Fünf
Paloma hat mir einmal erzählt, dass es in Enchantment viele Pforten gebe. Sie meinte, es existiere eine Reihe von Portalen, die Zugang zu den Anderwelten gewähren, und dass ich eines Tages lernen würde, sie alle zu unterscheiden.
Doch trotz ihrer Behauptungen habe ich bisher nur drei gefunden. Eines in der Höhle, wo ich meine Visionssuche durchlitten habe, eines in dem Reservat, wo Dace aufgewachsen ist, und eines auf der untersten Ebene des Rabbit Hole.
Da das Portal im Rabbit Hole nicht nur auf Feindesland liegt, sondern auch von Dämonen gut bewacht wird und die Höhle meilenweit entfernt liegt, dirigiere ich Kachina stattdessen in Richtung Reservat. Ich bekomme nicht oft Gelegenheit, die Schule zu schwänzen, also nutze ich diese lieber effektiv und wähle das nächstgelegene Portal.
Wir reiten mehrere Feldwege entlang, wobei Kachina eine langsame, gleichmäßige Gangart vorlegt, bis wir eine weite Graslandschaft erreichen. Ich beuge mich zu ihrem Hals hinab und lasse ihr freien Lauf. Ich genieße das Gefühl, wie sie unter mir dahingaloppiert, während mir der Wind hart gegen die Wangen peitscht, und wünschte, ich könnte mich immer so leicht und frei und so unbeschwert fühlen.
Als wir auf Indianerland kommen, verlangsamt Kachina ihren Schritt. Sie bahnt sich den Weg zu einem Wäldchen aus verkrümmten Wacholderbäumen, deren Äste durch den ständigen Energiewirbel, der den Eingang in unsichtbare Welten markiert, grotesk verdreht sind. Suchend blicke ich mich nach Spuren von den Stammesältesten, Leftfoot oder Chay, um, die ich beide nicht ungern sähe – und von Chepi, der ich lieber aus dem Weg gehen würde. Doch im Reservat herrscht heute völlige Ruhe, und so gleite ich von Kachinas Rücken und streiche ihr über die Stirn. »Du musst nicht warten«, sage ich. »Entweder rufe ich dich, wenn ich dich brauche, oder ich komme irgendwie allein zurück.« Sie schnaubt und bläht die Nüstern, während sie mich zweifelnd ansieht. Das veranlasst mich, ihr leicht den Rumpf zu tätscheln und meine Anweisungen zu wiederholen. »Glaub mir«, versichere ich ihr. »Du willst nicht mitkommen. Die Reise wird unangenehm. Verzieh dich !«
Sie wiehert zur Antwort und trottet rasch davon, während ich mich aufmerksam umblicke, um mich zu vergewissern, dass niemand zusieht. Und dann trete ich zwischen die Bäume und gleite tief in die Erde.
Ich rase durchs Erdreich. Reise durch das Herz der Erde, die Handflächen fest aufs Gesicht gepresst, um mich vor hervorstehenden Baumwurzeln, Würmern und all den anderen glitschigen, schleimigen Dingen zu schützen, die im Finstern lauern. Im Gegensatz zu meinen ersten Reisen in die Unterwelt kämpfe ich nicht mehr dagegen an, da ich mittlerweile begriffen habe, dass ich umso schneller an mein Ziel komme, je weniger Widerstand ich leiste.
Sowie ich den Tunnel hinter mir habe, komme ich schlitternd zum Stehen und senke langsam die Hände, während ich versuche, mich an das Licht zu gewöhnen. Es erstaunt mich nicht im Geringsten, dass ich an einem breiten, weißen Sandstrand gelandet bin – er wird mehr und mehr zu einem meiner verlässlichsten Landeplätze – und dass Rabe nicht bereits da ist und auf mich wartet. Offenbar hatte Paloma recht, als sie sagte, dass er nicht mehr für mich arbeite. Doch die Frage bleibt: Arbeitet er jetzt gegen mich ?
Ich wische mir die Erde von den Kleidern und gehe in Richtung Wasser. Dort halte ich Ausschau nach springenden Delfinen, prustenden Walen und all den anderen Tieren, an deren Anblick ich gewöhnt bin. Doch obwohl das Meer so ruhig und einladend wie immer aussieht – zumindest aus der Ferne –, ist keine Spur von Aktivität zu erkennen, keinerlei Anzeichen von Leben. Selbst die üblichen Schwärme von kleinen, silbernen Fischen sind nirgends zu sehen. Das Wasser ist dunkler und trüber als sonst, und als ich einen Finger hineintauche, ist er hinterher vom Fettfilm eines dunklen, schlierigen Schleims bedeckt.
Ich wische den Glibber an meinen Jeans ab und sehe entsetzt zu, wie der Finger schlagartig anschwillt und eine grellrote Färbung annimmt. Das Wasser ist also verschmutzt – und zwar extrem. Womit kein Zweifel mehr daran besteht, dass die gleiche Verschmutzung auch verantwortlich für den Tod der Fische ist, die wir in der heißen Quelle vorgefunden haben, und dass dies Cade Richters Werk ist.
Ich muss mich nur einmal schnell umsehen, schon fühle ich mich klein, machtlos und für die anstehende Aufgabe so mangelhaft gerüstet, dass ich meine Chancen selbst gering einschätze.
Ohne Rabes Führung, ohne Dace an meiner Seite habe ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Die Unterwelt ist ein riesiges Reich mit vielen Dimensionen und ohne greifbare Begrenzung. Es ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.
Ich greife nach meinem Wildlederbeutelchen und umschließe es fest mit den Fingern. In der Hoffnung, dass das Pendel recht hatte und ich es wirklich guten Glaubens weitertragen sollte, sende ich eine stille Bitte um Hilfe aus. Ich appelliere an die Elemente, an die Geister meiner Vorfahren – an alle und alles, die bereit sein könnten, mich zu führen. Dann stecke ich den Beutel wieder weg und gehe los, ohne eine klare Richtung im Sinn, aber entschlossen, so viel Strecke wie möglich zu machen.
Obwohl ich eigentlich keine untoten Richters sehe, ist ihre Gegenwart durch das Fehlen von zwitschernden Vögeln und umhertollenden Tieren spürbar. Selbst der Wind, mein Leitelement, der mir sonst so bereitwillig dient, macht sich nur durch sein Fehlen bemerkbar – was die böse dräuende Stille um mich herum verursacht. Dazu wird die Umgebung mit jedem Schritt trister.
Die normalerweise so üppig grünen Wiesen sind nun zu einem Flickenteppich aus Brauntönen verkommen. Die in Gruppen angeordneten hohen Bäume, sonst stets mit dichtem Laub bewachsen, ragen nun nur noch als reine Skelette ihrer früheren Pracht empor. Ihre Stämme sind verbrannt und ausgehöhlt, die übrig gebliebenen Blätter vertrocknet und rissig. Es ist das genaue Gegenteil von allem, was ich erwartet habe.
Ich erwäge, einen Abstecher zur Knochenhüterin zu machen, verwerfe die Idee aber ebenso schnell wieder. Sie mag ja einiges über meine Bestimmung und die von Dace wissen, und vielleicht weiß sie auch ganz genau, was das Echo ist, aber sie hat ebenso deutlich erklärt, dass sie uns lieber verspottet, statt uns zu helfen. Außerdem bezweifele ich, dass es sie auch nur im Geringsten kratzt, wie sich die Gegend hier verändert hat. Ihr Metier sind Knochen, und der Tod ist das Vehikel, das sie zu ihr bringt.
Ich gehe weiter, ziehe eine gefühlte Ewigkeit dahin, bis meine Füße längst von Blasen bedeckt sind und schmerzen und meine Beine vor Erschöpfung zittern.
Ich gehe weiter, bis ich das Gefühl habe, dass ich nicht mehr kann – und dann noch ein bisschen weiter.
Ich halte erst inne, als ich auf einen großen, glatten Felsen stoße, vor dem ich mich niederlasse und das Gesicht in den Händen vergrabe, während ich mich frage, was ich als Nächstes tun soll. Mich frage, wie ich je mein Ziel erreichen soll, wenn ich anscheinend ständig nur im Kreis herumgehe, ohne die geringsten Fortschritte zu machen.
So versunken bin ich in meiner Verzweiflung, dass ich beinahe das Rauschen von über mir flatternden Flügeln überhöre.
Rabe.
Mein Rabe.
Seine violetten Augen glitzern wild, während er über mir einen perfekten Kreis beschreibt.
Ich runzele die Stirn, ungewiss, ob ich ihm trauen kann. Es ist gut möglich, dass er für den Feind arbeitet … aber andererseits habe ich schließlich um Hilfe gebeten, und vielleicht reagiert er einfach auf meinen Ruf ?
Er landet direkt neben mir, und seine violetten Augen leuchten, während er eine Blüte auf meinen Schoß fallen lässt und mit der gebogenen Spitze seines Schnabels drängend gegen sie stupst.
Ich packe sie am Stängel, mustere die samtig schimmernden Blütenblätter und versuche mich zu erinnern, wo ich diese spezielle Blüte schon einmal gesehen habe, als Rabe den Kopf senkt und mich unsanft ins Bein pickt.
Missmutig verziehe ich das Gesicht und schiebe ihn mit dem Knie beiseite. Sehe zu, wie er die Schwingen weit ausbreitet und sich in die Luft erhebt – wo er hartnäckig über meinem Kopf schwebt, bis ich tief Luft hole und nachgebe. Ich rede mir selbst ein, dass es, sogar wenn er mich in irgendeine Falle locken will, immer noch besser ist, als ziellos umherzuwandern. Wenn ich in der Höhle der Richters lande, bekomme ich wenigstens etwas zu tun – etwas, womit ich arbeiten kann. Alles ist besser als das.
Der Gedanke verschwindet in dem Moment, als ich merke, dass er mich zu der verzauberten heißen Quelle geführt hat, an deren Rand nun Dace steht.
Mit einem langen, spitzen Ast, den er von dem Baldachin aus blühenden Ranken darüber abgerissen hat, stochert er im Wasser herum.
Ranken, die dieselbe Art von Blüten tragen, wie mir Rabe eine in den Schoß geworfen hat.
»Warum bist du nicht in der Arbeit ?«, frage ich und bewundere einen Moment lang die schlanke Linie seines Rückens.
Er dreht sich um und sieht mich forschend an. »Warum schwänzt du die Schule ?«
Mein Blick schießt zu Rabe hinüber, der sich inzwischen gemütlich auf Pferds Nacken eingerichtet hat. Dann gehe ich auf Dace zu. »Irgendwie kam mir das hier wohl wichtiger vor.« Ich greife nach seiner Hand und verschlinge meine Finger mit seinen.
»Bei mir war’s genauso.« Er grinst und mustert mich mit seinen eisblauen Augen. Doch schon im nächsten Moment schaut er wieder mit finsterer Miene in die Quelle.
»Noch mehr Fische ?«, frage ich. »Oder nicht hoffentlich etwas noch Schlimmeres ?«
Er schüttelt den Kopf und stochert noch ein bisschen mit dem Stock im Wasser herum, dann wirft er ihn beiseite. »Nicht schlimmer, nur seltsam. Soweit ich es beurteilen kann, ist das Wasser vollkommen klar.«
»Aber das ist doch gut, oder ?« Ich recke den Hals, und tatsächlich, das Wasser sieht wieder genauso aus wie bei meinem ersten Besuch – sprudelnd, verlockend und frei von toten, aufgeblähten Fischen. Doch ein Blick auf Dace sagt mir, dass er nach wie vor nicht überzeugt ist.
»Sie sind eindeutig weg – aber wohin sind sie verschwunden ?«, überlegt er laut.
Ich starre angestrengt in die Quelle. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass alles hier heller und üppiger wirkt als all die anderen Male, die wir hier waren. Die Ranken sind elastischer und ihre Blüten fleischiger. Selbst das Wasser glitzert irgendwie intensiver. Die Blasen auf der Oberfläche ähneln zarten Kristallkugeln, die darauf treiben, bis sie platzen und sich erneut bilden.
»Es ist, als wäre die Quelle wiederhergestellt.« Ich blinzele, schaue, blinzele erneut, da ich meinen Augen nicht trauen will. Ich sehe zu Rabe hinüber und frage mich, ob er vielleicht gar nicht so korrumpiert ist, wie ich dachte.
Ist ein kleiner Teil von ihm vielleicht noch auf meiner Seite ?
Will er mir zeigen, dass nicht alles so schlimm ist, wie ich glaube ?
»Es ist, als wäre es nie geschehen – als wäre die Quelle nicht vergiftet gewesen. Im Gegensatz zur restlichen Umgebung.«
Dace sieht mich an, von meinem Tonfall alarmiert. »Ich bin sofort hergekommen. Pferd hat mich geführt. Ich hatte überhaupt keine Zeit, mich umzusehen. Ist es schlimm ?«
Ich nicke und hoffe, dass mein Blick vermitteln kann, was Worte nicht vermögen. Ich bin erschöpft. Meine Füße schmerzen. Mein Finger ist immer noch grellrot, nur dass er mittlerweile auf doppelte Größe angeschwollen ist. Erneut mustere ich die Quelle und sehne mich danach, kurz darin zu baden. Eine kleine Erfrischung würde mich doch sicherlich genug erquicken, dass ich meine Jagd fortsetzen kann ?
Ich knie mich neben das Wasser und will gerade meinen Finger eintauchen, als Dace neben mir in die Hocke geht und meine Hand packt. »Was ist da passiert ?«
»Nichts.« Ich reiße mich los. »Ehrlich. Es war nur eine kleine Schramme, aber dann habe ich den Finger ins Meer getaucht, und er ist so wieder herausgekommen. Das Meer ist vergiftet. Es ist entsetzlich. Du musst es mit eigenen Augen gesehen haben, sonst glaubst du es nicht. Aber wenn der Ort hier wirklich verzaubert ist, wenn er wirklich von all der Kontamination ringsum ausgenommen ist, wenn er sich wirklich selbst heilen kann, dann müsste er doch auch imstande sein, mich zu heilen, oder ?«
Dace sieht mich an, ist eindeutig nicht überzeugt.
»Schau mal«, sage ich, nicht bereit, mich zu streiten. »Entweder behalte ich einen Finger, oder ich verliere einen Finger. Aber so oder so, ich muss es versuchen.«
Noch ehe er mich aufhalten kann, tauche ich die Hand hinein. Und die Erleichterung, die ich verspüre, ist so überwältigend, dass es nicht lange dauert, bis ich mit meinem ganzen Körper hineingleite.