen können.«

Ich genieße die Mischung aus Entsetzen und Begreifen, die sich auf seinem Gesicht abzeichnet.

Er macht einen verzweifelten Satz, doch es ist zu spät.

Ich habe das Messer bereits gesenkt.

Es mir mitten in den Bauch gerammt.

Die Tat wird untermalt von Cades Schreien und Kojotes Jaulen, als hätte ich ihn getroffen.

Mein Sichtfeld wird von einem heftigen Blutregen verwischt.

Mein Blut. Cades Blut. Es ist ein und dasselbe.

Ich sehe zu, wie mein Bruder – mein Zwilling – das Wesen, mit dem ich gemeinsam diese Welt betreten habe, gekrümmt zu Boden sinkt, während ich neben ihm zusammenbreche.

Es heißt ja, wenn man stirbt, zieht das ganze Leben blitzartig an einem vorüber – doch alles, was ich sehe, sind Visionen von Daire.

Daire, wie sie lacht.

Lächelt.

Daire, wie sie mit geröteten Wangen neben mir liegt und mich mit einem Blick voller Liebe ansieht.

Ich schlinge die Finger um den kleinen goldenen Schlüssel, während mir die Augen zufallen und ich den festen Entschluss fasse, die Bilder mitzunehmen.

Cade und ich treten genau so ab, wie wir gekommen sind – zusammen und doch allein.