Sechsundvierzig

4voegel_voll.tif

Daire

Als mich Rabe und Wind zur verzauberten Quelle führen, ist sie wirklich wieder verzaubert – keine aufgeblähten Fische, keine rattenverseuchten Ranken –, was mich jedoch nicht erstaunt. Dass ich mich von den Richters habe verprügeln lassen, hat mir ziemlich zugesetzt. Ein kurzes Bad im heilenden Wasser der Quelle wird mir sicher guttun.

Trotzdem sehe ich mich vorsichtshalber zuerst überall um, da ich mich vergewissern muss, dass ich allein bin und Cade nicht irgendwo im Dunkeln lauert und auf die ideale Gelegenheit wartet, um zuzuschlagen. Ich bekomme die erwünschte Bestätigung, als Rabe auf meiner Schulter landet und mich mit dem Schnabel anstupst, während Wind sich um mich schlingt und mich auf das glitzernde Becken zuschiebt.

»Es ist gut, dich wiederzuhaben«, sage ich, während Rabe zu einem Felsen in der Nähe flattert. »Deine Gesellschaft hat mir gefehlt. Ohne dich war es nicht das Gleiche.«

Seine violetten Augen spähen blitzend in alle Richtungen, und er passt gut auf, als ich meine Kleider ablege, die Stiefel ausziehe und das Messer in Reichweite lege, falls ich es brauchen sollte. Dann gleite ich in die warme, blubbernde Quelle und tauche unter, bis mir das Wasser über den Kopf reicht und beginnt, meine Wunden zu heilen und meine Energie wiederherzustellen, sodass ich beim Auftauchen wie neugeboren bin.

»Das sollten wir in Flaschen abfüllen.« Lachend steige ich aus dem Wasser und klettere über die Felsen am Rand. Doch das Schmunzeln vergeht mir, als ich merke, wie Wind zu bocken beginnt und Rabes Federn zaust, während Rabe zappelig wird, unruhig von einem Fuß auf den anderen tritt und heftig mit den Augen rollt.

»Shhh ! Er kommt – er kommt !«, krächzt Rabe und imitiert eine unbekannte weibliche Stimme, von der ich nur annehmen kann, dass sie einer von Cades unglücklichen Gefangenen gehört. Ich winde mich bei dem Gedanken, wie oft Rabe ihre Schmerzens- und Angstschreie gehört haben muss, um den furchtsamen Klang so perfekt imitieren zu können.

Die plötzliche Erschütterung der Erde, begleitet von einem markerschütternden Gebrüll, das durchs ganze Land hallt, lässt mich hastig in meine schmutzigen, zerrissenen Klamotten schlüpfen, nach dem Athame greifen und Rabe und Wind dorthin folgen, wo es seinen Ursprung hat. Cades persönlichem Epizentrum direkt neben der Quelle.

»Was zum Teufel hast du angerichtet ?«, schreit Cade und begrüßt mich mit bösem Blick und klaffendem, von Reißzähnen und Schlangen bewehrtem Mund, obgleich er glücklicherweise seine normale Größe bewahrt hat.

Ich schaue zu seinen Füßen und registriere, dass seine ganze unmittelbare Umgebung verseucht bleibt, während der Rest weiter heilt.

»Wenn du mich sehen wolltest, hättest du anrufen oder eine SMS schicken können«, sage ich mit fester Stimme. »Du hättest meinetwegen nicht dieses ganze Drama inszenieren müssen.«

Mit großer Geste senkt er die krallenbewehrten Hände und bringt die Erde zur Ruhe, während der ihn umgebende Feuerring verglüht und dunkler wird und ich nur hoffen kann, dass in der Mittelwelt die gleichen Erscheinungen stattfinden.

»Deine Denkweise kann ich nicht nachvollziehen«, höhne ich und lasse den Blick über ihn wandern, während sich meine Lippen angewidert verziehen. »Du bist wie einer dieser durchgeknallten Plünderer, die man in den Nachrichten sieht. Du lebst in Enchantment, deiner Familie gehört praktisch Enchantment, und doch zerstörst du es beinahe, indem du es mit diesem von dir selbst geschaffenen Feuerregen überziehst. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie irre dich das aussehen lässt ?«

Er schlägt mit einer Hand nach mir, wobei mir seine rasiermesserscharfen Krallen unangenehm nahe kommen. »Es ist die Prophezeiung, Daire. Ich dachte, das wüsstest du. Es hat nur einen kleinen Schubs gebraucht, um sie in Gang zu bringen. Jetzt beantworte meine Frage. Wo sind meine Ahnen und meine Angestellten ? Was zum Teufel hast du getan, Santos ?« Seine Stimme gellt laut, wobei sich die Schlangen in alle Richtungen winden. Während er die Umwandlung von seinem Dämonen-Ich zu seinem normaleren Ich vollzieht, pfeift er nach seinem gruseligen Kojoten, der gehorsam angetrottet kommt und sich mit einem blutig zerfleischten Kaninchen, das ihm halb aus der Schnauze hängt, neben ihn setzt.

»Das ist das Geisttier von jemandem !«, keuche ich und fasse nach Kojote, entschlossen, es ihm zu entringen.

Doch Cade geht dazwischen und brüllt mich wutentbrannt an. »Beantworte meine Frage !« Seine Stimme klingt so schrill, dass Kojote die Schnauze hebt und zu jaulen beginnt, sodass das tote Kaninchen auf die Erde plumpst.

Ich starre auf den übel zugerichteten Tierkadaver und tröste mich damit, dass es ohnehin schon tot war. Ich hätte es durch nichts mehr retten können. Also wende ich mich wieder Cade zu. »Das waren keine Arbeiter, das waren Sklaven. Und nur für den Fall, dass du es nicht wusstest, Sklaverei ist illegal, deshalb habe ich die Sache selbst in die Hand genommen und sie befreit. Ach, und was deine Ahnen angeht – die hab ich getötet. Bis zum letzten Mann.« Ich halte inne und tippe mir mit dem Finger ans Kinn. Letzteres muss ich korrigieren. »Oder vielleicht ist getötet nicht ganz das richtige Wort, wenn man bedenkt, dass sie schon tot waren. Fakt ist, Cade, du bist allein. Deine untoten Spielgefährten haben sich verabschiedet. Diesmal für immer. Was bedeutet, dass in diesem Moment all die Seelen, die du gestohlen hast, zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückkehren. Und die Leute, die du versklavt hast, sind wieder in der Mittelwelt, wo sie nicht nur genesen werden, sondern auch vor der Art von Magie geschützt werden, die du niemals wirst überwinden können. Du wirst sie niemals wieder verletzen oder ihre Wahrnehmung manipulieren können. Was im Gegenzug bedeutet, dass dein Geschäft gestorben ist. Du hast keine Sklaven, keine Wächter und niemanden sonst, der bereit wäre, an deinem Wahn mitzuwirken.«

»Dafür wirst du bezahlen.« Er stürmt mit geballten Fäusten auf mich zu.

»Vielleicht, aber wahrscheinlich eher nicht.« Ich weiche vorsichtig zurück, je näher er kommt.

Nicht, weil er mir Angst macht – das tut er nicht.

Nicht, weil ich eingeschüchtert wäre – das bin ich nicht.

Sondern weil ich ihn auf mein Terrain locken will. Ich bemerke, dass das Gras unter seinen Füßen einen schnellen Tod stirbt, nur um wieder lebendig zu werden, sobald er weg ist. Doch jetzt, wo die Magie der verzauberten Quelle wiederhergestellt ist, jetzt, wo die Richters weg sind und der Schleier ihrer negativen Energie sich rasch auflöst, bin ich zuversichtlich, dass er nicht die Macht hat, um alles erneut zu verseuchen. Und da Wind ruhig ist und kein Protest von Rabe kommt, kann ich weitermachen.

»Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast.« Er funkelt mich an. Seine eisblauen Augen sind dunkel und stürmisch. »Keine Ahnung, wie du für deine idiotischen Übergriffe bezahlen wirst. Du bist so banal in deinem Denken. So dumm und konventionell. Jedes Mal, wenn ich dachte, es könnte noch Hoffnung für dich geben, tust du etwas Lächerliches wie die Seele deiner abuela retten oder meine Ahnen töten. Langsam glaube ich, ich habe dich falsch eingeschätzt, Santos. Mir selbst weisgemacht, du wärst eine Person von Substanz.«

»Oh, du hast mich zweifellos falsch eingeschätzt.« Unter dem Geräusch der sprudelnden Quelle, die nur wenige Meter von uns entfernt ist, lasse ich das Athame in meine Hand gleiten.

Er verdreht die Augen, tritt noch einen Schritt näher. »Wirklich ? Das schon wieder ? Die nächste Aufführung des Hexenkriegstanzes ?«

»Nachdem die letzte schon ein solcher Erfolg war, dachte ich mir, es sei eine Wiederholung wert.«

Er sieht mich an, von meinen Worten verwirrt, doch ich bin nur allzu gern bereit, ihn aufzuklären.

»Das ist dasselbe Messer, mit dem ich schon ziemlich heftige Verwüstungen unter deinen Vorfahren angerichtet habe. Mit recht wenig Mühe ihre Köpfe habe rollen lassen. Es ist aus, Cade. Wirklich. Und falls du mir nicht glaubst, dann schau dich mal um und sag mir, was du siehst.«

Er starrt mich lange an, doch letztlich gewinnt seine Neugier die Oberhand, und er lässt den Blick schweifen. Sieht sich das an, was ich auch sehe – wie die Unterwelt langsam heilt und zu ihrer früheren Schönheit und Pracht zurückkehrt.

Abgesehen von der Stelle direkt unter seinen Füßen, die mir weiterhin Sorgen macht.

Ich trete einen weiteren Schritt zurück, diesmal ein bisschen hastig, unsicher. Und typisch für das Monster, das er ist, nutzt er meinen Moment der Schwäche sofort aus.

Im Handumdrehen ist er bei mir, hat die Lücke zwischen uns geschlossen. Steht so nah bei mir, dass sein heißer Atem hart gegen meine Wange prallt, während Kojote knurrend an meiner Hand ziept.

Dies veranlasst Rabe zu laut krächzendem Protest, während Wind stärker wird und heftig auf Cade einpeitscht. Doch schon im nächsten Moment habe ich sowohl meinen festen Stand wiedergewonnen als auch meine Magie. Ich ziele mit zwei Fingern auf Kojotes rot glühende Augen und beobachte, wie er in winselnde Unterwürfigkeit verfällt.

»Beeindruckend«, sagt Cade, scheinbar ungerührt von dem Windstoß in seinem Rücken. »Aber wenn du dich noch einmal auch nur in die Nähe von Kojote wagst, bring ich dich um.«

»Versuch’s doch mal.« Ich schwenke das Athame neben mir und trete noch einen Schritt zurück. Verstohlen blicke ich bei meinem Rückzug auf seine Füße und halte erst inne, als der Boden sich nicht mehr verändert, sondern unter ihm fest und grün bleibt.

Er sieht mich durchdringend an und versucht, mir die Energie abzusaugen, mir die Seele herauszuziehen, doch es funktioniert nicht mehr. Er hat keine Ahnung, wie viel Macht ich besitze. Keine Ahnung, mit wem er es jetzt zu tun hat. Ich bin endlich die Suchende, die zu sein ich geboren bin.

»Jetzt hab ich dich, wo ich dich haben will.« Sein Blick verdunkelt sich. »Du und ich an der verzauberten Quelle. Genau wie in dem Traum. Das Einzige, was fehlt, ist Dace.«

Ich reibe die Lippen aneinander, gelähmt von dem beklemmenden Gefühl eiskalter Finger, die mir das Rückgrat hinauflaufen.

Er hat recht.

Es ist wirklich der Traum, der lebendig geworden ist.

Nur bekommt er diesmal ein neues Ende.

Und wenn es das Letzte ist, was ich tue – dafür sorge ich.

»So ist es.« Ich bleibe regungslos vor ihm stehen. »Aber du weißt ja, was man über Träume sagt – man kann sie auf so viele Arten interpretieren. Das Gleiche gilt für Prophezeiungen. Erst nachdem sich der Staub gelegt hat, kann man alles fixieren, den Worten eine feste Bedeutung beimessen und so tun, als sei das schon die ganze Zeit gemeint gewesen.«

Cade grinst. »Falls ich mich recht erinnere, ist das jetzt der Teil, in dem du mit meinem Zwilling ganz heiß zur Sache kommst. Sollen wir es nachspielen ?« Er lässt seine Zunge über die Lippen gleiten. »Da er schließlich nicht da ist, springe ich gerne für ihn ein. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Dann siehst du endlich, was du verpasst hast – den Unterschied zwischen einem Amateur und einem Profi.«

»Klar.« Ich zucke die Achseln und sehe ihn herausfordernd an. »Nur zu. Lass sehen, was du zu bieten hast.« Ich umfasse den Messergriff fester.

»Ladies first.« Er weist mit großer Geste auf die Quelle.

Ohne zu zögern, springe ich weg vom Wasser und auf ihn zu. Ich erfreue mich an Kojotes wildem, aber letztlich nutzlosem Knurren, da er noch immer unter meinem Bann steht, bin aber enttäuscht darüber, dass Cade nicht einmal zusammenzuckt, als ich ihm die Klinge meines Messers fest gegen die Wange drücke. Ich schabe ein breites Band Bartstoppeln ab, als ich es ihm über die Haut ziehe. »Träum weiter, Richter«, höhne ich. »So dringend werde ich es nie nötig haben.«

Ich ziehe die Klinge an der Krümmung seines Kinns entlang und führe sie bis zu der Kuhle an seinem Hals, fasziniert von der Ader, die lebhaft pulsiert. Voller Vorfreude erwarte ich den berauschenden Anblick, sie für immer stillgelegt zu sehen, wenn mir sein Kopf vor die Füße fällt.

Ich steche die Messerspitze hinein, tief genug, um ein bisschen Blut herauszulocken. Begierig darauf, einen dicken, sprudelnden Blutstrom zu sehen, presse ich die Lippen zusammen und drücke die Klinge fester hinein. Mein Blick ist verengt auf diese eine Stelle in Cades Fleisch – gebannt davon, wie sich die Haut so mühelos spaltet und das Blut auf der Stelle zu fließen beginnt. Hin- und hergerissen zwischen der Lust am Töten und dem echten Grauen davor, was ich als Nächstes tun werde.

Bei seinen Ahnen war es anders.

Die Untoten bluten nicht.

Wenn der Körper vor Leben pulsiert, fühlt es sich viel mehr wie Mord an.

Ich schlage mir diesen Gedanken aus dem Kopf. Setze an seine Stelle die Erinnerung an all die schrecklichen Dinge, die er getan hat, die Tatsache, dass er kein richtiger Mensch ist, dass seine Seele das personifizierte Böse ist …

Seine Finger umfassen mein Handgelenk und greifen fest zu, während er sich das Messer aus dem Hals zieht, das eine bestenfalls oberflächliche Wunde hinterlässt. Seine Berührung fühlt sich erstaunlich kühl an, als er meine Hand beiseitedrückt.

»Spiel nicht mit mir, Santos.« Er schiebt sein Gesicht dicht vor meines und lässt mir sein Blut auf die Brust tröpfeln, während er langsam und tief meinen Geruch einatmet, als wollte er sich daran gütlich tun. »Niemand wird gern umsonst scharfgemacht. Außerdem ist es ja nicht so, als hättest du es noch nie getan. Aber ich verspreche dir, du wirst ein paar neue Tricks lernen.«

Er zupft am Bund meiner Jeans, entschlossen, sie mir auszuziehen. Mit der anderen Hand sorgt er dafür, dass das Athame weit von seinem Fleisch entfernt bleibt.

Er ist abartig stark.

Stärker, als ich ihn in Erinnerung habe.

Doch das hindert mich nicht daran, meine Beine um seine zu schlingen.

Hindert mich nicht daran, ihn fest an der Kniekehle zu packen und seinen Schenkel nach vorne zu ziehen, bis er zwischen meinen steckt.

Von seinem leisen, lustvollen Stöhnen und der Art, wie er seine Hüften gegen meine reibt, ebenso angewidert wie angetrieben, nehme ich den letzten Rest meiner Kraft zusammen, um meine Brust hart gegen seine zu stoßen, während ich weiter an seinem Bein ziehe. Ich sehe zu, wie er unter mir wegrutscht und nach hinten stürzt, das Gesicht eine Maske von Schock und Wut, als er mit dem Kopf brutal auf die Erde schlägt.

Schnell lege ich nach und verliere keine Zeit, ehe ich ihm einen Fuß auf die Brust stelle und erneut das Messer an seinem Hals ansetze.

»Was zum …« Er bäumt sich wild auf, erzürnt darüber, plötzlich unter mir zu liegen. Seine Augen gehen vom gewohnten Eisblau in ein dunkel glühendes Rot über, während er sich freizukämpfen, meinen Griff abzuschütteln sucht. Schließlich gibt er auf und beginnt rückwärtszukriechen, langsam, aber gezielt in Richtung Quelle.

Doch ich darf ihn nicht dorthin gelangen lassen.

Darf das Risiko nicht eingehen, dass ihn das Wasser ermächtigt, ihn stärkt, so wie es bei mir gewesen ist.

Ich falle auf die Knie und packe ihn an seinen Jeans, zerre heftig an den Beinen und ziehe ihn in die andere Richtung, während er weiter mit mir ringt. Tretend und kämpfend, schnaubt und beißt er wie das Tier, das er ist. Er grinst triumphierend, als er ein Knie hochschwingt und es mit solcher Wucht in meinen Bauch rammt, dass ich mich vor Schmerz krümme.

Vage vernehme ich Rabes aufgeregtes Krächzen und spüre, wie Wind auf allen Seiten um mich herumpeitscht. Ich keuche heftig und ringe mühsam darum, wieder etwas Luft in die Lungen zu kriegen. Dabei versuche ich die ganze Zeit, aus Cades Reichweite zu bleiben, doch dafür ist es zu spät.

Er hat mich bereits um die Taille gefasst.

Die Arme um mich geschlossen.

Mich niedergerungen, bis ich dicht an ihn gepresst daliege.

Was mir keine andere Wahl lässt, als mich freizukämpfen. Darum zu kämpfen, das Athame in der Hand zu behalten, indem ich es wild umherschwenke und auf alles in Reichweite einsteche. Doch Cade ist zu wendig. Zu flink. Lässig weicht er der Klinge aus, bis ich nach Luft schnappe.

Und schließlich rollt er mich herum, sodass ich unter ihm feststecke. Sein Körper liegt dicht auf meinem, sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter entfernt, und er blickt mit einem boshaften Glitzern in den Augen auf mich herab.

Seine Finger nähern sich dem Messer, während ich verzweifelt die Arme über den Kopf hebe. Alle Sehnen bis zum Anschlag gespannt, wechsele ich das Messer zwischen meinen Händen hin und her, mit dem einzigen Ziel, ihm einen Schritt voraus zu bleiben. Trotzdem bin ich ihm nicht gewachsen.

Cade ist größer.

Seine Arme sind länger.

Womit mir keine andere Wahl bleibt, als das Messer zu opfern, indem ich es an eine Stelle werfe, die keiner von uns erreichen kann. Schon im nächsten Moment umfasst er meine Hände mit seiner Faust, drückt sie mir hoch über den Kopf und betatscht mich mit seiner freien Hand. Dabei tut er so, als würde er meinen Widerstand missverstehen, und legt die Tatsache, dass ich mich verzweifelt unter ihm winde, um mich irgendwie zu befreien, als Zustimmung aus.

Vor Ekel schließe ich die Augen. Wappne mich vor dem Zugriff seiner Finger, die über meinen Körper wandern, während er die Hüften kreisend gegen meine presst, im Takt mit meinen verzweifelten Versuchen, seine Last abzuschütteln. Ein tiefes Stöhnen entringt sich seiner Kehle, als er nach dem Wildlederbeutelchen zwischen meinen Brüsten greift.

Er will mich in jeder denkbaren Weise meiner Macht entledigen.

Will mich demoralisieren, indem er mich hilflos und schwach macht.

Er weiß, dass in dem Moment, in dem er hineinsieht, die Magie der Talismane verloren ist.

Er weiß, dass er in dem Moment, in dem er mich vergewaltigt, gewonnen hat.

Ich wende den Kopf zur Seite, presse die Wange in den Staub, während ich verzweifelt nach Rabe Ausschau halte. Erleichtert stelle ich fest, dass er nach wie vor bei mir ist und nur wenige Meter entfernt hockt. Sein aufgeregtes Kreischen verstummt mit einem Mal, doch in seinen Augen liegt ein Glanz, den ich noch nie gesehen habe. Ihr Glitzern wird immer intensiver, als Cade einen Finger um das Band schlingt und der Beutel zu zittern und sich zu erhitzen beginnt.

Ich bäume mich weiterhin erbittert gegen ihn auf, doch so wie er auf mir liegt und mich mit beiden Beinen in die Zange genommen hat, habe ich nicht viel Schubkraft.

»Ich wollte schon immer wissen, was ihr Seeker eigentlich in diesen Beuteln habt«, sagt er. »Jetzt werde ich es wohl erfahren.«

Er zerrt an dem Zugband, während ich nicht aufhöre, mich zu winden und mit allem, was in mir steckt, Widerstand zu leisten. Ich versuche, meine Magie heraufzubeschwören – den Wind herbeizurufen. Das Athame in meine Hand zurückzubeordern, damit ich es Cade in die Augen stechen und dafür sorgen kann, dass er mich nie wieder so lüstern anglotzt. Doch mit seinem Körper, der meinen bedeckt, blockiert er irgendwie meine Magie.

Das ist die einzige Erklärung dafür, dass sie mich auf einmal im Stich lässt.

Die einzige Erklärung dafür, warum der Wind nachlässt, Rabe verstummt und Kojote, nun von meinem Bann befreit, mit der Schnauze gegen meine Stirn stößt und ein bedrohliches Knurren von sich gibt.

Da ich keine Alternative habe, befeuchte ich meine Zunge und ziele. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, als der Speichelklumpen mitten zwischen Kojotes gruseligen Augen landet. Die Tat verursacht genau die Ablenkung, auf die ich gehofft hatte, als er erbost aufjault und Cade vorübergehend seinen Griff lockert. Das genügt mir, um eine Hand freizubekommen und sie ihm fest auf den Schädel zu donnern.

Doch schon im nächsten Moment hat er sich gefangen und mich erneut zu Boden gedrückt. Mit zornesrotem Gesicht faucht er mich an. »Komm mir bloß nicht dumm. Ob es dir passt oder nicht, bald gehörst du mir …«

Er fährt mit der Hand an seine Jeans, öffnet den Reißverschluss und schiebt sie sich über die Hüften. Als er sie da hat, wo er sie haben will, nämlich um die Knie herum zusammengekrempelt, greift er erneut nach meinem Beutelchen. »Eins nach dem anderen«, flötet er und reißt grob an dem Zugband; einmal, zweimal …

Und auf einmal jault Kojote vor Schmerz auf, und Cades Pupillen drehen sich nach hinten, als er von einer unsichtbaren Macht hochgehoben und in die Luft geschleudert wird.

Ich springe auf und schaue zu Rabe hinüber, überzeugt davon, dass er irgendwie dafür verantwortlich ist. Doch dann höre ich meinen Namen, und als ich herumwirbele, steht Dace dort. Sein Bruder ist nur noch ein jämmerlicher Haufen in weiter Ferne.

Ich stürze mich in seine Arme. Meine Erleichterung, ihn zu sehen, löscht sämtliche Ängste aus, die ich in Bezug auf sein Erscheinen hier hegte. Obwohl es sich womöglich auf die Prophezeiung auswirkt, hat sich diese eindeutig bereits verändert. Dace und ich sind zusammen. Das ist das Einzige, was zählt.

»Gerade noch rechtzeitig ! Wenn du nur eine Sekunde später gekommen wärst …« Ich verstumme und denke mit Schaudern daran, was mir beinahe zugestoßen wäre. Ich lehne mich an seine Brust und suche den Trost und die Wärme seines Körpers.

»Kein Grund zur Sorge.« Seine Lippen finden meine Stirn, meine Wangen. »Ich bin da. Ich werde immer da sein. Es gibt nichts zu befürchten. Er wird dir nie mehr zu nahe kommen. Dafür sorge ich.« Er flüstert sein Versprechen, begleitet von der beruhigenden Hand, die mir über den Rücken streicht, ehe er sie um mich legt und mich an sich zieht.

Ich presse die Wange auf das goldene Schlüsselchen auf seiner Brust und stoße hervor: »Ich habe dich am Zaun gesehen. Ich dachte, du würdest …«

»Psst.« Er presst mir einen Finger auf die Lippen. »Das war ganz anders, als du dachtest. Ich würde unsere Liebe niemals aufgeben. Niemals.«

Ich hebe eine Hand zu seiner Wange und muss mich davon überzeugen, dass sich die Worte in seinen Augen widerspiegeln, wobei ich erstaunt feststelle, wie verändert er ist.

Er ist dunkler.

Härter.

Seine Energie ist befremdlich und unruhig und spendet nur einen Bruchteil des gewohnten Stroms an bedingungsloser Liebe, den ich gewohnt bin.

Und als mein Blick seinen findet, ist es, als sähe ich Cade an. Sein Blick ist dunkel, unergründlich und reflektiert nicht.

»Dace, was ist geschehen ?«, frage ich, außerstande, meine Panik zu unterdrücken. Betroffen sehe ich zu, wie er sich hastig abwendet, als schämte er sich zu sehr, um sich anschauen zu lassen.

»Nicht. Schau mich nicht an. Bitte. Ich erklär’s dir später. Sowie es vorbei ist, erzähl ich dir alles. Glaub mir einfach, dass ich getan habe, was ich tun musste. Ich hab’s für uns getan. Für dich. Und es ist nichts, was man nicht rückgängig machen könnte. Aber bitte, ich kann es nicht ertragen, wenn du mich so siehst.«

Er weicht zurück, doch ich packe ihn am Arm und ziehe ihn wieder an mich. »Wer hat dir das angetan ?« Ich fasse nach seiner Wange, da ich ihm noch einmal in die Augen sehen muss, um zu erkennen, ob es wirklich so schlimm ist, wie ich glaube, doch er reißt sich los.

»Daire, bitte !«, schreit er, und aus seinen Worten klingt entsetzliche Seelenpein. »Was du siehst, bin nicht ich. Ich bin immer noch hier drin, ich schwör’s. Aber ich …«

Ich bin zu erschüttert, um mich zu regen.

Ich kann mich kaum auf seine Worte konzentrieren, als er weiterspricht. »Es ist nur vorübergehend. Ich musste es tun, um dich zu retten. Es wird alles gut, du wirst sehen.«

Ich suche in seinen Augen und hoffe auf Aufschluss darüber, was das heißen könnte.

»Ich weiß, wie die Prophezeiung endet«, sagt er, und bei diesen Worten läuft es mir eiskalt über den Rücken. »Es ist genauso wie in meinem Traum, und ich lasse dich nicht sterben.«

Ich schüttele den Kopf, denn er muss begreifen, dass es nicht so ist, wie er glaubt. »Du hast es völlig falsch verstanden. So geht es nicht aus, das bedeutet es nicht !« Doch meine Worte stoßen auf taube Ohren.

»Doch, es ist so, Daire. Genau so kommt es. Ich habe es schon allzu oft geträumt. Die Zeichen der Zeit gesehen – buchstäblich. Und auch wenn ich nichts dagegen tun kann, dass der Himmel Feuer blutet – ich werde tun, was ich kann, um die Finsternis daran zu hindern, dein Licht zu löschen.«

»Aber ich bin nicht das Licht, so endet der Traum nicht ! Du bist …«

Meine Worte werden von Cade unterbrochen, der auf uns zugeschlendert kommt und sich gelassen Schmutz von den Kleidern und aus den Haaren wischt, während sein getreuer Kojote neben ihm hertrottet.

»Ach, ist das nicht eine rührende Szene ?« Er bleibt vor uns stehen und grinst Dace an, als wäre er der sehnlich erwartete Sondergast. »Du hast ja einen ganz schönen Schlag, Bruder, wer hätte das gedacht ?« Er lacht. Dehnt den Hals nach beiden Seiten. Doch abgesehen von dem Schmutz auf seiner Kleidung sieht er wie neu aus.

Dace stellt sich vor mich, um mich zu schützen, und schiebt verstohlen die Finger in seine Jackentasche. »Dachte mir schon, dass ich dich hier unten finden würde, wo du einen Wutanfall inszenierst und schmollst wie das Kind, das du eigentlich bist. Wie viele Leute müssen leiden, nur weil du es nicht schaffst, Leandro zu beeindrucken ?« Er schüttelt den Kopf. »Wir wissen alle von deinem jämmerlichen Drang nach seiner Anerkennung. Bestimmt fühlst du dich ziemlich mies, wenn er dich so anbrüllt.«

Dace sieht ihn finster an, während ich hektisch zwischen beiden hin- und herschaue. Und es genügt das kaum wahrnehmbare Zucken von Cades Schultern, um zu wissen, dass Dace den wunden Punkt getroffen hat.

Es erinnert mich an etwas, was ich einmal zu Paloma gesagt habe, als ich Cade folgendermaßen beschrieben habe: ein psychopathisches, dämonisches Monster – angetrieben vom erbärmlichen Drang, Leandro zu beeindrucken, indem er die Herrschaft über die ganze Welt erringt.

Es ist der winzige Kern Menschlichkeit, der tief in ihm verborgen liegt.

Bei der Mine – Cades Präsenz in der Unterwelt – geht es nur zum Teil darum, ein Vermögen anzuhäufen und die Mittelwelt zu kontrollieren. Im Grunde ist es ein Unterfangen, um seinen Dad zu beeindrucken. Er ist bereit, unzählige Leben zu zerstören, um die Anerkennung seines Vaters zu erringen. Und laut Dace hat er auf ganzer Linie versagt.

Xotichl und Paloma hatten recht – er ist eindeutig ein Mensch.

Was aber nicht heißt, dass ich ihn nicht töten werde.

»Ich habe direkt vor der Tür gestanden und gehört, wie er dich verbal in Fetzen gerissen hat«, fährt Dace fort. »Habe gehört, wie du gebettelt hast – mit hoher, winselnder Stimme –, als er dich zur Schnecke gemacht und sich geweigert hat, dir zuzuhören. Siehst du, wie ich grinse ?« Er baut sich vor ihm auf und zeigt mit dem Finger auf sein breites, hohles Grinsen. »Das ist gar nichts im Vergleich dazu, wie ich in dem Moment gegrinst habe.« Er hält inne und tut dann so, als sei seine nächste Äußerung nur ein Nachgedanke. »Ach, und übrigens, wenn du dich noch mal in die Nähe meiner Freundin wagst, bist du tot.« Er zieht die Hand aus der Tasche und bringt das Blasrohr zum Vorschein, das letztes Mal nicht so gut funktioniert hat. Doch sein Gesicht beweist seine restlose Überzeugung, dass es beim zweiten Mal gelingen wird. »Aber eigentlich bist du so oder so tot. Also sag adieu, Bruder.«

Rabe krächzt.

Wind wirbelt um meine Füße.

Kojote duckt sich, senkt den Kopf und fletscht die Zähne.

Während ich ein paar Schritte zurückgehe, mich bücke und das Messer aufhebe.

Ungerührt von der Drohung gegen sein Leben, stürzt Cade auf Dace zu, bis nur noch der Hauch eines Abstands zwischen ihnen liegt. Mit durchdringendem Blick herrscht er ihn an: »Was hast du getan ?«

Er beugt sich vor und versucht, Dace am Hemd zu packen. Doch Dace weicht ihm aus und hebt das Blasrohr an die Lippen, während ich das Messer fest umklammere. Ich bin sicher, dass ich von hier aus locker ins Schwarze treffe.

Cade wirbelt herum, seine Augen lodern rot. »Bist du sicher, dass du das probieren willst, Santos ?«

Ich sehe erst den einen und dann den anderen an. Registriere, dass es abgesehen von den Haaren keinen erkennbaren Unterschied mehr zwischen ihnen gibt. Die Augen von Dace sind so hohl und leer wie die seines Bruders.

»Daire, lass es. Ich hab das hier«, sagt Dace, ein Auge geschlossen, das andere auf Cade fixiert, und zielt.

Und obwohl ich keine Ahnung habe, was ihn derart verändert hat, ist nun mein erstes Ziel, die Prophezeiung daran zu hindern, sein Leben zu fordern – sein Licht. Also atme ich scharf ein und schleudere das Athame zur gleichen Zeit, wie Dace den Pfeil abfeuert.

Fasziniert verfolge ich, wie es bei seinem Flug glitzert – einen rasanten, silbernen Blitz durch die Luft beschreibt. Schließlich überholt es den Pfeil und bohrt sich tief in Cades Hals, genau, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Nur dass es nicht mehr Cade ist.

Der Dämon ist an seine Stelle getreten.

Er hakt eine scharfe Kralle um den Griff, zieht die Klinge heraus und wirft das Messer zu Boden, wo es mit einem dumpfen Schlag neben seinen unförmigen, klauenbewehrten Füßen aufkommt.

Der Anblick ist so verblüffend, so unfassbar, dass ich verwirrt blinzele. Außerstande, zu begreifen, weshalb Cade monströs und grinsend vor mir steht, Messer und Pfeile unbeachtet zu seinen Füßen, während Dace auf die Knie bricht und ihm das Blut aus der Wunde strömt, die eigentlich seinem Bruder zugedacht war.

Cade sieht mit unbewegter Miene zwischen uns hin und her und hebt mit tonloser Stimme zu sprechen an. »Ich hab dir doch gesagt, dass wir verbunden sind. Aber vielleicht habe ich vergessen zu erwähnen, wie tief. Also darf ich dich jetzt aufklären. Um mich zu töten, musst du mich in menschlicher Form erwischen. Aber sei gewarnt, ich sterbe nicht allein. Ich nehme meinen Bruder mit. Und ob du es glaubst oder nicht, mir ist es lieber, wenn er am Leben bleibt.« Er fixiert mich durchdringend mit seinen rot glühenden Augen. »Oh, eventuell greife ich gelegentlich auf Kojote zurück, um ihn auf Kurs zu halten – die Wunden, die er Dace zufügt, machen mir nichts aus. Was ihr alle beide berücksichtigen solltet, wenn einer von euch das nächste Mal Mordgelüste kriegt.«

Seine Worte machen mich perplex und sprachlos. Ich starre erst den einen und dann den anderen an, entsetzt von einer Wahrheit, die auf einmal real geworden ist.

Cade zu töten bedeutet, Dace zu töten.

Es ist eine unfassbare Wahl, die ich niemals treffen könnte.

Und doch muss ich.

Dazu wurde ich geboren.

Ist es das, was Paloma meinte, als sie mich warnte, dass das Leben einer Suchenden große Opfer erfordert ?

Hat sie die ganze Zeit schon vermutet, dass wir von Anfang an verdammt waren ?

Cade ragt bedrohlich vor mir auf, wobei sein Monstergesicht belustigt dreinblickt, als fände er das alles wahnsinnig amüsant. Dace ignoriert den Blutstrom, der nun aus seinem Hals rinnt, und greift nach Cades Fesseln, seinen Knien, im Versuch, ihn daran zu hindern, auf mich loszugehen.

Doch als ausgewachsener Dämon besitzt Cade gewaltige Kräfte. Er lässt sich nicht so leicht überwältigen. Und so fegt er Dace mit einem Tritt weg und würdigt ihn kaum eines weiteren Blickes. »Mach dir keine Sorgen um ihn«, sagt er zu mir. »Er hat Schmerzen, und das hat er dir zu verdanken. Aber du zielst nicht besonders gut. Du hast die Hauptschlagader verfehlt. Jedenfalls hast du jetzt schon zweimal versucht, mich zu töten, was mich glauben macht, dass ich dir nicht mehr vertrauen kann. Du hast dein Pulver verschossen, Seeker. Du bist die Letzte deiner Linie. Es war interessant, aber bilde dir bloß keine Sekunde lang ein, dass ich dich vermissen werde.«

Hinter ihm hechtet Dace nach dem Messer, bereit, sich zu opfern, um mich zu retten.

Ein selbstloser Akt, der mir bestätigt, dass immer noch er da drinnen steckt.

Irgendwo.

Ich habe ihn nicht völlig verloren.

Doch er ist Cade nicht gewachsen.

Mit einer schnellen Handbewegung hat sich Cade bereits das Messer geschnappt und stürmt auf mich zu.

Rammt mir das zweischneidige Messer mitten in die Brust, wobei die Klinge ein grässliches Kratzgeräusch macht, als sie an dem Schlüssel vorbeischrammt.

Ich stolpere rückwärts. Sein grausiges Dämonengesicht verschwimmt vor meinen Augen, während ich die Wunde in meinem Fleisch betaste. Beklommen sehe ich auf meine Hände, die jetzt in Rot getaucht sind.

»Tut weh, was ?« Cade grinst. Er lässt die seelenraubenden Schlangen aus seinem Mund springen, direkt auf das klaffende Loch in meiner Brust zu.

Es ist genau wie in dem Traum. Genau wie in der Prophezeiung. Nur dass ich es geschafft habe, das Ende zu verändern. Statt dass Dace stirbt, bin ich an seine Stelle getreten.

Ich halte den Gedanken fest und sehe ihn sich entwickeln. Sehe zu, als würde es mit jemand anders passieren.

Meine Hände hängen vor mir herab, nutzlos und schlapp. Ich will Dace so unbedingt sagen, dass ich ihn liebe und dass es mir leidtut, ihn so zurückzulassen.

Doch die Worte werden schon bald von einem Strom von etwas Metallischem und Bitterem erstickt, das sich in meiner Kehle ballt.

Blut.

Mein Blut.

Und es hört nicht auf. Es kommt einfach so viel davon.

Rabe kreischt.

Kojote jault voll ungestümer Begeisterung.

Cade brüllt seinen Sieg heraus, jedoch mit einem frustrierten Unterton.

Als Dace nach mir ruft, wieder und wieder meinen Namen schreit, klingt seine Stimme heiser, gequält. Doch es dauert nicht lange, da verklingen die Laute, als würden sie durch zu viele Lagen gefiltert, um richtig vernommen zu werden – als kämen sie von einem Ort, der in immer weitere Ferne rückt.

Mein ganzer Körper erschauert.

Mein Atem geht in verzweifelten, abgehackten Zügen – und manchmal atme ich überhaupt nicht mehr.

Wenn da nicht diese starken Arme wären, die mich halten, würde ich fallen – an einen Ort stürzen, von dem ich nie mehr zurückkäme.

Wenn diese starken Arme mich nicht schützen würden, wäre es Cade gelungen, meine Seele zu stehlen.

Ich will Dace sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Will ihm von dem goldenen Wesen erzählen, das sich meiner annimmt – den leuchtenden Händen, die mich halten –, doch die Worte wollen nicht kommen.

Schweig, gurrt das Wesen, als es mit einem langen goldenen Finger über meine Lippen streicht.

Aber ich habe gar nicht gesprochen, ich hab’s versucht, aber ich kann nicht.

Bring deine Gedanken zum Schweigen.

Ich tu’s. Eine Zeit lang. Aber dann melden sie sich wieder.

Wohin gehen wir ? Wohin bringst du mich ?

Hinauf.

Mir fallen die Augen zu. Ich nehme nach wie vor das Licht wahr, das hinter meinen Lidern scheint, bin aber zu müde, um Dinge zu betrachten, die ich nicht verstehe. Ich ziehe es vor, mich in diesem warmen, überschäumenden Gefühl von Geborgenheit und Liebe zu baden, das es bringt.

Du musst die Sonne sein ! Der Gedanke durchzuckt mich – und ich reiße die Augen wieder auf. Versuche, seine Form auszumachen, doch das Einzige, was ich sehen kann, ist ein strahlender goldener Fleck. Ich habe Dace erklärt, dass er sich irrt, und gesagt, es gebe keine Sonne in der Unterwelt. Das ist nur eine Fabel, die ihm Leftfoot erzählt hat, als er noch ein Kind war. Aber ich habe mich getäuscht, oder ?

Sehe ich aus wie die Sonne ?

Ich zwinkere und ringe darum, das zu erkennen, was bis jetzt verborgen geblieben ist. Beglückt schnappe ich nach Luft, als das Leuchten gerade so weit schwindet, dass die Züge schärfer hervortreten und sich allmählich ein Gesicht herausbildet.

Der Teint ist hell, als wäre er aus Lichtstrahlen geformt. Das Haar so hellblond, dass es fast so weiß ist wie die Haut. Doch die Augen stehen in scharfem Kontrast dazu, denn die Iriden, die auf mich herabblicken, sind von einem ungewöhnlichen, aber schönen Lavendelton.

Und ehe ich reagieren kann, fühle ich es.

Die schlanken Finger des Todes schlingen sich um mich.

Angekündigt durch das leise Summen und Brummen, mit dem mich meine Lebenskraft verlässt.

Meine körperliche Seite aus Fleisch und Blut schwindet dahin. Ergibt sich. Lässt die Seele übernehmen. Damit sie mich immer höher hinaufträgt – so hoch, wie ich es wage.

Das Gefühl ähnelt dem, als ich in den Wasserfällen am Ertrinken war. Das leuchtende Wesen ist ebenfalls ähnlich. Es ist das gleiche leuchtende Wesen, dem ich damals, auf diesem Platz in Marokko, vorgeworfen habe, mich zu verfolgen. Doch jetzt weiß ich es besser.

Du erinnerst dich also ? Er strafft seinen Griff, als ich bestätigend nicke.

Nur dass es diesmal anders ist.

Diesmal hat sich die Prophezeiung erfüllt.

Die andere Seite der Mitternachtsstunde läutet als Vorbote dreimal

Seher, Schatten, Sonne – zusammen kommen sie

Sechzehn Winter weiter – dann wird das Licht gelöscht

Und Finsternis steigt auf unter einem von Feuer blutenden Himmel

Nur dass anstelle des Lichts ich ausgelöscht wurde. Aber wenigstens ist Dace in Sicherheit.

Stimmt’s ?

Stimmt’s ?

Du stellst zu viele Fragen. Du musst ruhen. Wir sind bald da.

Ich schließe erneut die Augen und benutze meine verbliebenen Kraftreserven für eine letzte Frage: Kannst du es bitte schneien lassen ? Würdest du das für sie tun ?

Nicht nötig, lautet die Antwort. Du hast bereits dafür gesorgt.

Meine Mundwinkel wandern nach oben, und meine Wangen werden nass von Tränen, während ich nach dem blutverkrusteten Schlüssel auf meiner Brust taste und die Finger darum schließe. Wenigstens hinterlasse ich ihnen das …

Mein Blickfeld verengt sich auf einen ganz winzigen Punkt, nicht größer als ein Molekül. Erstaunt stelle ich fest, dass das Molekül ich bin – und dass ich mit allem verbunden bin.

In der Ferne ertönt ein gequälter Schrei, doch ich bin sicher, er gilt nicht mir.

Warum auch ?

Ich bin in Sicherheit.

Geliebt.

Umgeben von Licht, so warm und leuchtend wie ein Kuss.

Mein Herz flattert.

Meine Lungen quellen über von Atem.

Und im nächsten Augenblick breche ich durch ein herrliches, aus Seide gewobenes Gespinst – hinein in eine Welt aus strahlend goldenem Licht.