Einundzwanzig
Dace
Als wir an der Schwitzhütte eintreffen, ist die Sonne längst untergegangen, der Himmel ist grauschwarz angelaufen, und Leftfoot erwartet uns bereits mit seinem Lehrling Cree. Cree ist ganz auf das Feuer konzentriert, das er kontinuierlich schürt, sodass er uns kaum eines Blickes würdigt. »Cree wird als Hüter des Feuers fungieren«, erklärt Leftfoot.
Ich nicke und weiß sehr gut, was für eine Ehre es ist, das Holz am Brennen und die Steine aus dem Fluss auf der richtigen Temperatur für das Ritual zu halten.
»Vor einer Zeremonie soll man fasten – wann hast du zuletzt gegessen ?«
Ich lasse den Tag Revue passieren. Da ich mich aber nicht erinnern kann, zucke ich anstelle einer Antwort nur mit den Achseln.
»Schon gut.« Er wechselt ein paar Worte mit Cree und erläutert ihm, wie die Zeremonie ablaufen soll, ehe er sich wieder mir zuwendet. »Zieh Kleider und Schuhe aus. Die Schwitzhütte ist ein heiliger Ort.«
Mir ist nur allzu bewusst, was für ein Privileg es ist, von Leftfoot lernen zu dürfen. Obwohl er den Ruf genießt, im Hinblick auf Beratung in mystischen Fragen und Begleitung auf dem Pfad der amerikanischen Ureinwohner, dem Weg zu Wahrheit, Frieden und Harmonie, freundlich, großzügig und weise zu sein, ist er ansonsten doch unglaublich wählerisch. Er unterrichtet niemanden, den er nicht persönlich ausgesucht hat. Es ist eine Ehre, hier zu sein. Ich werde ihn nicht enttäuschen.
Ich streife die Schuhe ab und ziehe mich aus. Nachdem ich meine Kleider ordentlich auf der Erde gestapelt habe, hüpfe ich unter dem dicken Bauch eines Dezember-Vollmonds von einem Bein aufs andere. Kurz breite ich weit die Arme aus und begrüße die Umarmung der eisigen Nachtluft auf meinem Körper.
Während meine Haut vor Kälte brennt, lenke ich mich ab, indem ich an das denke, was man mich als Kind gelehrt hat. Der Eingang zur Hütte zeigt nach Osten, damit man die aufgehende Sonne begrüßen kann, wenn die Zeremonie beendet ist. Die Hütte wird ein Stück weit in den Boden eingegraben, um die Erde als Mutterleib zu symbolisieren. Und, was am wichtigsten ist, die Erfahrungen, die man während des Rituals macht, sind kraftvoll und umwälzend zugleich – man geht völlig gereinigt und neugeboren daraus hervor.
Dass ich nicht direkt nach Reinigung strebe, muss ich Leftfoot ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Wenn die Erfahrung auch nur annähernd so ist wie die Visionssuche, durch die er mich geführt hat, dann lohnt es sich auf jeden Fall.
Gerade als ich denke, dass ich es nicht eine Sekunde mehr aushalte, nackt und frierend hier zu stehen, winkt mich Leftfoot zur Tür, lässt mich aber noch nicht eintreten. Er erklärt mir, dass ich zuerst die Erlaubnis der Geister erheischen muss, die über die Hütte wachen. Und so steht er über mir, als ich mich zu Boden sinken lasse und die Knie in die Erde drücke. In meiner Muttersprache rufe ich meine Ahnen an und erhebe mich erst, als mir Leftfoot versichert, dass ich hineingehen darf.
Er schwenkt einen buschigen Salbeizweig quer und längs an der Türöffnung entlang. Dazu intoniert er einen seiner traditionellen Heilgesänge, während ich die an der Wand befestigte Leiter hinabsteige und ans gegenüberliegende Ende krieche. Erstaunt stelle ich fest, dass der Raum wesentlich kleiner ist, als ich dachte. Und dunkler. Vermutlich habe ich im Lauf der Jahre so viele Gerüchte gehört, dass ich mir in meinem Kopf eine vollständige Version ausgemalt und mir alles größer, geräumiger vorgestellt habe. Obwohl das mit Weidenzweigen befestigte und mit einer dicht gewebten Plane bedeckte Kuppeldach in Wirklichkeit seitlich so weit herunterreicht, dass ich in die Mitte kriechen muss, wenn ich ganz aufrecht sitzen will.
Leftfoot und Cree folgen. Leftfoot nimmt den Platz neben mir ein und murmelt ein Gebet. Cree dagegen schwenkt ein massives Hirschgeweih, beladen mit glühenden Flusssteinen, die er erst in der Grube versenkt und dann mit einer großzügigen Menge Wasser und Kräutern überschüttet, woraufhin der Raum von einem süßen, berauschenden Duft erfüllt wird.
Während die Temperatur rasch steigt, schließt Cree die Tür, sodass wir in völliger Dunkelheit zurückbleiben. Dann rutscht er zur anderen Seite hinüber und greift nach seiner Rassel, die er in einem langsamen, regelmäßigen Rhythmus schüttelt, während er ein Lied singt, das ich noch nie gehört habe.
Dicke Schweißbäche rinnen mir über den Oberkörper und bilden kleine Pfützen auf der Erde unter mir. Der unaufhörliche Rhythmus von Crees Singen und Rasseln lässt meinen Kopf brummen, während mein Körper unwillkürlich im Takt mitzuschwingen beginnt. Die Luft um mich herum wird allmählich leicht und dunstig, bis ich auf einmal nicht mehr mit meinem Körper verbunden bin.
Ich bin von der Schwerkraft befreit.
Mein physischer Leib weicht einer astralen Version meiner selbst. Ich bin gewichtslos, von allen Fesseln befreit. Mühelos gleite ich durch das Kuppeldach über mir und schwebe im Äther. Erstaunt stelle ich fest, dass Leftfoot neben mir fliegt und sein ätherischer Leib in einen dünnen, goldenen Film gehüllt ist, während mein eigener von schimmernden blauen Streifen umgeben ist.
Schau genau hin. Seine Worte wirbeln mir durch den Kopf. Du wirst sehen, was du sehen sollst, also musst du gut aufpassen. Vielleicht gefällt dir nicht unbedingt alles, was du siehst, aber nicht du wählst die Reise – die Reise wählt dich.
Auf ein kurzes Nicken von Leftfoot sinken wir wieder nach unten und gelangen in einen langen, weißen Flur mit einer Reihe von Türen ohne Griffe oder Klinken, die wir unmöglich aus eigener Kraft öffnen können.
Ich sehe Leftfoot an, unsicher, was ich tun soll, als er meinen Blick auffängt und mir das Wort Geduld in den Kopf strömt.
Eine Tür zu meiner Rechten schwingt auf, und ich spähe hindurch. Erstaunt sehe ich den Moment, als ich schnell und still in diese Welt getreten bin. Nur um die Stille ein paar Sekunden später durch Cades lärmende Ankunft durchbrochen zu sehen.
Für den unbedarften Betrachter scheint kein offenkundiger Unterschied zwischen uns zu bestehen. Doch ein eingehenderer Blick enthüllt den Schleier der Finsternis, der meinen Zwillingsbruder umgibt.
Chepi weiß es, sowie sie ihn sieht. Ihr Unbehagen erkennt man daran, wie sie zusammenzuckt, als er in ihre Arme gelegt wird.
Leandro sieht es auch. Bei ihm erkennt man es an dem Funkeln in seinen Augen, als er Cade für sich beansprucht.
Das Bild wird blasser, vergeht und rollt sich an den Rändern auf, als würden Flammen an ihm züngeln. Kaum habe ich verarbeitet, was ich gesehen habe, da öffnet sich eine andere Tür, und Leftfoot führt mich zu einem Sessel vor einem kleinen Bildschirm. Dort verfolgen wir einen Schwarz-Weiß-Film mit den peinlichsten Szenen aus meiner Kindheit.
Ich lasse mich tief in den Sessel sinken und schlage immer wieder nervös meine blau leuchtenden Beine übereinander. Schon will ich aufstehen und mein Glück in einem anderen Raum versuchen, als mir Leftfoot eine Hand auf den Arm legt und auf den Bildschirm zeigt. Und da sehe ich es. Da erkenne ich, was ich bisher nicht begriffen habe. Meine gesamte Kindheit hindurch – mein ganzes Leben lang – wurde jeder unangenehme Moment, jede Demütigung, jede unglückliche Episode durch Leftfoots Wirken gelindert.
Er war damals ebenso für mich da, wie er es jetzt ist.
Seit jeher hat er gewusst, was ich bin und wofür ich bestimmt bin. Und deswegen hat er sein Bestes getan, um mir subtile Lektionen in Magie und Vorsehung zu erteilen, selbst wenn das Chepis Wünschen zuwiderlief.
Als der Bildschirm dunkel wird, bin ich erfüllt von Dankbarkeit, überwältigt von dem Verlangen, ihm meine Anerkennung zu bezeugen. Doch er winkt nur ab und führt mich zurück in den Flur, wo wir mehrere Türen auf- und wieder zugehen sehen. Manche gestatten nur einen kurzen Blick, während andere größere Enthüllungen gewähren.
Und obwohl ich es bereits gelebt habe, ist damit, dass ich mein Leben so ordentlich vor mir ausgebreitet sehe, bewiesen, dass nichts davon ein Zufall war.
Nichts wurde der reinen Willkür überlassen.
Jeder Schritt ging geschmeidig in den nächsten über – jeder einzelne Teil eines größeren Plans.
Der Boden unter unseren Füßen beginnt sich zu bewegen und schleudert uns ans Ende des Flurs, wo wir durch die Glaswand krachen und durch eine Konstellation glitzernder Kristallstückchen wirbeln, während wir uns in den Himmel erheben.
Wir fliegen über Berggipfel.
Gleiten über dunkel glänzende Flüsse.
Fliegen so viel höher, als ich es in der Gestalt des Rotschwanzbussards getan habe, mit dem ich vor ein paar Stunden verschmolzen bin. Das Gefühl ist so herrlich, so befreiend, dass ich gar nicht mehr landen will.
Irgendwo in der Ferne schwingt Cree die Rassel schneller – winzige Perlen, die wild gegen das dünne Leder schlagen. Er ruft uns nach Hause. Doch ich bin noch nicht bereit.
Wir sinken tiefer.
Und dann noch tiefer.
Kreisen über einer drastisch veränderten Landschaft. Einer zerstörten, wüstenhaften Savanne. Einem Ort unbeschreiblichen Verfalls und Niedergangs. Die windschiefen Häuser und die kaputten Menschen lassen auf den ersten Blick Enchantment erkennen.
Ein tristes Loch von einer Stadt, durch das Treiben der Richters, der Sippe, der auch ich angehöre, bedenkenlos entweiht.
Wir fliegen über das Rabbit Hole und sehen es in eine Wolke schmutzig braunen Dunsts gehüllt, die mir bisher noch nie aufgefallen ist.
Wir fliegen über Palomas Lehmziegelhaus mit dem leuchtend blauen Tor, das auf ganzer Grundstücksgröße von einem strahlenden Lichterkranz umgeben ist.
Die Stadt besteht aus hellen und dunklen Flecken.
Aber vor allem aus dunklen.
Überwiegend aus dunklen.
Und dann kommt Cade.
Wir tauchen hinab in die Gasse hinter dem Rabbit Hole. Bleiben unbemerkt, als er ein Mädchen brutal gegen die Wand presst und an ihrem T-Shirt zerrt.
Ein Mädchen mit langem, dunklem Haar, das ihr so übers Gesicht fällt, dass ich sie nicht erkennen kann.
Sie dreht den Kopf – versucht vergeblich zu schreien. Kann kaum mehr als einen kurzen Schreckenslaut hervorstoßen, ehe Cade sie mit einer Ohrfeige mitten ins Gesicht zum Schweigen bringt.
Seine Augen lodern rot. Aus seinem Mund quellen Schlangen. Verwandelt in die Bestie, die er ist, stößt er ein entsetzliches Knurren aus und reißt ihr mit seinen Krallen die Brust auf.
Stiehlt ihr die Seele.
Genau wie in meinem Traum.
Ich stürze auf ihn zu. Lasse meine Energie hart gegen seine prallen. Hoffe, ihn lange genug aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass das Mädchen fliehen kann.
Doch letztlich ist es, als würde ich mich in Schaum stürzen – die Landung ist weich, federnd und hat keinerlei erkennbare Wirkung.
Trotzdem gebe ich nicht auf. Mein Wille, sie zu retten, ist unerbittlich. Während eine neu gefundene Kraft in mir aufsteigt, knalle ich brutal gegen Cades Seite, kann aber nur entsetzt zusehen, wie das Mädchen wegsackt und sich als Daire entpuppt, während mein Bruder zu mir herumwirbelt. Im Kiefer der aus seiner Zunge hervorschnellenden doppelköpfigen Schlange balanciert er eine perlmuttartig schimmernde Kugel.
Ein Schrei ertönt. Er klingt so wütend, so archaisch, dass ich erstaunt mich selbst als seinen Ursprung erkenne.
Ich stürme unablässig gegen Cade an, lasse meine Energie immer wieder gegen seine prallen. Doch es dauert nicht lange, bis ich merke, dass ich gegen Luft schlage. Verblüfft sehe ich zu, wie sich die ganze Szene vor mir in einzelne Pixel auflöst. Die einzelnen Fragmente lösen sich im Äther auf, als hätte es sie nie gegeben.
Ich schaue hektisch in alle Richtungen und bemühe mich verzweifelt, mir einen Reim darauf zu machen, bis mir Leftfoot eine glühend heiße Hand auf die Schulter legt und auf die Backsteinmauer vor uns zeigt, auf der eine Folge wie von Geisterhand geschriebener Wörter abläuft. Jede Zeile verschwindet, sobald die nächste beginnt. Doch trotz ihrer Kürze bleiben die Worte in meinem Gedächtnis eingebrannt.
Es ist die Prophezeiung.
Das weiß ich, sowie ich es sehe.
Es ist alles ganz genauso wie in meinem Traum.
Als es vorüber ist, als die Worte dorthin verschwinden, wo sie hergekommen sind, spricht Leftfoot zum ersten Mal, seit diese Reise begonnen hat. »Dace, es tut mir wirklich leid«, sagt er in einem Tonfall, der das ganze Ausmaß seines Bedauerns offenbart. »Aber die Prophezeiung steht geschrieben; sie lässt sich nicht annullieren.«
Ich will etwas erwidern. Einen langen, ausführlichen Protest, der mir schon auf der Zunge liegt, als das Rasseln schneller – und meine Wesenheit schwerer – wird und ich im Handumdrehen wieder in meine Haut geschlüpft bin. Meine Gliedmaßen fühlen sich fremd an, fleischig und steif. Ich strecke den Hals von einer Seite zur anderen und recke die Arme über den Kopf. Versuche, mich wieder mit meiner physischen Gestalt anzufreunden.
Der Schweiß rinnt mir in dicken Tropfen in die Augen, sodass ich mir die Stirn wischen muss, während ich einen Dampfschwaden beobachte, der aus dem Steinhaufen vor mir aufsteigt. Sein in Schlangenlinien aufsteigender Dunst winkt mir wie ein Finger und fordert mich auf zu beobachten, wie er sich in zwei Teile aufspaltet.
Eine Seite hell, beleuchtet – die andere so dunkel, dass sie kaum wahrnehmbar ist.
Wiegend bieten sie sich mir an und fordern, dass ich eine Wahl treffe.
Ich sehe Leftfoot an, damit er mir einen Rat gibt, und stelle entsetzt fest, dass er mich auffordert, einen Seelensprung zu vollführen. »Es ist ein einmaliges Angebot«, sagt er. »Du solltest es nutzen.«
Ohne zu zögern, springe ich. Begierig, den Code seiner Seele zu erfahren.
Jeder hat einen Seelencode.
Jeder hat eine Seele und jede Seele einen Zweck.
Obwohl die meisten Menschen durchs Leben gehen, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben.
Aber nicht Leftfoot. Jetzt, wo ich freien Zugang zum ungekürzten Film seines Lebens habe, staune ich nur noch über das, was ich zu sehen bekomme. Ich dachte immer, ich würde ihn gut kennen, doch die Szenen, die vor mir ablaufen, gehen weit über alles hinaus, was ich mir je hätte träumen lassen.
Es ist ein Leben, in dem fast täglich Wunder gewirkt werden. Doch das heißt nicht, dass es ohne Fehler wäre.
Es gab vieles zu bereuen. Viele Situationen, von denen er wünschte, sie wären anders ausgegangen. Doch das war meist in jüngeren Jahren, als er von seinem Ego angetrieben wurde.
Das ist die Warnung aus der Geschichte. Der Teil, den ich mir zu Herzen nehmen soll. Und obwohl ich die Weisheit aufnehme und sie als die Warnung anerkenne, die sie ist, bin ich begierig darauf, tiefer zu bohren. Die Stelle zu finden, wo die Geheimnisse liegen.
»Bist du sicher, dass du bereit dafür bist ?«, will Leftfoot wissen.
Bereit oder nicht, ich will unbedingt so viel wie möglich aufsaugen.
Nach ein bisschen mehr Graben finde ich ihn – den Schatz an verborgenem Wissen, der sich in den falschen Händen als ziemlich gefährlich erweisen könnte.
In unerfahrenen, übereifrigen Händen.
Händen wie meinen ?
Dennoch ist es ein unwiderstehlicher Quell des Wissens. Wie wenn man nach Goldkörnchen sucht und auf einmal in Nuggets schwimmt.
Ein Satz sticht besonders aus allem anderen heraus. Oberflächlich betrachtet so einfach – doch scheint er direkt auf mich gemünzt zu sein.
Manchmal musst du dich in die Finsternis wagen, um das Licht zutage zu fördern.
Sobald der Satz gefallen ist, macht Leftfoot die Schatzkammer dicht und sperrt mich aus. »Ich habe dich nach bestem Wissen und Gewissen geleitet«, sagt er resigniert. »Alles mit dir geteilt, was ich weiß. Nun ist es an dir zu entscheiden, was du mit all dem Wissen anfangen willst, das du dir angeeignet hast. Du musst deinen Weg selbst wählen. Aber, Dace, du darfst nie eines der grundlegenden Gesetze des Universums vergessen: Jede Handlung hat eine Reaktion zur Folge. Das ist eine Regel ohne Ausnahme.«
Das Wasser zischt, faucht und flüstert vor Ungeduld. Es lenkt meine Aufmerksamkeit weg von Leftfoot und zurück zu den sich duellierenden Dampfkringeln, die vor mir aufwallen.
Leftfoots Lehren gehen mir durch den Kopf:
Jeder Mann muss entscheiden, welchen Weg er einschlagen will – jetzt ist es an mir, eine Wahl zu treffen.
Auf jede Aktion folgt eine Reaktion.
Die Prophezeiung steht geschrieben; sie lässt sich nicht annullieren.
Es ist dieser letzte Teil, gegen den ich mich wehre.
Wenn sich die Prophezeiung nicht annullieren lässt – was sagt das dann über den freien Willen aus ?
Warum erst so tun, als könnte ich meinen Weg selbst wählen, wenn er mir bereits vorbestimmt ist ?
Die Worte widersprechen sich. Passen nicht zusammen.
Es ist an mir, die Einzelteile meines Lebens aneinanderzufügen, alles aufzubieten, was ich gelernt habe, es zusammenzusetzen und die Prophezeiung zu widerlegen.
Daire wird nicht sterben.
Nicht unter meiner Aufsicht.
Ich werde tun, was immer ich kann, um das zu verhüten.
Ich kneife die Augen zusammen und verfolge, wie die Dampfkringel vor mir sich drehen und wenden. Dann, ohne einen weiteren Gedanken, bestimme ich denjenigen, dem ich folgen werde. Ich sehe zu, wie er Funken schlägt und aufflammt und zu doppelter Größe anwächst, ehe er den anderen verschlingt und wilde Bocksprünge vor mir vollführt.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das, was ich fühle, Erleichterung ist. Doch in Wahrheit löst der Anblick Unruhe in mir aus.
Die Wahl ist getroffen; es gibt kein Zurück.
Und es wird Konsequenzen geben, das hat Leftfoot mir versichert.
Aber damit kann ich umgehen. Kein Preis ist zu hoch, um Daire zu retten.
Als wir die Schwitzhütte verlassen, geht die Nacht bereits in den Morgen über. Doch trotz Schlafmangels bin ich überhaupt nicht müde.
Ich fühle mich eher erfrischt. Verwandelt. Als wäre ich im Laufe einer Nacht vom Kind zum Mann geworden.
»Ich will, dass du heute zur Schule gehst«, sagt Leftfoot, als wir uns wieder anziehen. »Nicht nur weil deine Ausbildung wichtig ist, sondern auch weil sich dann Chepi keine Sorgen mehr macht und es dir den Anschein von Normalität gibt. Das ist etwas, das du unbedingt aufrechterhalten musst, jetzt mehr denn je.« Er mustert mich eindringlich, und ich sauge den Atem ein, davor gewappnet, dass er es jetzt anspricht. Dass er mir wegen der Wahl, die ich getroffen habe, Stress macht. Doch er sagt nur: »Außerdem musst du ins Rabbit Hole zurückkehren und dich dafür entschuldigen, dass du die letzten Tage nicht zur Arbeit gekommen bist. Benimm dich unauffällig. Es kostet dich nichts außer einen Augenblick des Stolzes, was ohnehin etwas ist, was du ablegen solltest. Stolz ist eine überbewertete Tugend, die nur dazu dient, uns voneinander zu isolieren, obwohl es besser für uns wäre, wenn wir zusammenarbeiten. Wenn du dann wieder drinnen bist, möchte ich, dass du das Portal ausfindig machst. Daire weiß, wo es ist. Aber da du ihr momentan besser aus dem Weg gehst, könntest du dich ja auch an Xotichl wenden. Sie kann dich leiten.«
»Und wenn ich es gefunden habe ?«, frage ich und begreife, dass er trotz allem, was er mir im Lauf der Nacht beigebracht hat, nicht dazu gekommen ist, mir zu sagen, wie ich das Gelernte umsetzen soll.
»Ich will nur, dass du es findest, weiter nichts – jedenfalls für den Moment. Sie sind schon in die Unterwelt eingebrochen, also ist dieser Schaden bereits geschehen. Fürs Erste sollst du nur alles im Auge behalten. Halt Ausschau nach allem, was aus dem Rahmen fällt, und berichte mir über deine Entdeckungen.«
Ich reibe mir das Kinn. Erstaunt registriere ich ein breites Band kratziger Bartstoppeln. Es muss Tage her sein, seit ich zuletzt geduscht und mich rasiert habe.
»Und Dace …«
Ich wende mich zu ihm um.
»Ruh dich aus. Du wirst es brauchen.«
Obwohl Leftfoot mich zum Ausruhen drängt, obwohl ich seit Tagen nicht geschlafen habe, bin ich, als ich endlich in meiner Wohnung anlange, viel zu aufgedreht, um es auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Schlafen heißt: die Augen schließen.
Und die Augen schließen heißt: von Daire träumen.
Daire lächelnd.
Daire lachend.
Daire liebend.
Mein Kopf voll von einem Film von ihr, der darin gipfelt, wie sie mich angesehen hat, nachdem ich ihr eröffnet hatte, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen. Wie sie über meinem Küchentisch in sich zusammensackte, als hätten meine Worte sie wie ein Messerstich getroffen …
Ich schüttele den Gedanken ab und wende mich meiner Körperpflege zu. Schließlich klaube ich mir frische Sachen aus dem Waschkorb, dessen Inhalt ich nie in den Schrank geräumt habe, esse rasch noch eine Kleinigkeit und mache mich auf den Weg zur Schule.
Mit nichts als einer Schale abgestandener Frühstücksflocken, einer Tasse schwachen Kaffees und dem Adrenalin der reinen Entschlusskraft im Bauch, sehe ich auf die Uhr und verlasse die Wohnung. Ich werde zu früh kommen – aber zu früh in der Schule zu sein ist immer noch besser, als hier zu sitzen und mich in meinen Erinnerungen zu verlieren.