Dreiundzwanzig
Dace
Ich spüre sie, sowie ihre Mutter in den Parkplatz einbiegt.
Der Schwall ihrer Energie ist wie ein Cocktail für die Sinne, der mich nach mehr lechzen lässt.
So gebannt bin ich von Daires Gegenwart, dass ich Litas Worte beinahe überhöre. »… und dann sage ich, Phyre ?« Sie spielt eine Szene vom Vortag nach, indem sie das gleiche Mienenspiel, den gleichen Haarschwung theatralisch wiedergibt, damit wir sehen können, wie es abgelaufen ist. »Und sie war es tatsächlich«, fährt Lita fort. »Sie ist wieder in Enchantment. Ist das zu fassen ? Ich hätte geschworen, dass sie ein für alle Mal weg sind.«
»Phyre ?« Ich starre Lita an, obwohl ich eigentlich eher durch sie hindurchsehe. Der Name allein genügt, um mich in eine Vergangenheit abtauchen zu lassen, die ich längst begraben hatte. Und an die ich kaum mehr denke.
Lita schüttelt den Kopf und sieht mich mit dramatischem Augenrollen an. »Ähm, hallo ? Ja, Phyre. Was glaubst du, wovon ich die ganze Zeit rede ?«
»Dann ist sie also wieder da ?«, sage ich, auch wenn ich weiß, dass die Frage sie bloß ärgern wird, aber ich habe die Einzelheiten eben beim ersten Mal verpasst. Jetzt brauche ich die Bestätigung, dass es das ist, was ich denke.
Lita setzt eine übertrieben geduldige Miene auf und befleißigt sich eines ebensolchen Tonfalls. Sie benimmt sich, als hätte sie es mit einem schwierigen Kind zu tun, dem man alles haarklein erklären muss. »Ich habe sie gestern in der Stadt gesehen. Sie ist eindeutig wieder hier. Sie geht sogar auf die Milagro. Meinte, sie würde nach den Winterferien anfangen …«
Sie erzählt weiter, aber ich höre schon nicht mehr zu. Ich habe genug gehört.
Phyre.
Hier.
Auf der Milagro High.
Ich will den Gedanken abschütteln, doch er ist hartnäckig und löst einen wirren Schwall lange vergessener Bilder in meinem Kopf aus. Die Diashow läuft zum Soundtrack meiner eigenen Stimme ab, die mich warnt: Du kannst nicht umkehren. Warum solltest du auch ?
Und dann, sofort nachdem ich es gedacht habe, begreife ich, dass ich das gar nicht will.
Umkehren.
Niemals.
»Wow«, sagt Xotichl. Immer wieder verblüfft sie mich mit ihrer Fähigkeit, so viel Bedeutung in ein einzelnes, scheinbar harmloses Wort zu packen. Sie neigt den Kopf in meine Richtung und liest offenbar meine Energie. Versucht zu erfassen, wie ich die Neuigkeit aufnehme. Was es für mich heißt. Was es für Daire heißt.
Ich quittiere ihren schief gelegten Kopf mit einem Achselzucken und hoffe, sie spürt es und sagt sich beruhigt, dass mir die Neuigkeit nichts bedeutet. Ich könnte sie interessant finden. Unerwartet. Aber nicht mehr.
»Apropos …« Jacy zeigt dorthin, wo Phyre gerade aus einem staubigen, weißen Auto steigt. Sowie sie uns erblickt, setzt sie ein breites Lächeln auf.
Sie hat sich verändert. Sieht ganz anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr Haar ist noch immer wild, doch die roten Strähnchen sind neu. Und sie ist eindeutig größer. Und hübscher. Als wäre der Babyspeck, der früher ihre Wangen gepolstert hat, an weiblichere Stellen gewandert, wodurch ihr Gesicht zu einer gelungenen Komposition aus prägnanten Kanten und Kurven reifen konnte.
Ich reibe mir das Kinn. Versuche wegzusehen, doch es ist sinnlos. Es ist, als sähe ich einen Geist aus der Vergangenheit herbeigeschwebt kommen, und ich kann nichts weiter tun als tatenlos zuschauen. Dabei sage ich mir, dass es gar nichts bedeutet hat, dass wir noch Kinder waren und gar nicht richtig wussten, was wir eigentlich taten.
Okay, vielleicht nicht gerade Kinder.
Kinder tun nicht das, was wir getan haben.
Trotzdem ist eine Menge Zeit verstrichen. Und in dieser Zeit hat sich vieles verändert. Eigentlich hat sich alles verändert. Zumindest für mich. Und nach ihrem Äußeren zu urteilen, hat sie auch gewisse Umwälzungen erlebt.
Sie begrüßt uns und lässt den Blick über uns schweifen, ehe sie bei mir innehält und mich lange genug ansieht, um mich eingehend zu mustern. Ich erwidere ihren Blick ein paar Sekunden zu lang – so lang, dass es alle mitkriegen. Schließlich räuspert sie sich und sagt: »Also heißt das etwa, dass ihr jetzt alle Freunde seid ? Wie kam es denn dazu ?«
»Das hat Daire bewirkt.« Xotichl hebt das Kinn und rümpft die Nase, als sie Phyres Energie wahrnimmt. Dass sie nicht lockerer wird, lässt mich vermuten, dass sie nicht gutheißt, was sie sieht. »Daire ist die Freundin von Dace.« Die Worte kommen so pointiert heraus, dass Phyre die Lippen aneinanderreibt und den Blick auf ihre Füße senkt.
»Dann ist sie sicher umwerfend«, sagt Phyre, wobei ihre Augen ein klein wenig zu grell blitzen. »Also, kann mir vielleicht irgendjemand sagen, wo das Sekretariat ist ? Ich muss mich anmelden.«
Sie wendet sich mir zu, wohl in der Hoffnung, dass ich mich erbiete, doch ich tue so, als hätte ich sie nicht gehört. Schließlich versetzt Lita Jacy einen unsanften Stoß in die Seite, und im nächsten Moment gehen Jacy und Crickett mit Phyre davon.
Sie sind noch nicht ganz außer Hörweite, als Xotichl die Stirn runzelt und Lita sagt: »Das gefällt mir nicht.« Sie schaut den dreien nach, während sie nachdenklich die Lippen verzieht. »Mir gefällt nicht, was das für mich bedeuten könnte.« Ihre Worte fordern Xotichl und mich förmlich auf, sie um eine nähere Erläuterung zu bitten. Doch wir wissen beide, dass das gar nicht nötig ist. Lita brennt regelrecht darauf, sich zu erklären. Sie muss nur noch ihre Gedanken sortieren. »Ich meine, schaut euch doch nur an, wie sie hier einfach angestapft kommt und sich einschleicht. Früher ist sie immer von einer Clique zur anderen gehüpft und hat sich mir nichts, dir nichts mit allen abgegeben. Ich habe Jahre gebraucht, um auch nur in Erwägung zu ziehen, euch zu akzeptieren.« Sie hält inne, als sie begreift, was sie soeben gesagt hat. Achselzuckend spricht sie weiter. »Ist nicht böse gemeint. Aber trotzdem …«
Sie quasselt weiter und wägt das Für und Wider von Phyres plötzlichem Wiederauftauchen ab – und wie es sich auf ihre eigene Beliebtheit auswirken könnte. Entweder kriegt sie gar nicht mit, dass ihr kein Mensch richtig zuhört, oder ihr ist völlig gleichgültig, dass Xotichl in ihre eigenen Gedanken versunken ist, während ich wie der Teufel darum ringe, mich nicht umzudrehen und Daire anzusehen.
Einerseits sehne ich mich danach, sie zu sehen – und andererseits weiß ich, dass wir uns das auf gar keinen Fall erlauben dürfen.
Dummerweise setzt sich mein unvernünftiger Teil durch. Getrieben von Daires auf mir lastendem Blick, mit dem sie mich bittet, mich umzudrehen. Sie anzusehen. Und ohne weiteres Zögern tue ich es.
Und ich sehe ihr selbst dann noch nach, als Chay längst mit ihr weggefahren und sie aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.