Achtundzwanzig
Daire
Nachdem ich mich Jennikas Lockenstab ergeben habe und sie mir eine Mähne aus weichen Wellen gezaubert hat, von denen selbst ich zugeben muss, dass sie ziemlich gut aussehen, überlasse ich ihr auch noch den Rest meines Stylings.
Sie lässt kritisch den Blick über meine Designer-Jeans, das coole Top und die neuen Stiefel schweifen, die sie mir mitgebracht hat, ehe sie mir noch mehr Armreifen auf die Handgelenke schiebt und mir ein paar Ringe an die Finger steckt, die sie zum Teil von ihren eigenen abgezogen hat. Doch als sie mir anbietet, mir die Nase ebenso zu piercen wie ihre, ziehe ich die Notbremse. Ich schiebe sie aus dem Haus in die klirrend kalte Nacht, wo wir in ihren Mietwagen steigen und erst einmal minutenlang unkontrollierbar zittern, bis die Heizung in Gang kommt.
»Es könnte wenigstens schneien.« Sie wirft einen Blick nach hinten und fährt rückwärts aus der Einfahrt. »Unter einer frischen Schneeschicht sieht alles besser aus, und diese Stadt braucht weiß Gott jegliche Unterstützung, die sie kriegen kann.«
»Ich arbeite dran«, sage ich und zupfe an der schweren braunen Einkaufstüte auf meinem Schoß. Vertieft in meine gedankliche Aufzählung, was sie alles enthält, merke ich gar nicht, dass ich die Worte laut ausgesprochen habe, bis Jennika nachhakt.
»Du arbeitest dran ?« Sie wirft mir einen spöttischen Blick zu. »Seit wann kontrollierst du das Wetter ?«
Seit heute – seit ich gelernt habe, ganz mit den Elementen zu verschmelzen. Für mich als Suchende ist es nur eine meiner zahlreichen Pflichten.
Doch stattdessen sage ich bloß: »Ich habe nur gemeint, dass ich auch auf Schnee hoffe. Alle wünschen sich doch weiße Weihnachten, oder ?«
Sie beäugt mich misstrauisch und nimmt mir meinen Vertuschungsversuch nicht recht ab. »Lass dir von Paloma bloß keine abstrusen Ideen in den Kopf setzen«, warnt sie mich. »Lass dich von ihr nicht zu einer jüngeren Version von sich selbst umwandeln.«
Ich schließe nur die Augen und verweigere eine Antwort.
»Im Ernst«, fährt sie fort, mit diesem Thema noch längst nicht fertig. »Du hast ja keine Ahnung, wie viel Kopfzerbrechen es mir macht, dich bei ihr zu lassen. Als du vorhin unter der Dusche warst, habe ich doch tatsächlich gesehen, wie sie eine Patientin angespuckt hat.«
Ich presse die Lippen aufeinander, entschlossen, nicht zu sprechen, bis ich all meine Geduld beisammenhabe. »Sie hat die Patientin nicht angespuckt, sie hat nur …« Die schlechte Energie der Patientin aufgenommen und sie dann ausgespuckt, damit das Universum sie aufsaugt. In Jennikas Ohren klingt das vermutlich nur unwesentlich besser. »Egal.« Ich zucke die Achseln. »Ich weiß nur, dass sie eine lange Liste von Patienten hat, die sie alle zu lieben scheinen. Es steht uns nicht zu, ihre Methoden zu beurteilen, oder ?«
Jennika verzieht finster die Miene. Es ist ihr ein Gräuel, wenn ich mich so korrekt gebe, vor allem dann, wenn ich auch noch recht habe.
»Egal«, füge ich hinzu, da ich unbedingt das Thema wechseln will. »Weißt du den Weg noch ?«
»Wie könnte ich den vergessen ?« Vor einer Abzweigung bremst sie ab und beschleunigt dann wieder. Sie hüpft auf dem Sitz auf und ab, als der Wagen einen Feldweg nach dem anderen entlangrumpelt. »Als ich das letzte Mal dort war, war es mit Skeletten und Totenschädeln dekoriert. So was vergisst man nicht so leicht.«
»Soweit ich gehört habe, haben sie die Skelette durch Lichterketten und eine großzügige Menge Mistelzweige ersetzt – also pass auf, wo du stehen bleibst.«
»Stehen bleiben ?« Sie schreckt zurück. »O nein, meine Aufgabe ist nur, dich hinzubringen. Ich habe nicht vor, dich zu begleiten.«
Entspannt lehne ich mich zurück und versuche, nicht allzu erleichtert darüber zu wirken, dass unsere Mutter-Tochter-Symbiose nicht über dieses Auto hinausreichen wird. Es hätte mir gerade noch gefehlt, wenn Jennika mir über die Schulter spähen und mir in Echtzeit Tipps dafür geben würde, wie ich meinen »Liebeskrieg« gewinnen kann.
»Ich dachte, ich fahre zu Paloma zurück. Schaue vielleicht mal die Kiste durch, von der du mir erzählt hast. Du weißt schon, die mit Djangos Sachen ?«
»Solltest du wirklich machen.« Ich verkneife mir ein Grinsen und bemühe mich, angesichts dieses Vorhabens nicht allzu erfreut zu klingen.
Jennika muss unbedingt in diese Kiste schauen. Sie wird niemals imstande sein, eine Zukunft mit jemandem zu schmieden, solange sie sich nicht mit der Vergangenheit ausgesöhnt hat.
»Oder ich fahre einfach ins Hotel zurück und schlafe eine Runde.« Sie trommelt mit den Fingern gegen das Lenkrad und hat den tieferen Sinn hinter meinen Worten offensichtlich klar erfasst. »Ich weiß noch nicht genau.«
»Bleibt dir überlassen.« Ich zupfe an meinen Nagelhäutchen und tue so, als wäre mir egal, wie sie sich entscheidet. So stur und dickköpfig, wie Jennika ist, wird sie bei der leisesten Ahnung davon, dass sich dies in irgendeiner Form auf unser Gespräch über Harlan beim Schminken bezieht, garantiert das Gegenteil tun.
Den Rest der Fahrt schweigen wir, bis sie vor dem Rabbit Hole anhält. »Hast du nicht gesagt, dass du die Stadt hier furchtbar findest ?«, sagt sie und mustert mich argwöhnisch.
»Bist du sicher, dass das ich war ? Irgendwie klingt das mehr nach dir.« Ich klappe die Sonnenblende herunter und kontrolliere mein Make-up in dem kleinen beleuchteten Spiegel. Ich erkenne mich kaum wieder mit der ganzen aufgemalten Verruchtheit und der voluminösen, welligen Mähne.
»O doch, natürlich hab ich das gesagt.« Sie runzelt die Stirn. »Und ich werde es bestimmt noch ein paarmal sagen, ehe ich nach L. A. zurückkehre. Ich werde nie begreifen, was dir an diesem Ort so gefällt.«
»Und trotzdem kommst du zu Besuch und chauffierst mich herum. So was von selbstlos von dir.« Ich klappe die Sonnenblende hoch und umfasse den Türgriff, bereit, mich zu verabschieden und mich in meinen Abend zu stürzen.
»Chauffeuse zu spielen ist irgendwie der einzige Weg, wie ich ein paar ruhige Minuten mit dir ergattern kann. Für eine solche Tote-Hose-Stadt scheinst du wirklich ganz schön beschäftigt zu sein.«
»Ja, man nennt es Schule. Hausaufgaben. Du weißt schon, die Art von Leben, wie es normale Leute führen. Verrückt, ich weiß.« Ich schüttele den Kopf und rutsche vor an die Sitzkante.
»Geht es darum – dass du normal sein möchtest ? Normal kriegen wir schon hin, Daire. Du solltest mal sehen, wie normal mein Leben geworden ist.« Sie sieht mich mit so hoffnungsvoller Miene an, dass ich unwillkürlich wegschaue.
Stattdessen starre ich wie gebannt aufs Rabbit Hole, das Symbol dafür, warum ich nie wieder normal sein werde. Solange es Richters gibt, habe ich keine andere Wahl, als die Art von Leben zu führen, die ich erst ganz allmählich zu verstehen beginne.
Es ist mein neues Normal, eine Suchende zu sein. Es ist das Leben, das ich zu akzeptieren lernen muss. Diese lockeren Wortgeplänkel mit Jennika sind so ziemlich das Normalste, was mein Leben zulässt.
»Weihnachtswichtel-Party, aha.« Jennika zupft an meinen Haaren herum, entschlossen, meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. »Wen hast du denn bekommen ?«
»Lita«, sage ich. »Aber Lita hat Dace bekommen, und deshalb hat sie mit mir getauscht.« Meine Stimme klingt kleinlaut. Schnell schüttele ich es ab und rufe mir in Erinnerung, wie viel sich verändert hat – wie sehr ich mich verändert habe, und das in nur wenigen Tagen.
»Hat dann Lita etwa … sich selbst bekommen ?« Als sich unsere Blicke begegnen, prusten wir beide los vor Lachen, bis ihr die Tüte auf meinem Schoß ins Auge sticht. »Verrätst du mir, was du für ihn hast ?«
»Nein.« Ich umfasse die Einkaufstüte fester, als wollte ich Jennika abhalten, danach zu greifen. Was sie vermutlich nicht tun würde. Doch bei Jennika weiß man nie. »Lieber nicht.«
Sie betrachtet mich eine ganze Weile und seufzt schließlich resignierend. »Soll ich dich auch wieder abholen ?«
»Ich finde schon jemanden, der mich fährt. Mach einfach das, worauf du Lust hast.« Ich stoße die Tür auf und schiebe mich aus dem Auto. Doch kaum bin ich auf die Straße getreten, überkommt mich einer dieser Eindrücke – und ich bin verblüfft über die Menge an Traurigkeit und Einsamkeit, die Jennika in ihrem Herzen birgt. Das veranlasst mich, mich umzudrehen und zu sagen: »Wenn du morgen vorbeikommen willst, kann ich Kachina satteln, ein Pferd von Chay ausleihen, und wir reiten zusammen aus.«
Jennika lächelt. »Klar. Warum nicht ? Es ist schon eine Weile her, seit ich meine Cowgirl-Phase hatte. Aber jetzt erst mal …« Sie kramt in ihrer Tasche, zieht mich zu sich her und tupft mir einen Klecks glänzenden, klaren Lipgloss mitten auf die Unterlippe. Dann fährt sie mir mit den Daumen über beide Wangen. »Okay, jetzt bist du absolut unwiderstehlich. Wirf sie um.«
Ich gehe auf den Eingang zu, aber nur, weil ich spüre, dass sie mich vom Wagen aus beobachtet. Sowie sie davonfährt, sause ich nach hinten und mache mich an die Vorbereitungen. Ich benutze jeden Gegenstand aus meiner Tüte, streiche mir verunsichert über die ungewohnte Lockenmähne und betrete den Club.
Mir bleibt kaum Zeit, um mich an die schummrige Beleuchtung und den Krach zu gewöhnen, als mich Lita schon am Arm packt. »Endlich !«, ruft sie. »Ich dachte schon, du willst mir die Party ruinieren !« Schnaubend verdreht sie die Augen und schüttelt gleichzeitig den Kopf. Es ist ein eindrucksvolles, dramatisches Schauspiel. »Aber jetzt bist du ja hier !« Sie zieht mich in eine ihrer Lita-Umarmungen, die mich mit ihrer unglaublichen Ernsthaftigkeit und der Wolke süßlichen Parfüms immer ganz schwindelig machen.
»Wo warst du überhaupt ? Warum kommst du so spät ? Bist du mit Dace gekommen ? Der ist nämlich auch nicht da. Oder vielmehr, der alte Schrotthaufen, den er fährt, ist da, aber ihn habe ich nirgends gesehen.« Sie weicht ein Stück zurück und lässt forschend den Blick über mich schweifen. »Und wer hat dir die Haare und das Make-up gemacht ? Ist Jennika hier ? Meinst du, sie würde mich auch stylen ?« Kaum lässt sie mir eine Sekunde Zeit für eine Antwort, da redet sie schon weiter. »Egal. Das besprechen wir später. Und jetzt komm endlich. Los jetzt !«
Sie zieht mich unsanft am Ärmel und führt mich an einem riesigen Weihnachtsbaum vorbei, dessen Zweige dermaßen mit Schmuck überladen sind, dass sie sich unter der Last biegen. Dann zerrt sie mich die Mistelzweig-Gasse hinab und funkelt jeden Jungen finster an, der es wagt, sie mit lüsternen Blicken anzuschmachten. Sie macht erst halt, als sie die Gruppe von Tischen erreicht hat, die der Bar am nächsten stehen und wo mehr oder weniger die ganze elfte Klasse sitzt. Einschließlich der Leute, die sie noch vor ein paar Wochen ihrer Aufmerksamkeit für völlig unwürdig erachtet hat.
»Ja, ich weiß, was du denkst.« Sie fängt meinen erstaunten Blick auf. »Zuerst freunde ich mich mit dir an. Dann mit Xotichl und Auden. Dann mit Dace. Und jetzt sieht es so aus, als wäre ich bereit, mich wahllos mit so gut wie jedem anzufreunden.« Sie hebt die Schultern und sieht sich um. »Was soll ich sagen ? Ich bin zur totalen Freunde-Schlampe geworden. Aber schließlich ist Weihnachten, und da komme ich immer in Spendierlaune. Also habe ich beschlossen, meinen Horizont zu erweitern und all diesen Losern zu erlauben, zu meiner Party zu kommen.« Lächelnd winkt sie einem Grüppchen von ihnen zu. Ihre Reaktion darauf, von Lita registriert zu werden – überglücklich und albern –, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie mächtig sie ist.
Ich mag ja die Macht der Elemente und die Macht meiner Ahnen auf meiner Seite haben, doch Lita besitzt die Macht des Charismas und zieht Menschen an wie eine Blume die Bienen.
»Ich habe etwas für dich«, sage ich, nachdem wir bei Xotichl angekommen sind. »Für euch beide. Und für Auden.« Ich wühle mich durch den Inhalt meiner Tüte, auf der Suche nach den ungeschickt eingewickelten Päckchen. »Tut mir leid wegen der miesen Verpackung, aber ich hatte nicht viel Zeit.«
»Wen kümmert schon die Verpackung ?«, sagt Lita, die ohne Zögern das Papier zerfetzt. »Es sind doch die inneren Werte, die zählen, oder ?«
Ich blicke zwischen ihnen hin und her und bemerke Litas Enttäuschung und Xotichls Freude, als sie ein kleines, steinernes Opossum beziehungsweise eine Fledermaus enthüllen.
»Das ist ein Talisman.« Ich beiße mir auf die Lippe.
»Ich weiß, was es ist.« Lita sieht mich an. »Wenn man in Enchantment aufwächst, kriegt man zwangsläufig jede Menge Aberglauben mit.«
»Es ist nicht nur Aberglauben«, sagt Xotichl und wiegt ihr Tierchen auf der Handfläche. »Diese Tiertotems beschützen uns und kümmern sich um uns auf mehr Arten, als du denkst.«
»Sagt die abergläubischste Person, die ich kenne.« Lita lacht und stößt Xotichl neckisch mit der Schulter an.
»Mag sein. Aber nur damit du es weißt, die hier sind nicht wie die, die sie in den Touristenläden verkauft haben – als es hier noch Touristenläden gab. Die hier sind …«
»Verstärkt«, falle ich ihr ins Wort. »Sie haben Schutzkräfte. Aber nur wenn du deinen auch trägst, ihn nah bei dir hast und möglichst niemand davon erzählst. Anwesende natürlich ausgenommen.«
Xotichl steckt das Geschenk für Auden in die Tasche und ihre Fledermaus in das weiche Wildlederbeutelchen, das sie seit Neuestem trägt, während Lita mit skeptischer Miene zusieht. »Ich muss aber nicht auch so eines tragen, oder ?« Sie zeigt mit dem Daumen auf Xotichls Beutel. »Ich meine, versteht mich nicht falsch, ich weiß das Geschenk echt zu schätzen, und diese Beutelchen sehen bei euch echt okay aus, aber ich trage oft tiefe V-Ausschnitte. Dann sticht es heraus – und zwar nicht gerade vorteilhaft.«
»Du kannst den Talisman auch in eine Jackentasche stecken«, schlägt Xotichl vor. »Oder …«
Lita sieht an ihrem Outfit entlang, auf der Suche nach einem guten Platz für den Talisman. Doch ihr rotes Samtkleid mit dem Besatz aus weißem Kunstpelz an Ärmeln und Saum ist so eng, so kurz und so taschenlos, dass es absolut keinen Platz für irgendetwas bietet.
»Oh, ich weiß – ich stecke ihn in meinen Stiefel !« Sie klammert sich mit einer Hand an meine Schulter, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und beugt sich vor, während sie tief in den Schaft ihrer schwarz glänzenden, kniehohen Stiletto-Stiefel greift. Dabei zieht sie mich erneut in eine ihrer berüchtigten parfümierten Umarmungen. »Ich liebe ihn«, sagt sie. »Ehrlich. Ich wollte dich nur auf die Schippe nehmen. Wahrscheinlich bin ich ein bisschen schockiert darüber, wie mühelos du dich den hiesigen Gepflogenheiten anpasst.« Sie macht sich los und streicht ihr Kleid glatt. »Und jetzt lasse ich dich mit Xotichl allein. Sie ist die Einzige, der ich ernsthaft zutraue, auf dich aufzupassen und dafür zu sorgen, dass du hierbleibst. Und wenn eine von euch beiden zufällig Dace auftreiben sollte, dann schnappt ihn euch und sorgt dafür, dass er auch hierbleibt. Weihnachtswichteln ist eine exakte Wissenschaft, wisst ihr ? Jeder muss nachweislich anwesend sein, sonst funktioniert es nicht.« Damit wendet sie sich von uns ab und stürmt vor zur Bühne, wo Audens Band Epitaph spielt. Ungeduldig wartet sie, bis sie ihr Stück beendet haben, damit sie ihren Platz einnehmen kann.
»Dace ist nicht hier ?« Ich bemühe mich, die Sorge aus meiner Stimme herauszuhalten, doch es ist zwecklos – sie durchschaut mich sofort.
»Er ist hier irgendwo. Ich habe vorhin seine Gegenwart gespürt. Aber such lieber nicht nach ihm. Lita kann ganz schön beängstigend werden, wenn sie die Partydiktatorin gibt. Und jetzt, wo sie dich in meine Obhut befohlen hat, musst du unbedingt dableiben.« Xotichl lacht. »Ich wette, dir war nicht klar, dass das Schicksal der gesamten Geschenkeverteilung in deinen Händen liegt ? Oder doch ?«
Ich muss lachen, aber in Wahrheit ist das nicht ganz ehrlich, und Xotichl registriert erwartungsgemäß selbst den leisesten Hauch von Falschheit.
»An dir ist irgendwas anders.« Sie fasst nach mir und legt ihre Hand auf meine.
»Dank Jennika trage ich Make-up – massenhaft Make-up«, erkläre ich. »Ach, und ich habe mir auch die Haare in Locken legen lassen. Und obwohl es mir irgendwie gefällt, ist es auch befremdlich, mich selbst so zu sehen.« Ich werfe mir die Mähne über die Schulter und hoffe, dass ich es irgendwann vergesse und nicht mehr so viel daran herumfummele. Ich habe mich wirklich auf Wichtigeres zu konzentrieren als auf den neuen spektakulären Party-Look, den mir meine Mom aufgedrängt hat.
»Ich wette, du siehst umwerfend aus«, sagt Xotichl. »Aber das habe ich nicht gemeint.«
Oh. Ich frage mich, was das Blindsehen ihr gerade verrät.
»Ein Teil von dir ist stärker geworden.« Sie nimmt ihre Hand von meiner, lässt sie aber darüber schweben, während sie meine Energie taxiert. »Ein anderer Teil allerdings nicht.«
»Das würdest du nicht sagen, wenn du mich vorhin gesehen hättest. Paloma hat mir beigebracht, die Elemente zu manipulieren. Wenn es nach mir geht, kriegst du deine weißen Weihnachten, und zwar so was von …« Meine Stimme verklingt, während mein Blick von einem Mädchen ein paar Tische weiter angezogen wird.
Der Neuen.
Dem Mädchen mit den wilden Haaren und dem exotischen Aussehen.
Sie plaudert mit Jacy und Crickett und ein paar Jungen, deren Namen ich andauernd vergesse.
»Daire …« Xotichl drückt meine Finger. Sie versucht, mich vom Gaffen abzuhalten und davon, die Frage zu stellen, von der wir beide wissen, dass sie kommen muss.
Aber ich kann keines von beidem stoppen.
»Wer ist sie ?«, frage ich, wobei ich genau weiß, dass ich nicht erklären muss, wen ich meine.
Mir bleibt nicht verborgen, dass Xotichls Stimme weich und resigniert wird, als sie mir antwortet. »Sie heißt Phyre. Phyre Youngblood. Ausgesprochen wie ›Fire‹, aber mit P H Y geschrieben.«
Phyre.
Ausgesprochen wie »Fire«.
Genau das Element, mit dem ich mich verbunden und das ich zu kontrollieren gelernt habe. Doch Phyre, der Mensch, gibt mir das Gefühl, mich völlig in den Schatten zu stellen.
»Woher kennst du sie ? Wie kommt es, dass ihr sie anscheinend alle kennt ?«
Ich starre sie immer noch an, außerstande, den Blick abzuwenden. Sie lacht auf eine Weise, die eine Lockenkaskade über ihren Rücken fallen lässt, wobei ein langer, anmutig geschwungener Hals sichtbar wird. Ihre Bewegungen sind so fließend, so elegant, so endlos faszinierend, dass die Jungen gar nicht anders können, als sie voller ungezügeltem Verlangen anzugaffen, während Jacy und Crickett mit unverhohlenem Neid zusehen.
Sie presst sich eine Hand auf den Mund, um ihren eigenen Redefluss zu stoppen, während der Junge direkt vor ihr – Brendan ? Bryce ? irgendwie so ähnlich – von ihrem schieren Anblick derart gebannt ist, dass er nach und nach immer näher rückt, als wollte er sich in ihrem Glanz wärmen.
Doch sowie sie sich zu mir umwendet und mich beim Starren erwischt, wende ich mich hastig ab. Ich komme mir peinlich, dumm und trampelhaft vor – und frage mich, ob ich zu der rasch anwachsenden Liste meiner Fehler auch noch eifersüchtig hinzufügen soll.
»Sie hat früher mal hier gewohnt«, erklärt Xotichl und holt mich damit zur vorangegangenen Frage zurück. »Dann ist ihre Mom verschwunden, und ihre Geschwister Ashe und Ember wurden von einer Tante aufgenommen, während Phyre mit ihrem Dad weggezogen ist. Und jetzt sind sie anscheinend wieder da. Das ist zumindest die Kurzfassung.«
»Ja ? Und wie lautet die andere Fassung – die, die du mir verschweigst ?«
Ich mustere sie genau und weiß, dass sie nur eine gute Freundin sein und mich vor Dingen wie »falschen Vorstellungen« oder »verletzten Gefühlen« bewahren will, doch dafür ist es zu spät. In meinem Kopf überschlagen sich bereits die Gedanken – falsch und schmerzhaft zugleich –, und nur die Wahrheit kann mich retten.
Ich habe nämlich gesehen, wie Phyre Dace angesehen hat.
Und ich habe auch gesehen, wie er es kaum über sich gebracht hat, ihren Blick zu erwidern.
Da steckt etwas dahinter.
Eine Geschichte, die wahrscheinlich nichts mit mir zu tun hat – und die mich zweifellos nichts angeht. Aber ich muss sie trotzdem kennen, damit ich begreife, warum ich mich so sonderbar fühle.
So kann ich herausfinden, ob wirklich etwas seltsam an Phyre ist – oder ob ich einfach kleinlich bin und mich von der Ankunft eines so unfassbar hübschen Mädchens bedroht fühle. Eines Mädchens, das vielleicht eine gemeinsame Vergangenheit mit meinem Freund verbindet – oder auch nicht.
Benehme ich mich schon wie Lita ?
Oder gibt es einen ernsthaften Grund zur Sorge ?
Nachdem ich noch nie in einer solchen Lage gewesen bin, fällt mir die Entscheidung schwer. Trotzdem hoffe ich ehrlich, dass der Schwarze Peter Phyre zufällt – nicht mir.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dace liebt dich, und zwar nur dich, das weißt du doch.«
Ich sehe Xotichl an und erkenne auf ihrem Gesicht einen Anflug von Reue darüber, auch nur so viel verraten zu haben. Alles, was sie mir erzählt, dient nur dazu, mein Feuer anzufachen. Feuer und Phyre sind jetzt ein und dasselbe.
»Sag mal«, hake ich nach. »In welchem Verhältnis stehen sie zueinander ? Ich meine, sie waren ja wohl irgendwie zusammen, aber wie eng eigentlich ?« Ich schaue Xotichl durchdringend an und muss daran denken, was mir Dace neulich über die gar nicht mehr so verzauberte Quelle gesagt hat. Dass er nur mit einem einzigen anderen Mädchen jemals dort gewesen sei. Tief in meinem Herzen weiß ich, dass es Phyre war.
Xotichl seufzt und spielt mit ihrer Wasserflasche. »Sie sind alle beide im Reservat aufgewachsen.«
»Und ?« Sie windet sich und rutscht unbehaglich hin und her. Obwohl ich bei dem Anblick ein schlechtes Gewissen bekomme, hindert mich das nicht daran, sie noch weiter zu bedrängen. »Hör mal, ich hab’s kapiert, okay ? Jeder hat eine Vergangenheit. Mann, mehr oder weniger die ganze Schule weiß über meinen Vane-Wick-Fehltritt Bescheid.«
»Nein, nicht mehr oder weniger. Jeder weiß es. Sogar die Lehrer haben darüber geredet.«
Sie grinst. Ich lache. Aber dann werde ich schnell wieder ernst.
»Hier ist irgendwas anders. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass sie noch nicht ganz mit ihm fertig ist – noch nicht ganz … über ihn weg ist. Oder leide ich jetzt schon an Verfolgungswahn ? Benehme ich mich wie eine jämmerliche, eifersüchtige Freundin, die bei jedem hübschen Mädchen ausrastet, das ihren Freund auch nur ansieht ? Wenn das nämlich der Fall ist, musst du es mir gleich sagen, damit wir einschreiten und einen Weg finden können, das auszumerzen.«
»Schau mal«, erwidert Xotichl. »Ich bin nicht über die ganze schmutzige Wäsche im Bilde, aber ja, ich habe die Gerüchte gehört, und Lita hat mehr oder weniger bestätigt, dass sie etwas miteinander hatten. Und als sie heute Mittag beim Lunch Dace damit konfrontiert hat, hat er es auch nicht direkt abgestritten. Sie hat ihm deswegen regelrecht die Hölle heißgemacht. Hat ihm gesagt, er soll dich lieber nicht hintergehen, sonst bekäme er es mit ihr zu tun.«
Wir wenden uns der Bühne zu, vor der sich Lita seitlich aufgebaut hat und darauf brennt, sich das Mikrofon zu schnappen, sowie Audens Gitarrensolo beendet ist.
»Sie ist eine sehr seltsame, aber erstaunlich loyale Freundin. Ich werde nie so richtig schlau aus ihr. Jedenfalls war es ziemlich beeindruckend. Echt schade, dass du es verpasst hast.«
»Dann findest du das also auch. Dass ich eine eifersüchtige Zicke bin.« Ich sacke auf meinem Barhocker zusammen. Dabei frage ich mich, ob es ein schnelles Mittel gegen Eifersucht gibt – vielleicht einen Zauberspruch oder ein Kraut, das ich einnehmen kann ?
»Nein«, Xotichl senkt die Stimme zu einem Flüstern, »das meine ich ganz und gar nicht. Es steckt irgendetwas dahinter, dass sie so aus heiterem Himmel hier auftaucht. Und bis jetzt habe ich auch ihre Energie noch nicht zu fassen bekommen. Aber das wird noch, lass mir nur Zeit. Wegen Dace brauchst du dir allerdings keine Sorgen zu machen. Oder vielmehr nur wegen Cade.«
Ach ja. Der. So schrecklich es sich auch angefühlt hat, mich in meinem jämmerlichen Pfuhl der Eifersucht zu suhlen, war es doch eine nette Verschnaufpause davon, mich wegen einer wesentlich größeren Gefahr verrückt zu machen, die bedrohlich vor mir aufragt.
»Glaubst du, er taucht zur Geschenkübergabe auf ?«
Die Frage war nicht ernst gemeint. Ich habe sie nur so dahingesagt, um die Stimmung aufzulockern. Doch noch ehe Xotichl antworten kann, erklimmt Lita die Bühne und schnappt sich das Mikrofon.
Sie steht vor uns, die Santa-Claus-Mütze schräg übers eine Auge gezogen, was ihrem sexy Weihnachtsfrau-Look noch eine extra gewagte Note verleiht. Lässig schlendert sie am Bühnenrand entlang, damit alle sie gleich gut sehen können. »Ich will euch allen dafür danken, dass ihr euch die Zeit genommen habt, zu meiner alljährlichen Rabbit-Hole-Weihnachtsparty zu kommen !« Sie hält inne, woraufhin die Zuhörer sofort zu pfeifen und zu johlen beginnen, bevor sie sie wieder zum Schweigen bringt, als sie findet, dass es reicht. »Es sind eine Menge neuer Gesichter unter euch, und ich weiß, wie sehr ihr euch darüber freut, endlich auch dazuzugehören. Betrachtet es einfach als mein kleines Geschenk an euch !« Sie hält erneut inne, und als die Jubelrufe ein bisschen gedämpfter klingen als beim ersten Mal, stemmt sie eine Hand in die Hüfte und blickt finster drein, bis sie die Lautstärke hochschrauben und sie auffordern fortzufahren. »Und apropos Geschenke – für alle anwesenden Weihnachtswichtel ist es jetzt Zeit für die Geschenkübergabe. Also, wartet nicht mehr unnötig lang, ihr kennt das Verfahren. Lasst das Geschenkpapier davonflattern !«
Sie gibt Auden das Mikrofon zurück und verlässt die Bühne, während Epitaph den Refrain von We Wish You a Merry Christmas anstimmen, was so ähnlich klingt wie die Version von Weezer, die Jennika auf ihrem iPod hat.
»Und – wie hab ich mich gemacht ?« Lita steht atemlos vor uns, während sie ihre Mütze zurechtrückt.
»Super !«, sage ich.
»Sagenhaft !«, bestätigt Xotichl.
Doch Lita kaut an ihrer Lippe und ist nicht überzeugt.
»Weißt du, ich dachte eigentlich, er würde auftauchen.« Sie verschränkt die Arme und sieht sich rasch nach allen Seiten um. »Cade«, sagt sie und reagiert damit auf meinen fragenden Blick. »Ich spreche von Cade. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Lita, du bist doch nicht … Du bist doch nicht immer noch in ihn verliebt, oder ?« Ich schaue ihr scharf in die Augen und suche nach Anzeichen für einen Seelenverlust, was sie aber lediglich zu provozieren scheint.
»Spar dir deinen bohrenden Blick. Da wird mir ja angst und bange. Aber um deine Frage zu beantworten – nein, ich bin nicht in Cade verliebt. Ganz und gar nicht. Nicht einmal ein winzig kleines bisschen. Aber trotzdem muss ich andauernd daran denken, dass er ganz genau weiß, wie schwer ich für diese Party arbeite. Er weiß, wie viel sie mir bedeutet. Mann, ich organisiere diese Sause, seit ich in der sechsten Klasse war. Und Liebeskummer hin oder her, es ist einfach total unhöflich von ihm, auf mich und meine Party zu pfeifen, als gäbe es uns gar nicht.«
»Vielleicht schmerzt es ihn einfach zu sehr, in deiner Nähe zu sein«, meint Xotichl und versetzt mir heimlich unter dem Tisch einen Tritt, damit ich nur ja mitspiele.
»Ja, vielleicht sollst du nicht sehen, wie es ist, wenn er wirklich geknickt ist ?«, ergänze ich, was mir aber nur einen befremdeten Blick von Xotichl und von Lita einbringt.
»Was soll denn das nun wieder heißen ?« Lita runzelt die Stirn. »Also ehrlich, du bist mir echt ein Rätsel. Es ist doch so: Wenn Cade mir wirklich nachtrauert, dann könnte er wenigstens den Anstand besitzen, hier aufzutauchen und sichtbar zu leiden. Er könnte mir wenigstens die Genugtuung gönnen, es aus nächster Nähe mitzuerleben !«
Xotichl und ich nicken, als könnten wir das mühelos nachvollziehen.
»Tja, wenigstens ist sein Zwilling hier. Das müsste dich doch freuen, oder ?«
Ich folge ihrem Blick dorthin, wo Dace steht – groß, schlank, stark, hinreißend. Sein Blick findet auf der Stelle meinen, und ein unsicheres Lächeln lässt seine Miene aufleuchten.
»Hör mal …« Ich zwinge mich wegzusehen, während ich einen kleinen Umschlag aus der Tasche ziehe und ihn Lita in die Hand drücke. »Ich weiß nicht genau, wie dieses Weihnachtswichteln funktioniert, aber kannst du das Dace geben ?«
Xotichl beugt sich vor und versucht, die Energie des Umschlags zu lesen, während Lita ihn zwischen Daumen und Zeigefinger klemmt. »Was hast du gemacht, Santos ?«, fragt sie mit Verachtung in der Stimme und im Gesicht. »Ihm einen Scheck über zwanzig Dollar ausgestellt ?«
»Bitte !« Ich drehe mich nach Dace um. Er kommt auf mich zu und ist nur noch ein paar Meter weit weg. Dann wende ich mich erneut Lita zu. »Kannst du es ihm bitte geben ?«, wiederhole ich mit gehetzter Stimme.
»Wie du willst. Dein Wunsch ist mir Befehl.« Sie klemmt sich den Umschlag unter den Arm, während ich zur Hintertür rase. »Ach, nur für den Fall, dass du dich das gefragt hast – ich habe mein Geld in diese Stiefel investiert. Cool, was ?«
Doch ich renne einfach nur weiter und kämpfe mich zum Ausgang durch, ehe Dace mich erreichen kann.