Zweiunddreißig
Daire
Als ich zum Rabbit Hole komme, drängen sich auf der Treppe massenhaft Leute, die unter einem Spruchband mit einer Werbung für eine Jobmesse mehr oder weniger geordnet Schlange stehen.
Eine Jobmesse ?
Hier in Enchantment, wo es überhaupt keine Jobs gibt ?
Damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich hatte gehofft, früh hier einzutreffen. Mich unters Putzpersonal zu mischen, um ein bisschen herumzuschnüffeln und dabei möglichst unentdeckt zu bleiben.
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, die Unterwelt direkt durch das Portal im Rabbit Hole zu betreten, da ich dachte, ihr Zugangspunkt würde mich schnurstracks zu Cade führen.
Und dann, wenn ich ihn gefunden hätte, würde ich ihn töten.
Ein Plan, der mir ungemein einleuchtend vorkam – zumindest bis jetzt.
Trotz meines späten Starts hätte ich nie mit einem Szenario gerechnet, bei dem ich von einem Türsteher empfangen werde, der einseitige Bewerbungsformulare verteilt.
Doch ich beschließe mitzumachen und zu schauen, wie es weitergeht. Ich schleppe mich zu einem der runden Stehtische, die die Tanzfläche umgeben, und mustere die Horde von Jobsuchenden. Die meisten sind mittleren Alters, und alle tragen den gleichen müden, glasigen Blick zur Schau. Darüber hinaus, dass sie sich hierhergeschleppt haben, scheint keiner von ihnen sich zu mehr aufraffen zu können, als belämmert herumzuschlurfen.
»Nummer eins bis zwanzig – hier entlang !« Ich drehe mich zu der Stimme um, die hinter mir brüllt. Mein Blick landet auf einem Mann, den ich noch nie gesehen habe, der aber eindeutig das dunkle Äußere eines Richter aufweist und die Gruppe beäugt, die er gerade aufgerufen hat und die nun langsam an ihm vorbeidefiliert.
Ich starre auf meinen Zettel, auf dem von Hand die Zahl 27 in die obere rechte Ecke gekritzelt wurde, was mich in die nächste Gruppe platziert, die aufgerufen werden wird.
Soll ich gehen ?
Soll ich das Blatt hier ausfüllen und einfach weiter mitmachen ?
Werde ich es ewig bereuen ?
Werde ich es überleben ?
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und weiß nicht, was ich tun soll. Schließlich tröste ich mich mit dem Gedanken, dass ich mir wenigstens nicht wegen Dace und Xotichl den Kopf zerbrechen muss. Obwohl sie wahrscheinlich meine Proteste ignoriert haben und hierhergeeilt sind, haben sie garantiert kehrtgemacht, als sie das hier gesehen haben.
Meine Gedanken werden von einer Frau unterbrochen, die mich fragt, ob ich ihr einen Kuli leihen kann. Ihre Augen sind so müde und von so tiefen Falten umgeben, dass sie schon fast in ihrem Schädel zu verschwinden scheinen.
Ich krame in meiner Tasche herum. Als ich einen Bleistift finde, reiche ich ihn ihr und sage: »Nicht direkt ein Kuli, aber ich glaube, das wird denen egal sein.«
Wortlos nimmt sie den Stift entgegen. Mit zittriger Hand und verkniffenem Mund konzentriert sie sich auf die simple Aufgabe, ihren Namen zu schreiben.
»Und, was für Jobs bieten sie eigentlich an ?«, frage ich, da ich unbedingt ein Gefühl dafür bekommen will, worauf ich mich einlasse.
»Keine Ahnung.« Ihre Stimme ist so flach wie ihr Blick. Sie gibt mir den Stift zurück, obwohl sie nur ihren Namen eingetragen und alle anderen Kästchen freigelassen hat. »Hab gehört, es soll freie Kost und Logis geben. Das ist das Einzige, was mich interessiert.«
Sie schlurft vor zur Bühne und wartet dort auf den Aufruf für die nächste Gruppe. Und obwohl ich nun keinen Deut schlauer darüber geworden bin, worum es hier geht, kann ich wohl annehmen, dass diese sogenannte Jobmesse nicht das ist, was sie scheint. Die Richters sind nicht gerade für ihren Altruismus bekannt. Es muss immer etwas für sie herausspringen. Doch das kann ich nur auf eine Art herausfinden.
Ich trage einen falschen Namen und eine falsche Adresse in mein Formular ein. Dabei amüsiere ich mich ein bisschen über meine List, bis ich an die Stelle komme, wo die Fragen seltsam werden. Irgendwelche Krankheiten ? Hier auflisten.
Und direkt darunter: Maximales Gewicht, das Sie ohne Probleme heben können ?
Doch was mich wirklich beunruhigt, ist Folgendes: Dieser Job erfordert, dass Sie für einen unbestimmten Zeitraum abwesend sind. Listen Sie die Namen all der Personen auf, die Sie vermissen könnten. Falls nötig, schreiben Sie ruhig auf der Rückseite weiter.
Was zum Teufel soll das für ein Job sein ?
Als kurz darauf meine Gruppe aufgerufen wird, hole ich meine Kapuze aus ihrem Versteck im Kragen und ziehe sie mir über den Kopf. Dann lasse ich die Schultern nach vorn sacken, knülle das Bewerbungsformular zusammen und reihe mich unter die anderen ein. Ich tue mein Bestes, um eine einsame, niedergeschlagene, geknechtete Person mit einer Begabung für Gewichtheben und ohne ernsthafte Krankheiten abzugeben. Was nicht annähernd so leicht ist, wie es scheint.
Ich verschmelze mit meiner Gruppe. Versinke tiefer in meiner Kapuze, als ich die Bühne passiere, wo der Richter mit dem Mikrofon uns mit scharfem Blick mustert, ehe er uns den Korridor hinabwinkt, der letztlich zu dem von Dämonen bewachten Portal weiter hinten führt.
Während ich mit den anderen weiterschlurfe, kann ich ein paar verstohlene Blicke auf die anderen Jobsuchenden werfen. Sie alle tragen den gleichen glasigen Blick zur Schau und erinnern mich an die Gäste, die bei meinem ersten Besuch hier an der Bar saßen. Dass sie alle aussahen, als hingen sie den größten Teil des Tages auf Barhockern herum – wenn nicht den größten Teil ihres Lebens. Abgestumpft von dem endlosen Fluss von Alkohol, der ihre Gehirne durchtränkt.
Eine neue Gruppe von Bewerbern gesellt sich zu uns, und es dauert nicht lange, bis weitere angewiesen werden, sich anzuschließen. Allzu viele unter der Kontrolle der Richters verbrachte Jahre haben diese Menschen hoffnungslos, verzweifelt und begierig darauf werden lassen, die Hölle, die sie kennen, gegen eine einzutauschen, die sie sich nicht einmal vorstellen können.
Ein ersticktes Geräusch ertönt von vorn, und auch wenn ich es nicht ganz einordnen kann, klingt es doch auf eine Art vertraut, die mich hellhörig macht.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und bemühe mich, über die vielen Köpfe hinwegzusehen. Ich erhasche einen Blick auf einen weiteren untoten Richter, bevor die Leiber vorwärtsdrängen und ich gezwungen bin, mit den anderen mitzutrotten. Indem ich genau die schlechte Haltung annehme, die mir Jennika als Kind mühsam ausgetrieben hat, lasse ich die Zigarettenschachtel heimlich in meine Hand gleiten und schiebe mir das Athame in den rechten Ärmel. Ich muss auf alle Eventualitäten eingestellt sein, da ich keine Ahnung habe, wohin das hier noch führen wird.
Wir halten direkt auf die Wand zu, in der sich das Portal verbirgt. Dort werden wir von demselben untoten Richter aufgehalten, den ich schon vor einem Moment erspäht habe. Soweit ich es über mehrere Reihen von Schultern hinweg erkennen kann, ist er damit betraut, die Bewerbungen zu inspizieren und zu entscheiden, wer Zutritt erhält.
Doch nachdem ich eine Zeit lang zugesehen habe, begreife ich, dass es nur eine Finte ist, die die Spannung steigern soll. Viele Leute lechzen nach Zugang und atmen erleichtert auf, sobald sie drinnen sind. Soweit ich es beurteilen kann, wird niemand abgewiesen. Ganz egal, wie man sein Formular ausgefüllt hat, die Richters finden einen Weg, die Leute auszuquetschen, bevor sie sie auf den Müll werfen.
Als ich an der Reihe bin, gebe ich mein Bewerbungsformular ab und starre stur geradeaus, bemüht, unter seinem strengen Blick nicht zusammenzuzucken. Dabei bin ich mir der Alarmglocken in meinem Kopf nur allzu bewusst, die mich drängen davonzulaufen, dieses Lokal zu verlassen und nie wieder einen Blick zurückzuwerfen. Ich male mir all die schrecklichen Möglichkeiten aus, wie das hier komplett nach hinten losgehen könnte.
Mein Herz beginnt zu rasen. Instinktiv verlagere ich das Gewicht nach vorn. Getrieben von meinem archaischsten Instinkt, um jeden Preis meine eigene Haut zu retten. Gerade will ich die Flucht antreten, als dieser gruselige untote Richter mich am Kinn packt und mein Gesicht zu sich dreht. Sein Blick bohrt sich in meinen, während seine papiertrockenen, untoten Finger mein Kinn so fest umklammern, dass es wehtut.
Ich kann nicht atmen. Nicht sprechen. Nicht rennen. Kann überhaupt nicht viel tun, außer seinen starren Blick mit einem ebensolchen zu quittieren. Voller Reue darüber, dass ich mich selbst in diese Lage gebracht habe.
Ich hätte nicht hierherkommen sollen.
Ich habe sie total unterschätzt.
Und deswegen bin ich jetzt nur noch Sekunden davon entfernt, überwältigt und vernichtet zu werden.
Seine schauerlichen Lippen zucken an den Seiten, aber ansonsten bleibt seine Miene so undurchschaubar, dass man unmöglich erraten kann, was er denkt. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich verdammt schnell hier raus muss, solange ich auch nur den Hauch einer Überlebenschance habe.
Ich werfe den Kopf zur Seite, begierig darauf, mich seinem Griff zu entwinden, als er mir die andere Hand brutal ins Kreuz schlägt und mich in null Komma nichts durch das Portal schubst.