Achtzehn
Daire
Die tosende Gischt peitscht mir unbarmherzig das Gesicht, noch ehe ich am Wasserfall angelangt bin.
So gewaltig ist seine Kraft.
Von dort aus, wo ich im Wasser treibe, sieht er bedrohlich und riesig aus – eine gigantische Sintflut von der Breite einer Landstraße. Sein Anblick lässt keinen Zweifel daran, dass er mich zermalmen oder verwandeln kann.
Es kann so oder so ausgehen.
Ich erhasche einen Blick zurück auf die Stelle am Ufer, von wo aus mich Paloma und Chay beobachten. Trotz der ziemlich kurzen Distanz zwischen uns scheinen sie Welten entfernt zu sein. Wie zwei Miniaturfiguren, die von den Rändern her zuschauen und abwarten, ob ich überlebe oder umkomme. Doch die Strömung wird immer schneller. Das rasant fließende Wasser kündigt mir an, dass ich schon bald am Ziel sein werde.
Das unablässige Prasseln des Wassers, das auf sich selbst zurückstürzt, lässt meinen Körper von innen erbeben, während die eisige Umarmung des Flusses von außen mein Fleisch tot und gefühllos werden lässt. All das zusammen macht meine Lage derart elend, derart unerträglich, dass ich meine gesamte Entschlusskraft im Kampf gegen den instinktiven Drang einsetzen muss, ans Ufer zu kraulen. Ich muss darauf vertrauen, dass mich die von Paloma erlernte Magie, die altbewährten Traditionen der Suchenden und die Elemente unbeschadet hier hindurchlotsen werden.
Doch im Grunde habe ich keine Wahl. Es ist sinnlos, gegen meine Bestimmung anzukämpfen.
Würde ich mich weigern, das hier auf mich zu nehmen, mich weigern, meine Ausbildung abzuschließen, wäre mein Leben ebenso beendet wie das Djangos. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es für uns beide tue. Mir muss das gelingen, woran er scheiterte. Und auch wenn ich diese spezielle Prüfung vielleicht nicht überlebe, auch wenn sie mir einen schrecklichen verfrühten Tod bescheren könnte, besteht doch immer noch die vage Chance, dass ich überlebe. Und an diesem Gedanken halte ich mich fest.
Ich schließe fest die Augen, konzentriere mich intensiv auf mein Ziel und drücke das Kinn auf die Brust.
Treibe näher heran.
Die Gischt peitscht gegen meine Wangen wie hämmernde Fäuste.
Fast am Ziel.
Django – Paloma – bitte vergebt mir ! Ich bin dafür nicht geschaffen – ich kann das nicht !
Ich bin unter Wasser.
Das Wasser drischt auf mich ein, es reißt an meinen Schultern und zieht mich nach unten – und dann noch weiter nach unten. Es taucht mich in Tiefen, die alle nachvollziehbaren Grenzen überschreiten und meine Lungen derart anschwellen lassen, dass ich fürchte, sie werden platzen. Und ich kann nichts dagegen tun. Das Wasser hat mich machtlos gemacht, hilflos – es hat meine Kraft zersetzt und mir nur noch meinen Willen gelassen.
Meinen Willen zu leben.
Meinen Willen, die Sache durchzustehen.
Meinen Willen, Cade zu töten – mein Geburtsrecht als Suchende einzufordern – und nicht umzukommen wie mein Vater.
Doch offensichtlich reicht Willen allein nicht aus.
Er ist vergänglich.
Flüchtig.
Kann mit der Natur nicht mithalten.
Ist einfach nicht so robust.
Hindert mich nicht am Versinken. Ich rudere hilflos mit Armen und Beinen, außerstande, mich selbst davor zu bewahren, hart gegen die Felsen zu stoßen, während überall um mich herum schleimiges, glitschiges Zeug schwimmt.
Meine Glieder sind nutzlos und schwach geworden und meine Lungen über ihr eigentliches Fassungsvermögen hinaus aufgebläht, und so ringe ich um jedes bisschen Kraft, das mir noch geblieben ist, und versuche erneut, zur Oberfläche zu gelangen.
Doch letztlich ist es nichts weiter als ein Todestanz – hektisch, hilflos und nicht annähernd ausreichend, um mich zu retten.
Django hatte Glück – als er es kommen sah, war es bereits zu spät.
Doch das hier – das ist grauenhaft, und es wird noch schlimmer durch das kristallklare Wissen um die Endlichkeit, die auf mich wartet.
Die Felsen werden zuerst weich und dann schwammig, bis sie ganz nachgeben und ich noch weiter hinabtauche, an einen Ort, wo es nicht mehr dunkel ist und ich nicht mehr allein bin. Frei von all dem Schmerz und Leid, das mich noch vor Sekunden plagte, kann ich nur fasziniert auf eine wunderschöne, leuchtende Gestalt blicken, die direkt vor mir schwebt. Sie strahlt eine so warme, so strahlende Energie aus, so liebevoll und heilsam, dass ich dem, was ich verloren habe, nicht mehr nachtrauere.
Ich bin einfach nur dankbar, mich in ihrem Dunstkreis aufhalten zu dürfen.
Dankbar dafür, dass dieser Abstieg nicht annähernd so schlimm war, wie ich gefürchtet hatte.
Ich verweile. Treibe in langsamen Kreisen um dieses wundervolle, strahlende Wesen herum. Ein so herrliches Gebilde, dass es kaum zu fassen ist.
Mein Körper ist gestärkt, geheilt von der makellosen Reinheit seiner angeborenen Kraft und Güte. Ich ringe darum, das Gefühl zu bewahren, damit es nie aufhört. Doch ein kaum merkliches Kopfschütteln und ein aufgerichteter Finger von ihm genügen, und schon bin ich wieder auf dem Weg nach oben.
Steige auf. Wirbele. Breche so schnell durchs Wasser, dass keine Zeit zum Protestieren bleibt, ehe ich herausschieße.
Frei vom Wasser.
Frei von der Strömung.
Keuchend blinzele ich durch vom Wasser getrübte Augen. Stelle erstaunt fest, dass ich mich an einem stillen, ruhigen Ort auf der anderen Seite des Wasserfalls befinde.
Nicht mehr bedrohlich. Nicht mehr beängstigend. Die Innensicht gestattet eine ganz neue Perspektive.
Klar, er ist immer noch glänzend, schillernd und glitzernd – aber von da aus, wo ich jetzt treibe, erscheint er eher prächtig als Furcht einflößend. Eine strahlende Kaskade kristallinen Wassers glitzert silbern unter dem Bauch eines spätmorgendlichen Mondes. Der Ton ist irgendwie gedämpft – nicht mehr das krachende Crescendo, das ich einst als so ohrenbetäubend empfand.
Ich greife nach meinem Beutelchen und stelle erleichtert fest, dass es die Reise ebenfalls überlebt hat. »Und jetzt ?«, sage ich und presse mir das nasse Wildleder an die Lippen.
Obwohl ich nicht wirklich eine Antwort erwartet habe, hält mich das Schweigen, das mir begegnet, dazu an, auch selbst zu schweigen.
Ich bringe meinen Körper zur Ruhe. Meinen Geist. Zwinge mich, still und ruhig zu werden und mir anzusehen, was das Wasser offenbart.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so verharre. Da mein Körper nicht mehr kalt und meine Haut nicht mehr taub ist, erscheint mir die Zeit bestenfalls bedeutungslos. Ich weiß nur, dass irgendwann mein Puls schneller geht und mein Herz schneller schlägt, bis ich spüre, wie die rohe Kraft der Energie des Wasserfalls mit meiner eigenen eins wird.
Sie wallt in mir auf.
Verschmilzt mit der Lebenskraft, die mich antreibt.
Zuerst vernehme ich die Botschaft nur vage, doch schon bald ertönt sie klar und deutlich. Erhebt sich zu einer herrlichen Harmonie, die aus den Tiefen emporsteigt, bis der Klang des Wasserlieds in meinem Kopf anschwillt.
Ich bin Trost
Ich bin Tod
Ich nehme Leben und erhalte es zugleich
Ich bin das Wiegen und das Plätschern an einem heißen Sommertag
Ich bin die harte Eisschicht einer strengen Winterzeit
Ich passe mich an
Wandele mich ständig
Meine Bindungen nichtig
Folge meiner Spur, wenn du merkst, dass du widerstrebst
Das Lied wiederholt sich. Erklingt wieder und wieder, bis ich mitsinge. Und sowie der Text in meinem Kopf gespeichert und in mein Herz eingeprägt ist, finde ich den Weg zurück. Der einstmals tosende Wasserfall wird zu einem Rinnsal und gewährt mir sicheres Geleit, bevor er wieder zu seiner vollen Kraft zurückfindet.
Paloma und Chay erwarten mich mit einer dicken Decke am Ufer, in die sie mich einhüllen, um mich zu wärmen. Paloma streicht mir über Schultern und Rücken, und ihre Stimme ist voller Stolz, als sie sagt: »Nieta, du hast es geschafft !«
Ich umfasse mein Haar mit der Faust, presse große Wassertropfen daraus auf den Boden, zusammen mit einem herrlichen Stein, der zu mir heraufglitzert. Seine Farbe erinnert mich an die Augen von Dace.
»Ein Geschenk des Wassers.« Paloma hebt ihn auf und präsentiert ihn auf ihrer Handfläche, während ich ihn staunend betrachte. »Ein Aquamarin – ein Wasserstein. Der gehört in deinen Beutel, nieta.«
Sie lässt ihn neben den anderen Talismanen hineinfallen, während ich zwischen ihr und Chay hin- und herblicke. »Was kommt als Nächstes ?«, frage ich, denn ich fühle mich mehr als bereit, es anzugehen, was immer es auch sein mag. Sicher kann es nicht schlimmer sein als die Tortur, die ich soeben überstanden habe – okay, mit knapper Not überstanden, aber immerhin.
Chay sieht Paloma an. »Das überlasse ich dir«, sagt er, gibt ihr einen kurzen Abschiedskuss und geht auf sein Auto zu. Paloma winkt mich zu ihrem Jeep, wo ich wieder in die Sachen schlüpfe, in denen ich gekommen bin.
»Feuer kommt als Nächstes.« Sie hält mir die Decke vor und erläutert es mir näher. »Es ist das letzte übrige Element und, wie manche sagen würden, das gefährlichste. Normalerweise verkraften wir keine zwei Prüfungen an einem Tag, aber andererseits handelt es sich auch nicht um normale Umstände, oder ?«
»Ich bin bereit.« Meine Stimme klingt entschlossen, während ich ihr erlaube, mein Haar zu einem langen Zopf zu flechten, der mir über den Rücken fällt, ganz ähnlich wie ihrer. »Was auch immer getan werden muss, ich tue es. Sag mir einfach, wo ich beginnen soll.«