Eins
Daire
Pferd trägt uns über eine weite Landschaft, während Rabe hoch oben auf seinem Nacken thront. Mit gemessenen Schritten. Sicher. Das Geräusch seiner Hufe, die beim Auftreffen auf der Erde ein sattes Scharren und Knirschen erzeugen, gibt mir immer das Gefühl, dass wir weiterkommen. Fortschritte machen. Obwohl wir bereits seit Wochen auf der Jagd sind, ohne den Feind zu Gesicht bekommen zu haben.
So nenne ich sie – den Feind. Manchmal bezeichne ich sie auch als Eindringlinge oder gar Invasoren. Und wenn mir nach einem besonders langen Tag auf der Jagd nach schlagkräftigeren Worten zumute ist, nenne ich sie Todfeinde.
Doch ich nenne sie nie bei ihrem richtigen Namen.
Ich nenne sie nie die Richters.
Sie mögen untote Richters sein, aber sie sind dennoch Richters, und Paloma hat mich davor gewarnt, Dace von seiner finsteren Abstammung zu unterrichten. Sie hat behauptet, er brauche nicht zu wissen, dass seine Existenz auf Magie der schwärzesten Sorte zurückgeht. Und obwohl ich mir beim Gedanken daran, dass ich eine so schreckliche Tatsache für mich behalte, bestenfalls unaufrichtig und schlimmstenfalls treulos vorkomme, muss ich trotzdem zugeben, dass meine Großmutter recht hat.
Wenn es ihm jemand sagen sollte, dann Chepi, seine Mutter. Doch sie hat bisher geschwiegen.
Ich lockere den Griff um Daces Taille und sehe mich seufzend um. Vor mir erstreckt sich eine mit glänzendem, hohem Gras bestandene Fläche, dessen Halme sich unter Pferds Huftritten biegen. Ein Wäldchen aus hohen Bäumen liegt dahinter und bietet Vögeln, Affen und ein paar Eichhörnchen auf der Suche nach Nüssen Schutz. Angestrengt spähe ich durch das schwindende Licht des Nachmittags – suchend, stets suchend. Doch wie immer gibt es keinen Hinweis auf irgendeine Störung, keinen Hinweis auf ihre Anwesenheit.
Vielleicht hat die Knochenhüterin sie gefunden ?
Ich klammere mich fest an den Gedanken, er gibt mir ein gutes Gefühl. Ich will ihn nicht loslassen, ganz egal, wie unwahrscheinlich er auch ist. Obwohl ich keinerlei Zweifel daran hege, dass die Königin der Unterwelt mit ihrem Schädelgesicht, ihrem Rock aus Schlangen und ihrer Gewohnheit, Sterne zu verschlingen, sie schnappen, wenn nicht gar auslöschen kann, weiß ich doch ebenso, dass es nicht so einfach werden wird.
Nachdem ich dieses Unheil ausgelöst habe, muss ich es auch wieder in Ordnung bringen.
»Trotzdem kommt es mir sonderbar vor.« Ich presse Dace die Lippen auf den Nacken, sodass meine Worte durch seine dunkle, glänzende Mähne gedämpft werden. »Du weißt schon, der ewige Zyklus von Nacht und Tag. Es erscheint mir zu normal, zu gewöhnlich für einen solch außergewöhnlichen Ort.«
Ich studiere den spätnachmittäglichen Schatten, der uns zu verfolgen scheint. Die unwirkliche, lang gezogene Silhouette eines Raben mit einem spindeldürren Hals und zweier lächerlich großer Menschen, rittlings auf einem Pferd, dessen Beine so lang und dünn sind, dass sie uns allem Anschein nach kaum zu tragen vermögen. Die verzerrte Kontur kündigt den baldigen Anbruch der Nacht an.
Allerdings ist das, was in der Unterwelt als »Nacht« gilt, kaum mehr als ein mattes Dämmern, ganz anders als die tiefdunkle Schwärze des sternenübersäten Nachthimmels von New Mexico, an die ich mich inzwischen gewöhnt habe. Trotzdem freue ich mich über ihr Kommen. Ich bin froh, dass der Tag sich zum Ende neigt.
Ich setze meinen Gedankengang fort. »Ganz zu schweigen davon, dass nirgends eine Sonne zu sehen ist – wie kann das überhaupt sein ? Wie kann sie auf- und untergehen, wenn sie gar nicht existiert ?«
Dace lacht, und es klingt so tief, so heiser und so verführerisch, dass ich mich immer fester an ihn drücke, bis es nicht mehr enger geht. Ich will mich unbedingt an jede Senke und jede Biegung seines Rückens schmiegen, da er mich ebenso intensiv spüren soll wie ich ihn.
»Oh, es gibt durchaus eine Sonne.« Er dreht den Hals, bis er mich anschauen kann. »Leftfoot hat sie gesehen.« Seine eisblauen Augen sehen in meine und reflektieren mein langes, dunkles Haar, meine hellgrünen Augen und den blassen Teint, bis ich mich abwende, da sein Blick mich schwindelig macht.
»Und du glaubst ihm ?« Ich runzele die Stirn, außerstande, den skeptischen Unterton aus meiner Stimme herauszuhalten. Bestimmt ist das nur wieder eine der vielen fantastischen Geschichten, die der alte Medizinmann Dace erzählt hat, als er noch ein Kind war.
»Natürlich.« Dace zuckt die Achseln. »Und wenn wir Glück haben, sehen wir sie vielleicht auch irgendwann.«
Ich reibe die Lippen aneinander und schiebe ihm eine Hand unter den Pulli. Meine Finger sind kalt, seine Haut ist warm, trotzdem zuckt er kein bisschen zusammen, sondern heißt meine Berührung willkommen, indem er sich meiner Handfläche entgegendrängt.
»Das Einzige, was ich momentan sehen möchte, ist …« Ich versuche, mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren, derentwegen wir hierher aufgebrochen sind, doch der Gedanke verklingt ebenso wie meine Worte.
Offenbar spürt Dace meine Stimmung, denn im nächsten Moment lässt er Pferd wenden. Lenkt ihn zurück über den weiten, grasbewachsenen Abhang, hin zu einem unserer Lieblingsorte.
Ich vergrabe die Knie in seiner Kniekehle. Dabei kämpfe ich gegen den Ansturm von Schuldgefühlen, die mich stets nach einer langen, fruchtlosen Jagd überkommen. Ich habe Paloma versprochen, dass ich sie finde – und vertreibe. Ich habe geschworen, dass ich die Richters aus der Unterwelt werfe, ehe sie dazu kommen, irgendeinen Schaden anzurichten, der auch Mittel- und Oberwelt in Mitleidenschaft ziehen würde.
Ich dachte, es wäre leicht.
Dachte, in einem herrlichen Land voller üppigem Blattwerk und liebevollen Geisttieren würden diese untoten Freaks auf übelste Art und Weise hervorstechen.
War überzeugt, dass Dace und ich sie mit vereinten Kräften locker überwältigen könnten.
Doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
»Keine Angst«, sagt Dace, und seine Stimme klingt ebenso zuversichtlich wie seine Worte. »Gemeinsam finden wir sie.« Er fängt meinen zweifelnden Blick auf. »Weißt du es denn nicht ?«, fügt er hinzu. »Die Liebe besiegt alles.«
Liebe.
Mir stockt der Atem, und meine Augen werden weit, während jede Erwiderung in meiner plötzlich trocken gewordenen Kehle stecken bleibt.
Er zerrt an Pferds Zügeln und bringt ihn dicht vor der verzauberten Quelle zum Stehen, ehe er mir herunterhilft und meine Hände mit seinen umfasst. »Zu früh ?«, fragt er, da er mein Schweigen offenbar falsch auslegt.
Ich räuspere mich und möchte ihm gerne sagen, dass es überhaupt nicht zu früh ist. Dass ich es in der ersten Nacht wusste, als er mir in meinen Träumen erschienen ist. Dass ich ihn an jenem Tag gespürt habe, als ich ihm beim Rabbit Hole begegnet bin – den Strom der bedingungslosen Liebe, die zwischen uns fließt.
Ich wünschte, ich könnte es einfach sagen – ihm gestehen, dass es mich zugleich erschreckt und beglückt. Dass von ihm geliebt, aufrichtig geliebt zu werden, das Wundervollste ist, was mir je passiert ist.
Ich sehne mich danach, ihm anzuvertrauen, dass ich mich in seiner Nähe immer fühle, als wäre ich mit Helium gefüllt – als würden meine Füße nicht mehr die Erde berühren.
Wir sind füreinander bestimmt.
Schicksalhaft verbunden.
Doch obwohl ich bereits seit einigen Wochen seine Freundin bin, wurde das Wort Liebe soeben zum allerersten Mal ausgesprochen.
Dace wirft mir einen so verträumten Blick zu, dass ich mir sicher bin, er wird sie jetzt sagen – jene drei gar nicht so kleinen Worte –, und ich bereite mich darauf vor, sie auch selbst zu äußern.
Doch er wendet sich einfach stehenden Fußes um und geht auf die sprudelnd heiße Quelle zu, auf deren Oberfläche ein feiner Sprühnebel dampft. Ich bin enttäuscht darüber, dass der Moment ungenutzt verstrichen ist – aber dennoch unerschütterlich von seiner Wahrheit überzeugt.
Wir ziehen uns aus, bis Dace nur noch seine marineblaue Badehose anhat und ich in dem schlichten schwarzen Bikini fröstele, den ich darunter trage. Ich gleite ins Wasser, direkt gefolgt von Dace, wobei mein Herz vor Vorfreude rast, als ich auf die breite Felsbank zuhalte. Ich weiß, dass die Jagd fürs Erste beendet ist – und der Spaß beginnt.
Ich lächele schüchtern. Gebannt vom Anblick seiner starken, breiten Schultern, der glatten, braunen Haut und der Verheißung seiner Hände, die locker seitlich herabhängen. Ich frage mich, ob ich mich je daran gewöhnen werde – an ihn gewöhnen werde. So viele Küsse haben wir schon gewechselt, dennoch kommt es mir jedes Mal, wenn er mir nahe ist, jedes Mal, wenn wir alleine sind, so vor, als wäre es das erste Mal.
Das Wasser reicht uns bis zur Brust, während sich unsere Lippen aufeinanderpressen und miteinander verschmelzen und unser Atem eins wird. Mit den Fingern erkunde ich sein kantiges Kinn, fahre über den Anflug von Bart, der mir zart auf der Haut kratzt, während er mit den Bändern meines Bikinioberteils spielt. Dabei achtet er sorgsam darauf, das Wildlederbeutelchen an meinem Hals nicht zu berühren, da er weiß, dass es die Quelle meiner Kraft birgt oder zumindest eine davon – und dass sein Inhalt nur von Paloma und mir gesehen werden darf.
»Daire …« Mein Name ist ein Flüstern, rasch gefolgt von einer Spur von Küssen, die er über meinen Hals zieht, über meine Schulter und noch weiter hinab, während ich die Augen schließe und scharf den Atem einsauge. Hin- und hergerissen zwischen dem Reiz seiner Berührung und der Erinnerung an einen schrecklichen Traum, der sich genau in dieser Quelle abspielte – in einem Moment, der diesem sehr ähnlich war.
Ein Traum, in dem sein Bruder in unser Paradies einbrach – und Dace sowohl die Seele stahl wie auch das Leben, während ich nur zusehen konnte.
»Was ist denn ?« Er spürt meine veränderte Stimmung und hebt den Blick zu mir.
Doch ich schüttele nur den Kopf und ziehe ihn wieder an mich, da ich keinen Grund sehe, es ihm zu verraten. Keinen Grund, den Augenblick zu zerstören, indem ich Cade erwähne.
Sein Atem geht schneller, als seine Lippen erneut auf meine treffen. Und als er mich auf seinen Schoß hebt, habe ich das vage Gefühl, dass etwas Fremdes, Glitschiges über meinen Fuß gleitet.
Ich versenke mich in den Kuss, entschlossen, es zu ignorieren, ganz egal, was es war. Das hier ist eine heiße Quelle – eine verzauberte heiße Quelle, aber dennoch eine heiße Quelle. Wahrscheinlich war es nur ein Blatt oder eine abgefallene Knospe aus dem Baldachin aus Ranken, der sich über uns erstreckt.
Ich konzentriere mich auf das Gefühl seiner Lippen, die sich hart auf mein Fleisch pressen, und drücke mich fest an ihn. Gerade schlinge ich die Beine um seine, als ein zweites glitschiges Objekt an meiner Hüfte vorbeigleitet, ehe es neben mir an die Oberfläche kommt und dabei ein hörbares Ploppen verursacht, bald gefolgt von einem zweiten.
Und einem dritten.
Bis der Chor von Gegenständen, die ploppend an die Oberfläche kommen, uns zwingt, uns voneinander zu lösen. Uns zwingt, den voneinander verklärten Blick freizublinzeln und voller Entsetzen zuzusehen, wie sich die Quelle mit aufgedunsenen, leblosen Fischen mit weit klaffenden Mäulern füllt, die uns aus leeren Augenhöhlen vorwurfsvoll anstarren.
Ehe ich aufschreien kann, reißt mich Dace in seine Arme und zerrt mich aus dem Becken. Er drückt mich fest an seine Brust, während wir beide atemlos und entsetzt auf eine Wahrheit blicken, die sich nicht leugnen lässt.
Die Feinde laufen immer noch frei herum – gesund und munter – und zersetzen die Unterwelt.
Und wenn wir sie nicht bald finden, werden sie auch die anderen Welten zersetzen.