Neununddreißig

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Dace

Nachdem ich an meiner Wohnung vorbeigefahren bin und Jeans und einen frischen Pulli angezogen habe, mache ich mich auf zum Rabbit Hole. Ich will das Geld für meine Arbeit abholen, das sie mir noch schulden, ehe ich zu einer letzten Runde mit Cade in die Unterwelt aufbreche.

Zumindest ist das die Lüge, die ich mir selbst erzähle.

In Wahrheit möchte ich auch Daire sehen.

In der Hoffnung, dass Lita und Xotichl sie einladen, an der traditionellen Weihnachtsparty in Enchantment teilzunehmen.

Die kurze Zeit, die wir mithilfe des Raben miteinander verbracht haben, hat in mir Sehnsüchte nach mehr geweckt. Und obwohl ich mir einrede, dass ich mit einem kurzen Blick zufrieden sein werde, einer kurzen Begegnung, bevor ich meiner Wege gehe, zeigt sich in dem Moment, wo ich sie mit lockigem Haar und fröhlichen Augen zusammen mit Lita und Xotichl auf den Eingang zugehen sehe, dass ein bloßer Blick niemals genügen wird.

Sie betritt den Club mit ihren Freundinnen, während ich mich zwinge, stehen zu bleiben – und dafür zu sorgen, dass ich deutlich nach ihr in das Lokal komme.

So herrlich es auch war, ihr Besuch mithilfe des Raben war nicht ohne Risiko. Bis ich meinen Plan verwirklicht habe, ist es unsinnig, ihr nachzujagen. Unsinnig, Cade noch mehr zu stärken, als wir es bereits getan haben.

Doch das hindert mich nicht daran, jeden Quadratzentimeter ihres Körpers mit gierigen Blicken zu verschlingen, während das geflüsterte Mantra bald auf meinen Lippen liegt.

Bald sind wir zusammen.

Bald steht sie an meiner Seite.

Als genug Zeit verstrichen ist, schiebe ich mich am Türsteher vorbei, lehne den lächerlichen Stempel mit dem roten Kojoten ab, den er mir auf die Haut drücken will, und betrete den Club. Ich halte auf die Büroräume hinter der Bar zu und bleibe vor Leandros geschlossener Tür stehen, durch die zwei erboste Stimmen dringen.

Ich presse ein Ohr ans Türblatt, um besser hören zu können, wie Leandro auf mir bisher völlig unbekannte Weise Cade abkanzelt.

»Ich komme in die Stadt zurück und finde das vor ?«

Eine Hand knallt wütend auf die Tischplatte.

Leandros Hand.

Leandros Schreibtisch.

»Was zum Teufel treibst du ? Hast du deinen verdammten Verstand verloren ?«

»Wenn du es mich einfach mal erklären lassen würdest …« Cades Stimme klingt schrill, doch Leandro lässt sein Tonfall kalt.

»Was erklären ? Dass du im Alleingang unseren Reichtum zerstörst ? Alles aufs Spiel setzt, was ich zeit meines Lebens aufgebaut habe ?«

»Aber das ist es doch gerade ! Der Turmalin …«, setzt Cade erneut an, doch er kommt nicht besonders weit, denn Leandro fällt ihm ins Wort.

»Du glaubst, ich bin über den Turmalin nicht im Bilde ? Was zum Henker denkst du dir eigentlich ? Wir beuten ihn schon seit Jahren aus. Was glaubst du, wie die Bergwerke dorthin gekommen sind ? Jedes Mal, wenn wir in die Unterwelt eindringen, schnappen wir uns so viel wir können und horten es, um es in der Zukunft zu verkaufen. Seine Seltenheit ist es ja gerade, was den Preis hochtreibt. Das ist die Philosophie hinter jedem nicht lebenswichtigen Luxusartikel. Du treibst den Preis über seinen realen Wert hinaus in die Höhe, bringst ihn in sehr begrenzten Mengen auf den Markt – und ehe du dichs versiehst, will jeder ein Stück davon haben. Jeder bildet sich ein, er kann sich selbst erhöhen, wenn er genau das besitzt, was alle haben wollen, aber nur wenigen vergönnt ist. Und jetzt kommst du daher und überflutest in deiner Ignoranz den Markt mit Turmalin – damit treibst du den Preis nach unten und untergräbst unseren Reichtum ! Hast du überhaupt eine Ahnung, was für einen Schaden du angerichtet hast ?«

»Du irrst dich«, entgegnet Cade in selbstgefälligem Tonfall. »Das Geld strömt nur so in die Kassen. Und es gibt absolut keine Kosten – die Arbeitskraft ist gratis ! Mich wundert, dass du die Brillanz meines Plans nicht erkennst. Alles ist gut, Dad. Die Unterwelt ist korrumpiert, und bald werden die Mittel- und die Oberwelt folgen. Und nachdem das Geld fließt und die Menschen keine Orientierung mehr haben, wird es nicht lange dauern, bis wir alles beherrschen. Warte nur ein bisschen ab, dann siehst du es.«

»Die Arbeitskraft ist gratis ? Glaubst du das ?« Leandro schnaubt empört. »Das Rabbit Hole ist eine Bar, Cade ! Und der Erfolg dieser Bar hängt von der Anzahl der Trinker ab, die sich Tag für Tag dort aufhalten. Trinker, die du, wie ich höre, für deine eigenen lächerlichen Zwecke gekidnappt hast. Du zerstörst also nicht nur das Turmalingeschäft, sondern nimmst die Bar gleich mit.«

»Aber Dad …«

»Jetzt pass mal auf, du hörst auf der Stelle mit diesem Unsinn auf. Du hast nicht nur den Wert der Steine derart ruiniert, dass sich der Preis jahrelang nicht erholen wird, sondern du wirst, wenn du der Sache nicht sofort ein Ende machst, noch den gesamten Wert dieser Stadt zerstören. Hast du eine Ahnung, wie hart ich dafür arbeite, uns aus der Schusslinie zu halten ? Hast du irgendeine Ahnung, warum ich das tue ? Du bildest dir ein, du hättest mir so viel voraus, weil dein Ehrgeiz weiter reicht – dabei lässt du eine Spur verbrannter Erde hinter dir, die ich womöglich nie wieder tilgen kann. Es hätte uns gerade noch gefehlt, wenn der Blick der Welt sich auf Enchantment richtet. Nachdem die Bevölkerung immer weiter abnimmt, was glaubst du, wie lange wir all die Verschwundenen aus den Nachrichten halten können ? Überall vor dem Lokal hängen Bilder der Vermissten. Und das liegt alles an dir und deinem lächerlichen, unreifen, schwachsinnigen Plan !«

»Aber Dad, hör doch einfach mal …«

»Raus !«

»Was ?« Cades Stimme ist ein Mittelding zwischen Jaulen und Wimmern.

»Sofort ! Raus ! Verschwinde aus meinem Büro und aus meinen Augen. Und komm nicht wieder, ehe du dieses Chaos nicht bereinigt hast.«

Ein lautes Knurren ertönt. Das unheimliche, vertraute Geräusch wird durch Leandros Stimme gekappt. »Und komm bloß nicht auf die Idee, dich vor mir oder vor irgendjemand anders zu verwandeln. Du hast für einen Abend genug Ärger gemacht. Reiß dich zusammen.«

Die Tür knallt ins Schloss, aber erst als ich zurückgewichen bin und mich dicht an die Wand gepresst habe. Ich bleibe unbemerkt, als Cade aus Leandros Büro stürmt, dermaßen außer sich, dass sein ganzer Körper vor Wut zittert.

Er kämpft dagegen an. Ringt darum, es aufzuhalten. Es in den Griff zu kriegen. Wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, Leandro zu besänftigen.

Doch es ist schon zu weit fortgeschritten. Das Verwandeln hat sich derart verselbstständigt, dass es nicht mehr seiner Kontrolle untersteht. Er schafft es kaum den Korridor entlang, als er sich in das Monster verwandelt, das ich schon kenne.

Das Monster, auf das ich gehofft hatte.

Ich schaue konzentriert auf seinen Rücken und kneife die Augen zusammen, bis ich mich in seine Haut projiziert habe. Dann vollführe ich den Seelensprung, wie ihn mich Leftfoot gelehrt hat. Tauche in Cades Abgründe und erforsche jede dunkle Facette, jeden in Finsternis getauchten Winkel. Bis ich sprachlos bin angesichts des tristen und hoffnungslosen Zustands seiner Seele.

Gesteuert von seinen archaischsten, ungezügeltsten Trieben, zu morden und zu metzeln, zu erobern und zu ersticken, wirkt er auf den ersten Blick animalisch – wie ein ganz alltägliches Raubtier. Doch ein gründlicherer Blick enthüllt ein rasendes Verlangen nach persönlicher Erhöhung und Selbstverherrlichung, das ihn gefährlich menschlich macht.

Ich ziehe meinen Besuch in die Länge – dehne und recke mich und mache es mir in seiner Haut bequem. Erkunde die Rohheit seiner Wut, den Kern seiner Bösartigkeit, die nackte Brutalität, die alle seine Handlungen antreibt. Und trotz meines anfänglichen Widerwillens, trotz meines absoluten Grauens angesichts all dessen, was ich sehe, kümmere ich mich darum, mir ein ordentliches Stück dieser Dunkelheit anzueignen. Ich muss es untersuchen – es begreifen, um es besiegen zu können.

Mein Körper wehrt sich dagegen, will es abwehren und unsere Verbindung ein für alle Mal kappen. Doch meine Entschlossenheit, mir die Macht meines Bruders einzuverleiben, mich von seiner Niedertracht durchströmen zu lassen, erringt die Oberhand. Und je länger ich bleibe, desto mehr kann ich mir aneignen, bis der Strom seiner Kraft eine Wahrheit enthüllt, über die ich zuvor nur spekulieren konnte.

Genau wie er meine Antriebskraft, meine Liebe zu Daire, anzapfen kann, kann ich das unverfälschte Böse anzapfen. Und genau das tue ich. Ich sauge auf, so viel ich kann, wobei ich genau weiß, dass die Macht, die ich raube, Macht ist, die mein Bruder nicht mehr gegen Daire einsetzen kann.

Mein Körper windet sich in Zuckungen. Das Blut rast durch meine Adern, verbrennt und kocht mein Inneres und hinterlässt eine grässliche Pockennarbe auf meiner Haut. Der Schmerz ist so entsetzlich, dass ich nur stolpernd vorwärtskomme und mir den Bauch halten muss. Keuchend und schlotternd, außerstande, meinen hechelnden Atem auf Normalmaß zu bringen, schließe ich die Augen und warte, dass es vorbeigeht. Ich muss es bis zum bitteren Ende durchstehen. Keinesfalls werde ich aufgeben. Jetzt, wo mich die Kraft meines Bruders durchströmt, hat sich mein ursprünglicher Plan geändert. Statt ihm die Kraft zu rauben, um ihn zu schwächen, werde ich das, was ich ihm genommen habe, benutzen, um ihn zu zerstören.

Leftfoots Warnung hallt aus der Ferne in meinem Kopf wider: Du darfst die Gabe nie missbrauchen. Niemals. Ich kann das gar nicht genug betonen. Du benutzt die Gabe ausschließlich dann, wenn du der festen Überzeugung bist, dass es sein muss. Zuerst musst du alle anderen Optionen ausschöpfen. Es darf nur ein letzter Ausweg sein.

Das hier ist ein Notfall. Der einzige Ausweg, der mir bleibt.

Der einzige Weg, um Cade zu besiegen, besteht darin, sich ein Stück von Cade anzueignen – Cade zu werden –, wenn auch nur vorübergehend.

Es ist wie die Lektion, die Leftfoot unwissentlich mit mir geteilt hat: Manchmal musst du dich in die Finsternis wagen, um das Licht zutage zu fördern.

Und genau das tue ich. Es ist der letzte Anstoß für die Entscheidung, die ich in der Schwitzhütte getroffen habe. Mich ins Dunkel zu wagen, um Daire zu retten – das Licht meines Lebens.

Es ist ein Risiko.

Ein Risiko, bei dem meine eigene Seele auf dem Spiel steht.

Doch kein Preis ist zu hoch, um Daire zu retten.

Außerdem habe ich nicht die Absicht zu verlieren.

Sobald es vollbracht ist, stoße ich den Schatten meines Bruders ab und kehre zu mir selbst zurück.

Nur besser.

Reiner.

Denn dann werde ich mich dem schlimmsten aller Männer gestellt und überlebt haben, um davon zu künden.

Ich hebe den Kopf und verfolge, wie mein Bruder auf das Portal zuhält. Der Anblick lässt mein Blut abkühlen und meinen Puls gemächlicher gehen, und sowie er durch die Wand bricht, ist unsere Verbindung gekappt.

Abgesehen von dem Teil von ihm, der tief in mir steckt.

Ich stehe vor Leandros Tür und nehme mir kurz Zeit, um mich zu zentrieren. Und als ich wieder der Dace bin, den alle kennen und erwarten – zumindest an der Oberfläche –, trete ich ein und übernehme den Platz meines Bruders vor Leandros Schreibtisch.