Zwanzig

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Daire

Sowie wir Jennika sehen, die mit ihrem Auto vor Palomas Haus geparkt hat, stöhnen wir beide auf – eine lauter als die andere.

»Toll. Geht es also schon los mit dem Feuer.« Ungläubig beobachte ich, wie meine Mutter, an einen unspektakulären Mietwagen gelehnt, dasteht und zornig Ziffern in ihr Handy eingibt. Wahrscheinlich ruft sie bei mir an und erreicht nur die Mailbox, da mein Telefon den größten Teil des Tages ausgeschaltet war.

Als sie uns kommen hört, hebt sie das Kinn. Ihr Gesichtsausdruck wechselt von wütend zu erleichtert, ehe er sich bei total verdrossen einpendelt. »Hallo, Daire«, sagt sie und kommt zu mir herüber. Sie breitet die Arme weit zu einer Umarmung aus, obwohl ihr Auftreten alles andere als einladend auf mich wirkt. »Wo zum Teufel bist du gewesen ?« Abrupt lässt sie mich los. »Ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen. Bin sogar an deiner Schule vorbeigefahren, nur um dort zu erfahren, dass du überhaupt nicht aufgetaucht bist. Ich habe mir entsetzliche Sorgen gemacht !« Sie greift nach meinem Zopf und runzelt die Stirn, als ihre Finger nass werden. Schließlich verlagert sie ihre Wut auf Paloma. »Na ?«, knurrt sie sie an.

»Bitte komm doch rein.« Paloma schlägt einen Bogen um Jennika und geht auf die Haustür zu. »Ich mache uns Tee und etwas zu essen, und dann können wir uns alle zusammensetzen und reden. Schön, dich zu sehen.« Sie lächelt Jennika an, doch die schnaubt nur.

Ich werfe Paloma einen verstohlenen Blick zu, der voller Fragen steckt. Wie ist es dazu gekommen ? Wie konnte meine Mom in Enchantment auftauchen, ohne dass ich davon wusste – ohne jegliche Vorwarnung ? Doch Paloma scheint ebenso ahnungslos zu sein wie ich.

»Was willst du hier ?«, frage ich, während ich mich auf einen Stuhl am Küchentisch niederlasse und Jennika bedeute, sich ebenfalls zu setzen, was sie widerwillig tut.

»Ich wollte dich überraschen. Und nach deinem entsetzten Gesichtsausdruck zu urteilen, als du mich gesehen hast, ist mir das auch gelungen.«

Ich ringe um ein Lächeln. Versuche, so zu tun, als wäre ich nicht annähernd so entsetzt, wie sie glaubt. Ein wenig überrascht, aber in erster Linie froh darüber, sie zu sehen.

Was ich auch bin.

Oder zumindest hätte ich es mit einer kleinen Vorwarnung sein können, einem bisschen Vorbereitungszeit. Aber schließlich war Jennika noch nie der Typ, der vorher anruft. Sie liebt Überraschungsangriffe.

»Was ist los, Daire ?« Ihre grünen Augen, fast exakte Ebenbilder der meinen, mustern mich auf diese alles wissende, alles sehende mütterliche Art, bei der mir regelmäßig mulmig wird.

»Warum bist du nicht bei der Arbeit ?«, erwidere ich und nehme den Becher Tee entgegen, den Paloma vor mich hinstellt. So habe ich wenigstens etwas zum Anschauen.

»Wir machen über die Feiertage Pause. Also dachte ich, ich besuche dich mal.«

»Du bleibst über Nacht hier ?«, frage ich und bedauere auf der Stelle meine erschrockene Miene und meinen panischen Tonfall.

Ganz cool, Daire. Lass sie bloß nicht ahnen, dass du in Aktivitäten verstrickt bist, die sie nie gutheißen würde.

»Ich habe mir in der Stadt ein Zimmer genommen.« Sie tippt mit dem Daumen gegen die Teetasse, wobei der Silberring, den ich ihr zum Muttertag geschenkt habe, ein dumpf schepperndes Geräusch erzeugt.

»In Enchantment gibt es Zimmer ?« Ich blinzele und versuche mir vorzustellen, wer hier eigentlich übernachten wollen könnte. Wer würde freiwillig nach Enchantment kommen und dann auch noch die Nacht hier verbringen ?

»Ja, aber weiß Gott nichts Großartiges.«

Sie zupft an ihrem Haar, wobei mir die blond gebleichten Strähnchen wesentlich goldfarbener vorkommen als das extreme Platinblond, das ich in Erinnerung habe. Und ihr Teint, der normalerweise ebenso blass ist wie meiner, hat eine leichte Bräunung angenommen. Das muss der L.-A.-Effekt sein – die Folge davon, dass sie jetzt dauerhaft in Kalifornien lebt, wo immer die Sonne scheint.

Zumindest denke ich das, bis ich ein paar zarte Fältchen auf ihrer Stirn entdecke und begreife, dass sie kein annähernd so ruhiges Leben führt, wie ich dachte. Auch wenn sie zum ersten Mal seit langer Zeit eine feste Adresse und einen festen Arbeitsplatz hat, war es ein hartes Jahr für sie, mit so vielen Veränderungen, dass man kaum mehr mit Zählen nachkam. Und es waren nicht alles Veränderungen zum Guten.

Manchmal vergesse ich, wie schwer es für Jennika gewesen ist, mir nicht nur beim Umgang mit Dingen zusehen zu müssen, die sie nicht verstehen kann – und eigentlich auch nicht will –, sondern mich auch in der Obhut einer Frau zu lassen, die sie gar nicht so besonders gut kennt.

Sie macht sich Sorgen.

Sie meint es gut.

Und je länger sie bleibt, desto mehr muss ich das berücksichtigen.

»Ich wollte mich dir und Paloma nicht aufdrängen«, fährt sie fort. »Aber jetzt glaube ich fast, ich sollte es tun.«

Toll. Ich starre in meinen Tee, während sie wiederum mich anstarrt. Sie hätte sich mal wieder keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Irgendein verrückter mütterlicher Instinkt muss ihr genau den richtigen Moment zum Eingreifen eingeflüstert haben. Anders lässt es sich nicht erklären.

»So, und nachdem ich jetzt deine Frage beantwortet habe, ist es höchste Zeit, dass du meine beantwortest. Was ist mit der Schule ? Warum warst du heute nicht dort, obwohl du abgesehen von deinem unerklärlicherweise nassen Haar einen völlig gesunden Eindruck machst ? Wo wart ihr beiden überhaupt ? Was ist los, Daire ?«

Ich schaue Hilfe suchend zu Paloma, doch sie ist an den Herd zurückgekehrt und dreht uns den Rücken zu, während sie etwas zu essen zubereitet.

Ich beschließe, Jennikas Trommelfeuer von Fragen auf einmal zu beantworten. »Ich brauchte einen Tag für meine seelische Gesundheit, also hat Paloma einen Ausflug mit mir gemacht. Sie meinte, ein paar Stunden an der frischen Luft würden mir guttun.« Die Antwort ist nicht übel und kommt der Wahrheit so nahe, wie ich es mir leisten kann.

»Was meinst du mit einen Tag für deine seelische Gesundheit ? Sind die Visionen zurückgekommen ?« Jennika erbleicht, während sie an die Halluzinationen denkt, die mich hierhergeführt haben. Doch ich winke rasch ab, da ich auf dieses Thema nicht noch einmal eingehen will.

»Nein. Nichts dergleichen. Ich habe nur … Na ja, die Schule ist etwas völlig Neues für mich, wie du weißt, und da muss ich mich erst daran gewöhnen, das ist alles.«

»Geht es um diesen Jungen ?« Sie runzelt die Stirn und verzieht das Gesicht, wobei der Diamantstecker in ihrer Nase immer wieder aufblinkt.

»Mit diesen Jungen meinst du wohl Dace ?« Ich sehe sie mit zusammengekniffenen Augen an, denn ich weiß ganz genau, dass sie sich an seinen Namen erinnert.

»Dace Whitefeather, ja. Also – geht es um ihn ? Ist zwischen euch etwas passiert ?«

Ich lehne mich zurück, da ich die Sache eigentlich nicht diskutieren will, aber ich weiß auch, dass sie nicht so ohne Weiteres lockerlassen wird. Jennika ist wie ein Pitbull. Sie würde mit Freuden den ganzen Abend hier sitzen bleiben und auf die Antwort warten, die sie haben will. Sie kann unglaublich stur sein. Das weiß ich, weil sie diejenige ist, die mich gelehrt hat, ebenfalls unglaublich stur zu sein.

Ich seufze, da mir bereits vor ihrer Reaktion graut. »Wir sind momentan eigentlich gar nicht zusammen. Wir machen eine Pause.«

»Eine Pause ?« Misstrauisch legt sie den Kopf schief.

»Eine kurze Pause.« Ich nicke. Innerlich verdrehe ich die Augen über mich selbst, da ich weiß, dass es das in ihren Ohren weder einen Deut besser noch glaubwürdiger macht.

»Und wessen Entscheidung war das – diese kurze Pause einzulegen ?« Sie faltet die Hände vor sich auf dem Tisch und wartet darauf, dass ich ihr die ganze grässliche Geschichte erzähle.

Ich hole tief Luft und will eigentlich sagen, dass es meine war, doch das glaubt sie mir nie. Sie kennt mich zu gut. Sie wird die Lüge spüren, sowie sie mir über die Lippen geht. Also bleibe ich bei der Wahrheit – oder zumindest einer Teilwahrheit. »Seine. Es war seine Idee.« Ich kann mir einen bissigen Kommentar nicht verkneifen: »Jetzt zufrieden ?« Dabei weiß ich ganz genau, dass sie das ist. Sie liebt es, recht zu behalten. Wie die meisten Menschen.

Sie kann das selbstzufriedene Strahlen nicht unterdrücken. »Eine kurze Pause – und das so kurz vor Weihnachten – wie reizend.« Sie schüttelt den Kopf und tippt mit ihren kobaltblau lackierten Nägeln hart gegen die Tischplatte. »Heißt das, ihr findet euch nach Neujahr wieder zusammen ? Oder vielleicht verschiebt ihr es auch bis nach dem Valentinstag, damit ihr sämtliche romantischeren Feiertage sicher umgangen habt ?«

Ich starre in meinen Tee. Wenn es nur so einfach wäre.

Sie seufzt lang und laut, als wäre es ihr eine schwere Bürde, immer recht zu haben. Als sie erneut das Wort ergreift, spricht sie in einem süßlichen Singsang. »Also, ich sage es dir ja wirklich nur ungern, dass ich mir das gleich gedacht habe …«

»Nein, das tust du nicht.« Ich beuge mich zu ihr vor. »Du sagst es überhaupt nicht ungern. Du lebst doch praktisch für diese Worte.«

Sie mustert mich. Wahrscheinlich will sie ergründen, ob ich wütend, belustigt oder gleichgültig bin. Doch bei diesem Gedanken hält sie sich nur ein paar Sekunden lang auf. »Stimmt.« Theatralisch hebt sie die Schultern und lässt sie wieder fallen. »Aber in diesem speziellen Fall wäre es schön gewesen, nicht recht zu haben. Ich weiß, du glaubst mir nicht, Daire, aber es tut mir aufrichtig leid, und ich verstehe wirklich, was du durchmachst. Dace war dein erster richtiger Freund, aber er wird nicht dein letzter sein. Deshalb ist es zwar jetzt ein schlimmes Gefühl …«

»Würdest du das bitte lassen ?«, sage ich. Ihre verwirrte Miene lässt mich nahtlos weitersprechen. »Würdest du mir bitte nicht mit solchen Sprüchen kommen, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben und es noch mehr Fische im Meer oder andere Hähne auf dem Hühnerhof gibt und dergleichen, sondern mir einfach meinen Liebeskummer lassen ? Wie du schon gesagt hast, ist es meine erste Trennung, also lass sie mich bitte voll und ganz auskosten, ehe du mich auf einen Phantomjungen zuschiebst, den ich jetzt noch überhaupt nicht kennenlernen will, okay ?«

Ich rutsche auf dem Stuhl nach unten und staune darüber, wie gebrochen meine Stimme am Ende klang. Eigentlich wollte ich nur brav mitspielen und ihr sagen, was sie hören wollte, indem ich so tat, als wäre es tatsächlich so einfach, wie sie glaubt. Nichts als eine ganz gewöhnliche Schülerliebe, die plötzlich in die Brüche gegangen ist – und das nur, damit Dace sich die Mühe sparen kann, mir ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Doch je länger ich gesprochen habe, desto realer wurden die Worte. Und es dauert nicht lange, da setzt meine Paranoia ein.

Was, wenn es nicht nur eine kurze Pause ist ?

Was, wenn ich keinen Weg finde, um den Fluch des Echos zu überwinden ?

Was, wenn ich Cade nicht besiegen kann ?

Wie viele Menschen müssen dann wegen meines Versagens leiden ?

Jennika macht sich an meinen Haaren zu schaffen. Sie löst meinen Zopf und glättet die einzelnen Strähnen, ehe sie sie mir in sanften Wellen über den Rücken streicht. »Ich würde dich ja zum Eisessen ausführen, gefolgt von einer starken Dosis Shoppingtherapie, was, wie du weißt, so ziemlich die beiden besten Heilmittel für ein gebrochenes Herz sind. Nur leider sitzen wir hier in diesem Kuhkaff fest, wo es keine coolen Läden gibt.« Sie sieht zu Paloma hinüber. »Nicht böse sein«, bittet sie, doch Paloma winkt nur ab und kocht weiter. »Und auch wenn ich keine Eiscreme für dich einpacken konnte, hab ich es doch geschafft, dir ein bisschen Shoppingtherapie mitzubringen.« Jennika kniet sich neben mich und lächelt so strahlend, dass es quasi einer Aufforderung gleichkommt, genauso strahlend zurückzulächeln.

Also tue ich es.

Jennika bemüht sich um mich.

Jennika tut ihr Bestes, um mir zu zeigen, dass sie mich versteht.

Jennika ist entschlossen, mich aus meiner schlechten Stimmung herauszuholen.

Also kann ich wenigstens nachgeben.

»Ich wollte die Sachen eigentlich für Weihnachten aufheben, aber es spricht ja nichts dagegen, sie dir gleich zu geben.« Sie kramt in einer Tasche herum, die sie neben ihrem Stuhl abgestellt hat, und entnimmt ihr einen verborgenen Schatz aus Designer-Jeans und ein paar dazu passenden stylischen Tops sowie einer Handvoll Silberschmuck und einem Paar neuer schwarzer Stiefel. Alles ausgesucht mit Jennikas unglaublichem Gespür dafür, was trendy und cool ist.

Obwohl mich der Anblick der Sachen nicht ganz auf dieselbe Art aufheitert wie sonst, tue ich doch so, als wäre alles wie immer, indem ich mir mehrere Ringe an die Finger stecke und lächele, als Jennika eine schicke rote Wolljacke herauszieht, die sie Paloma schenkt.

Erleichtert stelle ich fest, dass ihr Argwohn sich fürs Erste gelegt hat. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis Jennika erneut auf die Pirsch geht, entschlossen, mir eine Erklärung darüber abzuringen, was Paloma und ich gemacht haben.