Zwölf
Daire
Die Glocke an der Tür gellt laut, als ich den Laden betrete, sodass mehrere Kunden mich mit einem schnellen Blick taxieren.
Gifford schaut von seiner Registrierkasse auf, und seine Augen weiten sich, als er mich erkennt. »Ach, hallo«, ruft er mir fröhlich zu. »Hast du deinen Bus verpasst ? Frische Postkarten sind übrigens gerade erst eingetroffen – gleich da drüben.« Er zeigt auf den Ständer mit den deprimierenden Bildpostkarten von diesem elenden Kaff. Ihm ist überhaupt nicht bewusst, dass er mich soeben an einen der schlimmsten Tage in meinem Leben erinnert hat. An den Tag, an dem ich nur ein paar Schritte von hier fast gestorben wäre.
Trotzdem, so schlimm es auch war, der gestrige Tag war noch schlimmer. Viel schlimmer. Durch Palomas Beistand ist das Bein, das ich mir vor dem Rabbit Hole gebrochen habe, binnen weniger Wochen geheilt. Wenn es heute nicht läuft wie geplant, wird sich mein gebrochenes Herz vielleicht nie mehr erholen.
Ich lächele ansatzweise und sage mir, dass er es gut meint. Nicht jeder in dieser Stadt ist ein Richter. Dann gehe ich in den hinteren Raum, wo der Kaffee ausgeschenkt wird. Dabei hoffe ich, einen dieser runden Tische mit den leuchtend pinkfarbenen Tischdecken zu ergattern und als zeitweiligen Zufluchtsort benutzen zu können, bis es an der Zeit ist, meinen Plan umzusetzen.
Doch sowie ich Chay dort sitzen sehe, über einen Kaffee und ein Plunderteilchen gebeugt, während er die Zeitung liest, trete ich schnurstracks den Rückzug an. Ich komme allerdings nicht besonders weit, da er sich bereits vom Tisch erhebt und mir nachruft, was mir keine andere Wahl lässt, als ihn zu begrüßen.
»Hey«, sage ich und stelle meine Tasche auf den Stuhl ihm gegenüber.
Er schiebt mir seinen Teller hin und bietet mir die Hälfte seines Plunderteilchens an. Doch so verlockend es auch aussieht mit seiner flüssigen Cremefüllung und den gezuckerten Früchten – ich habe Paloma versprochen, die Finger von Junkfood zu lassen, und dieses Versprechen gedenke ich zu halten.
»Nein danke. Ich lebe immer noch abstinent.« Ich schiebe ihm das Gebäckstück wieder hinüber. »Wenn es nach Paloma geht, bleibe ich auf Dauer abstinent. Aber keine Sorge, ich verrate ihr nicht, wie du deine Vormittage verbringst.«
Er lacht über meine Worte, wobei sich um seine Augen Fältchen bilden, die sich fächerförmig ausbreiten. Seine gute Laune ist dermaßen ansteckend, dass ich einfach mitlachen muss, verblüfft darüber, wie sich dadurch schlagartig meine Stimmung verbessert.
»Wie wär’s, wenn wir ein Abkommen treffen ?«, schlägt er vor. »Du erzählst Paloma nicht, dass ich trotz all ihrer Warnungen über die Übel von Zucker immer noch meinem Hang zu Süßem fröne, und ich verrate ihr nicht, dass du die Schule schwänzt.« Als sein Blick meinem begegnet, liegt allerdings keinerlei Heiterkeit mehr darin. »Das sehe ich doch richtig, oder ?«
Ich ziehe eine Braue hoch und zucke die Achseln. Mein Mitteilungsbedürfnis ist versiegt. Ich stehe vom Tisch auf und hole mir die Reste verbrannten Kaffees aus einer schon fast leeren Kanne. Eines der besten Beispiele für unlautere Werbung, die ich je gesehen habe. Frisch gebrüht, da lache ich ja.
Ich nehme vorsichtig einen ersten Schluck.
»Und falls dem so ist«, fährt Chay fort, »warum bist du dann hierhergekommen ?«
»Zu dieser Tageszeit gibt es nicht so rasend viele Alternativen. Und zu anderen Tageszeiten eigentlich auch nicht. Schließlich befinden wir uns in Enchantment. Nicht direkt die Vergnügungshauptstadt der Welt.« Ich gebe zwei Tütchen Kaffeeweißer in meinen Becher und hoffe, das überdeckt den schlimmsten Beigeschmack. Es ist eine Art Milch in Pulverform, keine Flüssigmilch, und damit schon wieder etwas, was Paloma keinesfalls gutheißen würde. Doch ich habe nichts anderes zur Verfügung, und manchmal muss man eben Kompromisse schließen.
»Ich weiß nicht«, sagt Chay. »Ich könnte mir hundert andere Beschäftigungen für dich vorstellen.«
»Nenn eine.« Ich tauche eines dieser dünnen Plastikstäbchen in meinen Kaffee und rühre heftig um.
»Kachina liebt es, frühmorgens auszureiten.« Chay mustert mich eindringlich.
»Ich auch.« Ich nehme noch einen Schluck, der zwar besser schmeckt als der erste, aber wirklich nur ein bisschen. »Irgendwie hatte ich wohl das Bedürfnis, unter Leute zu gehen statt in die Natur. Und welcher Ort wäre besser als dieser hier ?«
Chay hält inne, wobei seine Gabel mit einem Bissen von seinem Plunderteilchen zwischen Teller und Mund hängen bleibt. »Und was ist mit der Schule ? Da sind jede Menge Leute. Sogar Leute deines Alters.« Er sieht mir direkt in die Augen. Man kann ihm nicht so leicht etwas vormachen. »Daire, was wird hier wirklich gespielt ?« Sein Tonfall wird schlagartig ernst. Jetzt ist Schluss mit lustig.
Seufzend starre ich in meinen Kaffee. »Wo soll ich anfangen ?«
»Wo du magst.« Er faltet seine Zeitung zusammen und schiebt sie zur Seite, während ich meine Möglichkeiten abwäge.
Chay ist Palomas vertrauter Freund und, wie ich kürzlich entdeckt habe, auch ihr Geliebter. Er hat mich schon in meiner schlimmsten Trotzphase erlebt. Hat mich ohne ein einziges Wort der Beschwerde den ganzen Weg von Phoenix nach Enchantment gefahren. Hat mich an den Ort meiner Visionssuche begleitet und mir das Selbstvertrauen vermittelt, das ich brauchte, um mich in die Höhle zu wagen. Und er hat mir auf unbestimmte Zeit Kachinas Pflege überlassen.
Er ist ein guter Mensch.
Jemand, dem ich vertrauen kann.
Vielleicht nicht in allem, aber ich habe ja auch nicht vor, ihm alles zu erzählen.
Ich hole tief Luft und lege los. Dabei fällt mir auf, wie er während meiner Schilderung, dass die Unterwelt vor die Hunde geht, nervös an dem Adlerring dreht, an dem zwei goldfarbene Steine als Augen eingelassen sind und den er immer trägt. Gerade will ich ihm vom Echo erzählen, davon, wie ich endlich herausgefunden habe, was es wirklich bedeutet – für Dace, für Cade, für uns alle.
»Und dann ist da natürlich noch die Kleinigkeit mit der Prophezeiung«, sage ich mit sarkastischem Unterton. Doch in Wahrheit ragt die Prophezeiung überlebensgroß vor uns auf, sodass ich an nichts anderes mehr denken kann. Und so wird es zweifellos bleiben, bis ich einen Weg finde, sie in die Tonne zu treten, was ich schon bald zu tun gedenke. Und zwar sehr bald. Sobald ich Chay abwimmeln und über die Straße zum Rabbit Hole gehen kann. »Du weißt über die Prophezeiung Bescheid, stimmt’s ?«
Chay beugt sich über seinen Kaffee und weicht gezielt meinem Blick aus. »Eine Prophezeiung lässt sich auf viele verschiedene Arten auslegen.«
Ich lehne mich zurück und verzichte lieber auf den Rest meines Kaffees, statt noch einen Schluck zu nehmen. »Genau das hat Paloma auch gesagt.« Ich mustere ihn aufmerksam, betrachte das lange, schwarze Haar, die hohen Wangenknochen, den breiten Mund, den verwitterten Teint und die freundlichsten Augen, die ich, abgesehen von Daces Augen, je gesehen habe.
»Paloma ist eine weise Frau.« Chay grinst. Dann isst er gemächlich sein Gebäckstück auf und wischt sich die Krümel von den Lippen, ehe er weiterspricht. »Aber das erklärt noch immer nicht, warum du hier bist.«
»Nicht ?« Ich lege den Kopf schief und fordere ihn so heraus, mal zu versuchen, die Wahrheit zu erraten, da ich nicht vorhabe, sie ihm einfach auf die Nase zu binden.
Er lehnt sich zurück und kneift nachdenklich die Augen zusammen. Zweifellos spürt er, worauf ich es anlege, wenn vielleicht auch nicht ganz. Schließlich kippt er den Rest seines Kaffees hinunter und steht auf. »Gehen wir doch ein bisschen spazieren.«
Ich folge ihm nach draußen und habe keine Ahnung, wo er mit mir hinwill, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht das Rabbit Hole sein wird. Zumindest hoffe ich das nicht. Ich brauche keinen Begleiter. Manche Dinge muss ich allein erledigen.
»Wohin gehen wir ?« Ich bleibe neben ihm am Straßenrand stehen, um ein paar Autos vorbeifahren zu lassen, bevor wir hinübergehen.
»Buchhandlung.« Er schaut konzentriert auf die andere Straßenseite, von wo Dace mich aus seinem Auto heraus beobachtet.
Ich weiß, ohne hinsehen zu müssen, dass er es ist.
Ich spüre den Strom bedingungsloser Liebe, der mich stets umgibt, wenn er in der Nähe ist.
Es kostet mich die letzten Reste meiner Kraft, ihn zu ignorieren. Nicht zu ihm hinzusehen. Nicht wie ein Gummiball herumzuspringen, ihm wie wild zuzuwinken und dabei laut seinen Namen zu rufen.
Schlimm genug, dass ich ihn liebe. Allerdings kommt es nicht infrage, diese Liebe zu leben.
Zumindest für den Moment.
»Ich muss zuerst noch hier rein«, sage ich, packe Chay am Ellbogen und steuere ihn in den Schnapsladen an der Ecke, wo ich mich, kaum innen angekommen, an die nächste Wand lehne, um mich zu beruhigen.
»Alles in Ordnung ?« Chay schaut mich prüfend an.
Ich nicke und ringe um Fassung, damit ich etwas sagen kann. »Würde es dir etwas ausmachen, ein Päckchen Zigaretten für mich zu besorgen ? Ich bin noch zu jung, um selbst welche zu kaufen.«
Misstrauisch zieht er die Brauen zusammen.
»Zigaretten sind der Lieblingssnack der Dämonen«, rufe ich ihm in Erinnerung. »Und man kann nie wissen, wann man mal welche braucht.«