Neunzehn

4voegel_voll.tif

Dace

Nach mühsamen Übungen in Umarmen der Natur sowie Eintauchen in die Natur und Verschmelzen mit ihr kommt Leftfoot endlich zur Sache. »Dein Zwilling ist ein Hautwandler«, sagt er.

Im ersten Moment erstarre ich. Es geschieht unwillkürlich, und ich könnte es selbst beim besten Willen nicht verhindern. Ich blicke mich hektisch in alle Richtungen um, ob irgendjemand nahe genug ist, um uns zu belauschen, aber natürlich ist außer uns niemand da. Trotzdem atme ich noch nicht auf.

Eines der ersten Dinge, die ich als Kind gelernt habe, war, dass Dinge, wenn man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet, indem man über sie spricht oder permanent über sie nachdenkt, irgendwann real werden, dass sie zum Beispiel auf einmal vor der Tür stehen, ob man sie nun wollte oder nicht. Und das funktioniert bei den schlechten Dingen genauso wie bei den guten.

Deshalb wurde ich von unangenehmen Themen ferngehalten – und das Thema Hautwandler zählt zu den allerunangenehmsten überhaupt.

Hautwandler sind ein ernstes Problem. Wirklich beängstigend. Wenn man es anspricht, sollte man einen triftigen Grund dafür haben, damit man nicht ohne Not einen davon auf sich aufmerksam macht, was man sein Leben lang bereuen wird.

Falls man das Glück hat, danach weiterzuleben, heißt das.

Aber laut Leftfoot habe ich ja ohnehin bereits einen auf mich aufmerksam gemacht, der zufälligerweise gleichzeitig mein Zwillingsbruder ist.

Ich konzentriere mich auf den alten Medizinmann vor mir. In der schwindenden Nachmittagssonne glitzert sein Haar wie Silberfolie. Sein verhangener Blick wird intensiver, als er weiterspricht. »Oder ich sollte besser sagen, er ist eine Art Mischform davon. Ich bezweifele nämlich, dass er das Ritual vollständig absolviert hat. Nicht nur, weil ihm die Geduld für so etwas fehlt, sondern auch, weil die Tötung eines Verwandten dazugehört – der übliche Preis dafür, dass jemandem Zugang zu den Schwarzen Künsten gewährt wird. Und da Leandro nicht bereit ist, auch nur den dümmsten Richter zu opfern, vermute ich, dass Cade noch kein voll ausgeprägter Hautwandler ist. Mit einer so dunklen Seele, wie Cade sie besitzt, genügt schon allein der Akt, sich reizen zu lassen, zum Beispiel indem er sich heftig über etwas ärgert oder freut, für eine völlige Umwandlung seines Selbst.«

Ich starre in die Ferne und brauche einen Moment, um seine Worte zu verarbeiten. Obwohl ich keinen Zweifel daran hege, dass das stimmt, was er sagt, bleibt doch die Frage bestehen – kann ich das auch ?

»Ich habe es gesehen. Sowohl im Traum als auch im richtigen Leben.«

»Ich auch.« Er fängt meinen erstaunten Blick auf. »Ich habe in der Schwitzhütte eine Menge Dinge gesehen, genau wie es bei dir sein wird. Doch eines nach dem anderen.«

Ich blicke ihn an und fühle mich bereit zu allem, was er mir beibringen will.

»Ich werde etwas mit dir teilen, was lange verboten gewesen ist. Etwas, was mich mein Bruder Jolon gelehrt hat, was ihn aber niemand gelehrt hat. Er hat es einfach intuitiv aufgenommen, wie nur Jolon es konnte. In der Hinsicht war er sehr stark.« Leftfoot versinkt in Erinnerungen, ehe er sich wieder mir zuwendet. »Ich werde dich Seelenspringen lehren. Wie du in das Wesen eines anderen Menschen eintauchen kannst, indem du mit seiner Energie verschmilzt, sodass du die Erfahrungen anderer teilen kannst. Du wirst sehen, was sie sehen, hören, was sie denken. Und die wenigen, die dies meistern, können außerdem großen Einfluss auf die Betreffenden ausüben.«

Obwohl ich unbedingt lernen will, machen mich seine Worte stutzig. Mit offenem Mund stehe ich schweigend vor ihm, bis ich mich wieder gefasst habe. »Du machst Witze, oder ? Wie soll das denn möglich sein ?«

»Oh, es ist möglich.« Leftfoots Miene und seine Stimme bleiben völlig gelassen. »Ganz ähnlich wie du deine Energie vorhin mit den Vögeln und den Schlangen verschmolzen hast, um ihre Erfahrung zu teilen, wirst du jetzt lernen, das Gleiche mit einem Menschen zu tun.«

Ich schließe die Augen und versuche es mir auszumalen. Stelle mir vor, einen Seelensprung in Cade hinein zu tun.

Wie wäre es, in diesen dunklen, hohlen Kern zu blicken und die Geheimnisse seines Wesens zu lernen – sich auf die Suche nach seinen Schwachpunkten zu machen ?

Genau auf so etwas hatte ich gehofft.

Es verändert auf jeden Fall die Spielregeln.

Wenn ich nur hineingelangen und einen Blick auf die dort lauernde Finsternis werfen kann, weiß ich genau, wie ich mein Wissen nutzen muss, wenn es an der Zeit ist. Vielleicht eigne ich mir auch selbst ein Stück davon an. Wenn meine Liebe zu Daire ihn stärkt, dann funktioniert das doch sicher auch andersherum ? Bestimmt könnte ich mich doch mit seiner Bösartigkeit wappnen ?

Ich sehe Leftfoot an, begierig darauf anzufangen. Sicher wird sich das als weitaus nützlicher erweisen, als mithilfe dieses Rotschwanzbussards über der Landschaft zu schweben, so faszinierend das auch war.

»Es gibt allerdings einen Vorbehalt … Du darfst nie einem anderen Menschen zeigen, was du gelernt hast – nicht einmal Daire.« Er hält so lange inne, bis ich zustimme, und fährt dann erst fort. »Und du darfst die Gabe nie missbrauchen. Niemals. Ich kann das gar nicht genug betonen. Du benutzt die Gabe ausschließlich dann, wenn du der festen Überzeugung bist, dass es sein muss. Zuerst musst du alle anderen Optionen ausschöpfen. Es darf nur ein letzter Ausweg sein. Die restliche Zeit musst du dein Wissen für dich behalten. Und du musst schwören, es mit ins Grab zu nehmen. Nicht einmal Chepi und Paloma ahnen, dass ich das beherrsche. Wie ich bereits erwähnt habe, ist es schon seit Jahren verboten.«

»Ich sag’s niemandem. Ich schwöre es.« Die Beteuerung klingt selbst in meinen Ohren ein bisschen übereifrig, was vermutlich der Grund dafür ist, dass mir Leftfoot einen skeptischen Blick zuwirft.

»Es steckt noch mehr dahinter.« Er zieht die Brauen zusammen und blickt in die Ferne. »Etwas, von dem ich hoffe, dass es illustriert, wie ernst das alles ist …«

Ich warte darauf, dass er es mir verrät, aber eigentlich will ich jetzt anfangen.

»Leandro hat Jolon nicht umgebracht.«

Ich starre Leftfoot an. Seine Worte haben mich schockiert.

»Diese Geschichte tut Jolon unrecht. Allerdings habe ich nie versucht, ihn in Schutz zu nehmen, weil die Wahrheit noch viel schlimmer ist.«

Er wendet sich den Sangre-de-Cristo-Bergen zu und verzieht das Gesicht, als er den fehlenden Schnee auf den Gipfeln registriert. Oder vielleicht gilt seine Grimasse auch nur dem, was er als Nächstes sagen will. Bei Leftfoot weiß man nie.

»In Wirklichkeit war Jolons Abwehr viel zu stark für Leandro, und Leandro war zumindest klug genug, um das zu wissen. Als Chepi an diesem Tag geschändet und misshandelt nach Hause kam, beschloss Jolon, die verbotene Kunst zu nutzen, mit der wir als Kinder nur gespielt hatten, um in Leandros Innenwelt einzudringen. Er hielt sich lange genug darin auf, um die Inhalte dieses elenden, verkommenen Lebens zu ergründen – einschließlich der schrecklichen, an Chepi verübten Taten. Er glaubte, er könne damit umgehen, und damals war Jolon so stark, dass ich auch darauf gewettet hätte. Doch die Vorgänge, die Jolon zu sehen bekam, waren so grauenhaft, dass sie ihn auf eine Weise schwächten, die er nie für möglich gehalten hätte. Er starb, kurz nachdem er den Seelensprung vollzogen hatte. Während also der Kern dieser vielfach erzählten Geschichte derselbe ist – nämlich dass Jolon angesichts der Ereignisse an einem gebrochenen Herzen starb –, hat Leandro in Wirklichkeit Jolon nicht dazu gezwungen, sich das Geschehen vor Augen zu führen. Er hat Jolons Wahrnehmung nicht verändert, wie so oft behauptet wird. Jolon hat den Sprung aus freien Stücken vollführt. Er hat selbst beschlossen, zu den Abgründen von Leandros schwarzer Seele vorzustoßen. Und was er dort gesehen hat, hat ihn das Leben gekostet.«

Ich stehe vor ihm, von seiner Schilderung der Ereignisse reichlich ernüchtert.

»Alle Magie hat ihren Preis. Das darfst du nie vergessen.«

Ich mahle mit dem Kiefer und nicke mit geballten Fäusten, als würde ich ihm zustimmen. Tue ich ja auch.

»Okay«, sagt Leftfoot, endlich überzeugt. »Es funktioniert folgendermaßen …«