Paloma

Komm ans Fenster, cariño. Es schneit. Anscheinend hat Daire es doch noch geschafft.«

Chay sieht mich an und wartet geduldig. Doch als ich nicht an seine Seite eile, kommt er herüber zu dem abgenutzten alten Tisch, an dem ich über einem Buch brüte, das schon so lange Teil meines Lebens ist, dass ich mich an eine Zeit davor gar nicht mehr erinnern kann.

»Was siehst du dir an ?« Er reibt mir tröstend den Rücken.

Ich nicke zum Kodex hin. Die Worte wurden mir mitsamt der Atemluft geraubt. Ich weiß nicht, ob das, was ich sehe, real ist oder ob ich nur eine müde alte Frau bin, die auf einmal verrückt geworden ist. Er muss mir das eine oder das andere bestätigen, wobei ich insgeheim auf Letzteres hoffe.

Sein geflüstertes »Mein Gott« liefert mir den Beweis dafür, dass es nicht an mir liegt.

Seine starken Arme schließen sich um mich, doch das genügt nicht, um mich vor der Wahrheit abzuschirmen.

Es geschieht tatsächlich.

Eine lange vorhergesagte Zukunft ist in die Schwebe geraten.

Dicht aneinandergeschmiegt blicken wir in den uralten Folianten. Sehen zu, wie Worte, die jahrhundertelang dort gestanden haben, langsam von den Seiten verschwinden.

Und dort, wo bisher die Prophezeiung stand, einen leeren Fleck zurücklassen.

»Was hat das zu bedeuten ?« Chays entsetzter Blick sucht meinen.

Ich ziehe meine rote Strickjacke eng um mich und schaue zum Fenster, das sich wie ein Rahmen um die tanzenden Schneeflocken legt, die vom Himmel fallen.

Ungern muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, was das heißt.

Ich habe keine Ahnung.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fehlen mir die Antworten.