Zwei
Hast du’s ihr gesagt ?« Dace zeigt auf Palomas blaues Gartentor, als ich in seinen alten Pick-up steige und es mir neben ihm bequem mache.
»Noch nicht.« Ich kaue an der Innenseite meiner Wange und wende den Blick ab. Er grummelt leise und fährt los. Ich interpretiere sein Brummen dahingehend, dass er Folgendes gemeint hat: Ich weiß ja nicht, ob ich mit deinen Methoden einverstanden bin, aber du hast bestimmt deine Gründe.
Dace urteilt nicht.
Er ist so nett, freundlich und tolerant, dass er nicht einmal auf die Idee käme.
Er ist die buchstäbliche Verkörperung des Guten.
Das Ergebnis einer gespaltenen Seele – er hat die reine Hälfte bekommen –, das Gegenteil seines Zwillings. Dagegen ist meine eher von durchschnittlicher Art und birgt verschiedene Schattierungen von Hell und Dunkel, sodass sie entsprechend den Umständen einmal zum einen und einmal zum anderen neigt.
»Ich wollte ja«, sage ich, wobei meine Stimme zu schrill wird, um überzeugend zu klingen, doch das hält mich nicht auf. »Als du mich abgesetzt hast, hatte sie eine Patientin da – sie empfängt jetzt wieder welche –, und als sie fertig war, habe ich schon geschlafen.«
»Und heute früh ?« Er sieht mich mit zuckenden Mundwinkeln an, da er weiß, dass Paloma eine glühende Verfechterin einer vernünftigen Ernährung ist. Es ist so ziemlich das Herzstück ihres Lebensplans, jeden Tag mit einem gesunden Frühstück zu beginnen. Ich hätte dem Thema – beziehungsweise ihr – nur ausweichen können, indem ich mich komplett entziehe. Was ich getan habe, indem ich bis zum allerletzten Moment in meinem Zimmer geblieben und wie eine Wilde zur Tür gestürzt bin, als ich Dace nahen fühlte. Ich hielt nur so lange inne, dass sie mir eines ihrer frisch gebackenen Bio-Blaumais-Muffins in die Hand drücken konnte, ehe ich zu seinem Pick-up lief.
Es gibt keine elegante Ausflucht. Ich bin schuldig im Sinne der Anklage. »Ich war spät dran«, sage ich und werfe ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. »Aber offen gestanden war ich wohl einfach noch nicht so weit.«
Er nickt und umfasst das Lenkrad fester, während er über die von tiefen Fahrrinnen durchzogenen Feldwege rumpelt und ich aus dem Fenster schaue. Mir fällt auf, dass die alten Lehmziegelhäuser in der Umgebung nicht mehr so windschief sind wie früher. Dass die vor den Häusern geparkten Autos ein bisschen weniger rostig wirken und die Hühner, die in den Vorgärten umherstolzieren, ein bisschen weniger ausgezehrt aussehen. All das dank Dace und meinem kleinen Triumph in der Unterwelt, als wir die Knochenhüterin überzeugen konnten, all die armen Seelen freizugeben, die die Richters geraubt hatten.
Trotz unseres Erfolgs macht die Stadt ihrem Namen Enchantment – Verzauberung – noch immer alles andere als Ehre. Aber immerhin ist sie ein bisschen weniger trist, als sie es bei meiner Ankunft hier war, und das erachte ich bereits als Fortschritt.
»Wenn du willst, können wir es ihr gemeinsam sagen.« Dace sieht mich an. »Ich muss zwar nach der Schule arbeiten, aber ich kann auch zu spät kommen, wenn dir das was nützt.«
Ich schüttele den Kopf, von seinem Angebot zu gerührt, um zu sprechen. Dace braucht jeden Penny, den er im Rabbit Hole verdient. Wenn er die Miete für die winzige Wohnung in der Stadt, Benzin und Versicherung für seine zwei ramponierten Autos und die kleine Summe, die er Chepi gibt, bezahlt hat, bleibt nicht mehr viel übrig. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass er wegen etwas, das ich längst allein hätte erledigen sollen, einen Verdienstausfall erleidet.
»Ich mache es«, erwidere ich. »Ehrlich. Noch heute. Nach der Schule. Ehe ich wieder in die Unterwelt gehe, sage ich es ihr. Obwohl ich das ziemlich sichere Gefühl habe, dass sie es längst weiß. Paloma weiß alles. Es ist mehr als der sechste Sinn einer abuela – sie ist unfassbar scharfsinnig. Bestimmt spricht mein Schweigen lauter, als es irgendwelche Worte könnten.«
»Trotzdem, diese Fische …« Er verstummt, während sich sein Blick verdüstert. »Ich glaube, ich sollte Leftfoot darauf ansprechen. Und Chepi. Vielleicht können sie helfen ?«
Als er seine Mutter erwähnt, ist es an mir, grimmig zu werden. Nachdem sie Dace seine gesamte Kindheit über von der mystischeren Seite seines Lebens abgeschirmt hat, komme ich daher und zerre ihn kopfüber in all den Aufruhr und all die unheimlichen Machenschaften, die dieser Ort zu bieten hat. Damit habe ich mich bei ihr nicht gerade beliebt gemacht.
Doch laut Paloma war es unser Schicksal, dass wir uns begegnen, genau wie es unser Schicksal ist, zusammenzuarbeiten, um die Richters in Schach sowie Unter-, Mittel- und Oberwelt im Gleichgewicht zu halten. Und wenn es erst einmal in Gang gekommen ist, lässt sich das Schicksal nicht mehr aufhalten.
Ich will gerade fragen, ob er sich vielleicht noch einmal überlegen könnte, es Chepi zu erzählen, als er bereits auf den Schulparkplatz einbiegt und neben Audens uraltem Kombi mit den Holzpaneelen zum Stehen kommt. Er dreht das Fenster weit genug herunter, um einen kalten Luftstoß hereinzulassen, während wir zusehen, wie Auden Xotichl aus dem Beifahrersitz hilft und sie zu uns herüberführt. Ihren Blindenstock schwenkt sie dabei vor sich her.
»Xotichl behauptet, es schneit bis Weihnachten, aber ich sage, ausgeschlossen.« Auden schiebt sich das zerzauste goldbraune Haar aus den Augen und grinst. »Wir nehmen sogar Wetten an – seid ihr dabei ?«
»Du willst allen Ernstes gegen Xotichl wetten ?«, frage ich ungläubig. Xotichl mag blind sein, doch sie ist die hellsichtigste Person, die mir je begegnet ist – nach Paloma jedenfalls.
Auden zuckt die Achseln, legt Xotichl einen Arm um die Schultern und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich müsste es wahrscheinlich besser wissen – gegen sie zu wetten hat noch nie etwas eingebracht –, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich diesmal irrt. In Enchantment hat es seit Jahren nicht mehr geschneit. Seit meiner Kindheit nicht mehr. Und es deutet nichts darauf hin, dass sich das demnächst ändern sollte.«
»Es fühlt sich auf jeden Fall kalt genug an für Schnee.« Mein Atem gefriert zu einem Wölkchen vor meinem Mund, während ich die Handschuhe aus dem Rucksack ziehe und sie überstreife. Dabei denke ich, dass es an der Zeit wäre, meine olivgrüne Armeejacke – die dank einem unseligen Zusammenstoß mit einem gewissen untoten Richter seit Neuestem an manchen Stellen ein bisschen ramponiert ist – gegen etwas Wetterfesteres einzutauschen. »Ich dachte, es schneit so ziemlich überall hier in der Gegend ?«
»Schon«, sagt Auden. »Aber nicht hier. Nicht mehr.«
»Das hat früher einmal gestimmt, aber dieses Jahr ist es anders«, widerspricht Xotichl. Ein wissendes Lächeln lässt ihr schönes, herzförmiges Gesicht aufleuchten, während ihre blaugrauen Augen sich in meine ungefähre Richtung drehen.
»Du spürst Schneeenergie ?« Ich schlinge mir gegen die Kälte die Arme um die Taille, während ich mich von dem Pick-up löse und mich zu ihnen stelle.
»Ich spüre auf jeden Fall etwas.« Xotichl spricht leise und schleppend. Ganz eindeutig genießt sie ihr Geheimnis.
»Also ?« Auden sieht mich an.
Ich blicke zwischen ihnen hin und her und antworte ihm, ohne zu zögern. »Tut mir leid, Auden, aber ich werde wohl so gut wie immer auf Xotichl setzen.«
Auden wirft mir einen bedauernden Blick zu und wendet sich an Dace. »Und du ?«
Dace nimmt solidarisch meine Hand und sieht mich mit seinen eisblauen Augen an. »Und ich setze so gut wie immer auf Daire.«
Auden wendet sich seufzend zu Lita, Jacy und Crickett um, die uns von der anderen Seite des Parkplatzes aus etwas zurufen. »Irgendwie heißen sie bei mir immer noch die ›Fiese Front‹. Ich muss jetzt doch mal unseren Facebook-Status zu ›Freunde‹ updaten.« Grinsend schüttelt er den Kopf. »Was meinst du, soll ich sie überhaupt fragen ?«
»Nur wenn du die Ablehnung verkraftest.« Xotichl lacht, während wir unseren Kreis erweitern, um sie aufzunehmen.
»Was ist denn so lustig ? Hab ich was verpasst ?« Lita wirft sich das Haar über die Schulter und lässt es in dunklen Wellen über ihren Rücken fallen, während ihre Augen – nach wie vor dick geschminkt, aber seit Jennikas professioneller Make-up-Beratung wesentlich besser – ängstliche Blicke aussenden. Sie hasst es, von irgendetwas ausgeschlossen zu werden, ganz egal, wie banal es auch sein mag.
»Weiße Weihnachten. Ist das möglich ? Ja oder nein ?« Auden kommt gleich auf den Punkt.
»Ja. Ich stimme definitiv für ja.« Lita klatscht zur Betonung in ihre behandschuhten Hände, während die anderen zustimmend nicken. »Allerdings braucht es dazu schon ein echtes Wunder. Das letzte Mal, als es geschneit hat, war ich ungefähr sechs. Aber andererseits ist ja gerade Saison für Wunder, nicht wahr ?«
Sie wippt auf ihren Fußspitzen und vergräbt die Hände unter den Achseln, um so die Kälte abzuwehren. Das Läuten der Schulglocke veranlasst Auden, Xotichl einen Abschiedskuss zu geben, damit er losziehen und mit seiner Band proben kann, während wir anderen aufs Schulgebäude zugehen. An meinem Spind mache ich halt, um ein paar Bücher abzulegen, damit ich nicht so schwer zu tragen habe.
Lita drückt sich neben mir herum und sieht mit missmutigem Schweigen zu, wie mir Dace einen Kuss auf die Wange drückt und einen Treffpunkt für die Pause mit mir ausmacht, ehe er in seine Klasse geht. Sie wartet, bis er außer Hörweite ist, dann streckt sie mir hastig eine Hand hin. »Schnell. Nimm schon. Bevor wir deinetwegen noch alle beide zu spät kommen.«
Ich starre auf den gefalteten Zettel zwischen ihren Fingern. Gerade will ich sie daran erinnern, dass sie aus freien Stücken hier neben mir steht – ihre Verspätung also allein ihre eigene Schuld ist –, doch dann schlucke ich den Satz ganz schnell hinunter. Mit Lita befreundet zu sein heißt, dass man nicht nur lernen muss, die Hälfte dessen, was sie sagt, zu ignorieren, sondern auch nie zu vergessen, dass tief im Inneren ihr Herz zum größten Teil gut ist.
»Weihnachtswichteln«, erklärt sie, während ich den Zettel auseinanderfalte und verwirrt blinzele. Ihre Stimme konkurriert mit dem Geräusch ihres Stiefels, der hart und schnell gegen den Fliesenboden schlägt. »Gestern, als wir in der Mittagspause Namen gezogen haben, habe ich Dace gekriegt. Und ich dachte mir, du willst sicher tauschen, da ihr ja zusammen seid und so. Außerdem käme es mir extrem seltsam vor, ein Geschenk für ihn zu kaufen, nachdem ich mit seinem Zwillingsbruder Schluss gemacht habe.«
Ich nicke zustimmend, da ich weiß, dass es mir wesentlich leichterfallen wird, etwas zu finden, das Dace gefällt und unter unser Zwanzig-Dollar-Limit fällt, als für die Person, deren Namen ich ursprünglich gezogen habe. Als ich ihre erwartungsvolle Miene sehe, sage ich: »Allerdings weiß ich nicht, ob das funktioniert – ich habe dich gezogen.«
Litas Augen leuchten auf. Unübersehbar begeistert von der Idee, sich selbst etwas zu kaufen, wendet sie sich rasch zum Gehen. »Keine Sorge. Mir fällt schon was ein.«
Sie eilt den Flur entlang, wobei das Geräusch ihrer klackenden Stiefel meine Stimme beinahe übertönt, als ich ihr nachrufe.
Sie bleibt stehen und sieht sich mit ungeduldiger Miene um.
»Apropos – hast du Cade gesehen oder mit ihm gesprochen ?«
Sie verdreht die Augen und lächelt selbstgefällig. »Soll das ein Witz sein? Er ist komplett abgetaucht. Völlig außer Reichweite. Wahrscheinlich leckt er seine Wunden und pflegt sein armes gebrochenes Herz. Wenn ich gewusst hätte, wie sagenhaft sich das anfühlen und wie leicht es sein würde, es zu brechen, hätte ich es schon vor Jahren getan.«
Sie schickt ihren Worten ein Lachen hinterher. Es klingt so leicht, so glücklich und so selbstzufrieden, dass ich wünschte, ich könnte es ihr so ohne Weiteres abkaufen. Wünschte, ich könnte an ihre Theorie glauben, dass Cade einfach unter dem unerwarteten Schlag gegen sein Ego litte, zum ersten Mal in seinem Leben von einem hübschen Mädchen abgewiesen zu werden. Dann wirbelt sie herum und rast den Korridor hinab, wobei ihr Haar wie ein Schleier hinter ihr herfliegt, ehe sie ihre Klasse betritt. Sie lässt mich vor meinem Spind stehen, als es zum zweiten Mal läutet, was mich offiziell als Zuspätkommende brandmarkt.
Ich sehe mich in alle Richtungen um, mustere den stillen, leeren Korridor, während ich mir meine Tasche über die Schulter schlinge und denselben Weg zurückgehe, den ich gekommen bin. Eilig rase ich an dem Wachmann mit seinen empörten Ermahnungen vorbei, trete in die eisige Morgenluft hinaus und mache mich auf den Weg zurück zu Paloma.