Neunundzwanzig
Dace
Als ich bereit bin, ihr gegenüberzutreten, gehe ich durch die Tür. Biete alle meine Sinne auf, genau wie es mich Leftfoot gelehrt hat, um Daire in der Menschenmenge ausfindig zu machen. Und sowie ich sie sehe, kommt alles zum Stillstand.
Der Lärm lässt nach.
Das Licht schwindet.
Der Raum wird still und diesig, ausgenommen die Wolke aus weichem, goldenem Licht, die sie umgibt.
Sie ist schön.
Das wusste ich natürlich bereits. Doch ihr Anblick jetzt, mit dem wallenden Haar und ihrem Blick, der sich in meinen einbrennt, versetzt mich sofort zurück zu dem Tag an der verzauberten Quelle. Erinnert mich daran, wie sie aussah, als sie unter mir lag, direkt nachdem wir …
Ich schüttele den Kopf, kontrolliere erneut meine Tasche, um mich zu vergewissern, dass ihr Geschenk noch da ist, und gehe auf sie zu. Schon habe ich mit einigen wenigen Schritten den halben Raum durchquert, da dreht sie sich stehenden Fußes um und rast zur Hintertür, während sich Lita vor mir aufbaut. »Das ist für dich.« Sie drückt mir einen kleinen, rechteckigen Umschlag in die Hand. »Bitte denk daran, dass das nicht von mir stammt. Wenn es also so öde ist, wie ich glaube, erschieß nicht die Überbringerin der Botschaft. Und sag bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Sie winkt jemandem auf der anderen Seite des Raums zu und lässt mich stehen, während ich den Umschlag immer wieder gegen die Handfläche schnippe. Er ist von Daire, das weiß ich immerhin. Da ich aber seinen Inhalt nicht erspüren kann, zögere ich, ihn zu öffnen.
Ist es eine Art offizieller Abschiedsbrief ?
Eine Art Bekanntgabe eines Sinneswandels etwa folgenden Inhalts: Ich weiß, du glaubst, du hättest mit mir Schluss gemacht, aber in Wirklichkeit mache ich mit dir Schluss.
Ist sie deshalb zur Hintertür hinausgestürmt, sowie sie mich gesehen hat ?
Oder leide ich nur an Verfolgungswahn ?
»Vielleicht machst du am besten mal den Umschlag auf und siehst nach«, sagt Xotichl, die in meiner Energie liest, während sie zu mir herüberkommt.
Sie hat natürlich recht. Es ist Unsinn herumzuspekulieren. Ich schiebe einen Finger unter die Lasche und ziehe ein Blatt aus cremefarbenem Papier heraus, auf das von Hand eine Landkarte gezeichnet ist, was mir zwar auf den ersten Blick nichts sagt, aber zumindest auch nicht so schlimm ist, wie ich befürchtet habe.
»Soll ich raten ?«, fragt Xotichl grinsend, als Auden sich von hinten an sie anschleicht und ihr einen Kuss auf die Wange drückt.
Ich reiche ihr die Landkarte und starre auf meine Füße hinab. Ich kann die beiden nicht zusammen sehen. Ihr Glück löst eine solche Sehnsucht nach Daire in mir aus, dass es wehtut.
Xotichl verzieht den Mund und fährt mit den Fingerspitzen mehrmals über das Blatt. »Oh, es ist eine Landkarte ! Eine Art Schatzsuche – wie lustig !« Sie gibt es mir wieder.
»Wie machst du das ?«, frage ich nicht zum ersten Mal.
Doch wie immer lacht Xotichl nur, während Auden mit dem Daumen nach hinten zeigt und sagt: »Ich glaube, sie ist da lang gegangen.«
Ich gehe in Richtung Tür. Dränge mich an allen vorbei, die mir im Weg stehen, begierig darauf, wieder mit Daire zusammen zu sein und zu erfahren, was sie vorhat.
Auf einmal stellt sich mir Phyre absichtlich in den Weg. »Hey, Dace«, flüstert sie.
Langsam schürzt sie die Lippen, während sie den Blick über mich schweifen lässt. Doch ich habe keine Zeit für so etwas, und das sage ich ihr auch sofort. »Ja, hey. Pass auf, ich hab’s ziemlich eilig, also …« Ich mache Anstalten, mich an ihr vorbeizudrängen, doch sie besteht darauf, angehört zu werden.
»Hast du nicht ein paar Sekunden für eine alte Freundin übrig ?« Sie legt den Kopf schief und blitzt kokett mit den Augen, doch das ist an mich verschwendet. Daire ist meine Gegenwart. Meine Zukunft. Phyre ist Geschichte. »Es ist so lange her.« Sie nimmt eine kleinlaute Pose ein, die überhaupt nicht zu ihr passt. Sie ist nicht schüchtern. Nie gewesen. Sie tut nur so.
Ich knurre irgendetwas Nichtssagendes und kontrolliere erneut meine Jackentasche.
»Warum werde ich eigentlich das Gefühl nicht los, dass du mir aus dem Weg gehst ?« Sie stemmt die Hände in die Hüften, entschlossen, mich von dort fernzuhalten, wo ich am dringendsten hinmuss.
Ich reibe die Lippen aufeinander und sehe mich um. Lita funkelt mich von der Mitte der Tanzfläche aus an, Xotichl wendet sich mit sonderbar schief geneigtem Kopf zu mir her, während Phyre vor mir steht und eine Antwort fordert.
»Weißt du …«, beginne ich, doch die Worte zerfließen mir auf der Zunge, sowie sie näher kommt. Sie mustert mich durch einen dicken Wimpernvorhang, wobei sich ihre katzenhaften Augen an den Seiten nach oben ziehen. »Es hat sich vieles verändert«, stoße ich schließlich hervor. »Oder vielmehr, nein, vergiss es – alles hat sich verändert, und ich finde, das solltest du wissen.« Ich fange ihren Blick auf und hoffe, dass das genügt, damit ich meinen Abend ungestört verbringen kann.
»Du hast recht.« Sie lächelt, ungerührt von meinen Worten, und ignoriert meine entschlossene Miene. »Vieles hat sich verändert. Mich eingeschlossen.« Sie dreht sich ein wenig vor mir hin und her, sodass ihr das Kleid auf eine Weise um die Beine schwingt, die wohl verführerisch sein soll. Mich quasi auffordert, sie genauso wahrzunehmen und zu bewundern wie früher.
Ich wende mich ab. Verweigere mich ihr hartnäckig. Wünschte, ich könnte diese müde, alte Erinnerung auslöschen, die sie unbedingt wieder aufleben lassen will.
»Ich habe mich nicht nur äußerlich verändert«, erklärt sie, und ihre Entschlossenheit erweist sich als meiner durchaus ebenbürtig. »Ich bin auch innerlich anders geworden. Und ich habe das Gefühl, du auch.«
Ich schnaube unhörbar. Reibe mir das Kinn. Das ist doch lächerlich. Daire wartet irgendwo da draußen in der eiskalten Nacht auf mich, während ich hier in diesem dämlichen Club festsitze und von der albtraumhaften Heimsuchung durch einen Geist aus der Vergangenheit belagert werde.
Ich hebe den Blick und sehe sie an. Entschlossen, der Sache kurz und schmerzlos ein Ende zu machen, sage ich: »Phyre, es ist schön, dich zu sehen. Ehrlich. Aber ich weiß nicht, worauf du eigentlich aus bist. Wir waren noch Kinder, als wir – als du weggezogen bist. Jetzt sind wir keine Kinder mehr.«
Sie fährt mir mit einem lila lackierten Nagel von der Schulter zum Ellbogen. Die Kälte ihrer Berührung durchdringt meine dicke Daunenjacke und den Wollpullover darunter, und ich bekomme eine Gänsehaut. »Komisch«, sagt sie mit leiser, schleppender Stimme, »ich hab mich nicht wie ein Kind gefühlt, als ich mit dir zusammen war.«
Ich zucke unter ihrer Berührung zusammen, registriere, wie sie scharf den Atem einzieht und die Hände sinken lässt. Doch ich habe kein schlechtes Gewissen. Jetzt fällt mir alles wieder ein. Wie sie manipuliert. Berechnet. Die Welle der Reue, die mich überspülte, als es zwischen uns aus war.
»Geht es dir gut ?« Ich schulde ihr wenigstens so viel Höflichkeit, mich danach zu erkundigen.
Sie nickt.
»Und deinem Vater – geht es ihm auch gut ?«
»Es geht so.« Sie zuckt die Achseln und wiegt den Kopf hin und her.
»Okay. Es freut mich, das zu hören, aber ich muss jetzt wirklich …«
»Du musst jetzt wirklich gehen. Ich weiß.« Sie sieht mich lange unbewegt an. Zu lange. Dann verdunkeln sich ihre Züge, und sie tritt beiseite. »Dann lass dich mal von mir nicht aufhalten.«
Ich dränge mich an ihr vorbei. In die Nacht hinaus. Bin froh über die beißend kalte Luft, die auf meine Hände und mein Gesicht bläst. Über alle Maßen erleichtert, Phyre endlich los zu sein.
Nach einem kurzen Blick auf die Landkarte folge ich der von Daire vorgegebenen Strecke. Bleibe vor zwei langen Reihen leuchtender Kerzen an beiden Seiten eines Wegs stehen, der zu der Stelle führt, wo sie gegen die bitterkalte Nachtluft zusammengekauert dasteht.
Als sie mich sieht – als ihr Blick meinem begegnet –, kann ich mir nur mit Mühe verkneifen, loszuspurten und sie in die Arme zu schließen. Doch ich zwinge mich, in normalem Tempo auf sie zuzugehen. Zwinge mich, die Inszenierung zu würdigen, die sie vorbereitet hat.
»Fröhliche Weihnachten«, sagt sie, als ich schließlich vor ihr stehe. Ihre Wangen sind gerötet und glänzen, und in ihren Augen blitzt der Schalk. »Ich bin dein gar nicht so geheimer Weihnachtswichtel.«
Ich schmunzele. Bin es zufrieden, einfach hier zu stehen und meine Augen mit ihrem herrlichen Anblick zu erfüllen.
Cade kann mich mal.
Die ganzen Richters können mich mal.
Das hier ist das Einzige, was zählt.
Das schöne Mädchen hier vor mir.
Ich bin leer ohne sie. Existiere kaum. Das weiß ich jetzt.
Und obwohl ich weiß, dass das, was wir tun, richtig ist – dass es so geschehen muss, bis Cade unschädlich gemacht ist –, weiß ich doch auch, dass ich sie nicht mehr aus meinem Leben ausschließen kann, sobald das hier vorüber ist. Die letzten paar Tage ohne sie waren die Hölle, und Gedanken an sie verfolgten mich auf Schritt und Tritt.
Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich finde einen Weg, damit es klappt.
Oder ich komme bei dem Versuch um.
Erneut fange ich ihren Blick auf. Lese darin ihre Erwartung, dass ich auf ihre Aussage reagiere. »Oh«, sage ich, »und ich bin deiner.«
»Ehrlich ?« Sie legt den Kopf auf eine Weise schief, dass ihr ein Schwall Locken über die Wange fällt. Ich muss all meine Kraft aufbieten, sie nicht fest an mich zu ziehen und in ihrer Weichheit zu versinken. »Also, eigentlich hat Lita deinen Namen gezogen, nicht ich. Aber dann hat sie mich gebeten zu tauschen, und das habe ich getan.«
»Bei mir hat sie die gleiche Nummer abgezogen.« Ich fixiere Daires Mund – diese weichen, einladenden Lippen, die ich wieder und wieder schmecken möchte. »Ich habe gehört, sie hat ihren Namen zweimal hineingetan, damit sie das Geld für sich selbst ausgeben kann.«
»Dann war das Ganze also manipuliert ?« Daire grinst ansteckend. »Und da dachte ich schon, es sei Schicksal.« Ihr Blick wandert über mich und hinterlässt eine Spur von Wärme.
»Das ist wirklich schön.« Meine Stimme klingt heiser. »Ich kann mir kein besseres Geschenk vorstellen, als dich am Ende eines von Kerzen erleuchteten Wegs vorzufinden.«
»Ich bin nicht dein Geschenk.« Sie lächelt. »So poetisch bin ich nicht.«
»Nein ? Jetzt hättest du mich fast getäuscht.«
»Das hier ist dein Geschenk.« Sie zeigt mit dem Daumen auf den Maschendrahtzaun hinter ihr.
Ich suche angestrengt nach einer Antwort, doch irgendwie fällt mir nichts ein. Also mache ich einen Witz und sage: »Da hast du das Zwanzig-Dollar-Limit aber bestimmt weit überschritten. Allein schon die Genehmigungen …« Meine Worte werden von dem Finger gestoppt, den sie mir auf die Lippen presst.
»Nicht der Zaun, du Dussel – das hier.« Sie klappert mit einem goldenen Vorhängeschloss, das an einem der Maschenglieder angebracht ist.
Ich sehe sie weiter an. Irgendwie kapiere ich es noch immer nicht so ganz – aber es ist mir auch egal. Meine Lippen brennen von ihrer Berührung. Das ist das Einzige, woran ich denken kann.
»Wahrscheinlich ist es dir nicht bewusst, aber heute sind es genau sechs Wochen, seit wir zusammengekommen sind. Und das wollte ich irgendwie würdigen. Für mich ist es gewissermaßen eine Premiere.«
»Für mich auch.« Ich sehne mich so danach, sie zu küssen, gleich hier, gleich jetzt. Doch etwas sagt mir, dass ich besser warte. Es gibt noch mehr zu sagen.
»Liegt das daran, dass du dich an diesem Punkt meistens schon längst verdrückt hast ?« Sie schickt den Worten ein Grinsen hinterher, doch es braucht nicht viel, um den Strom der Sorge darunter auszumachen.
»Das ist Cades Art, nicht meine«, sage ich, in der Hoffnung, ihr klarzumachen, dass ich alles tun werde, was nötig ist, um mit ihr zusammen zu sein – jetzt und für alle Zeit. Ich war ein Idiot an diesem Abend in meiner Küche. Das passiert mir nicht noch mal.
Sie nickt und holt tief Luft. »Auf jeden Fall wollte ich etwas Besonderes machen, und dann ist mir das hier wieder eingefallen.«
Erneut zeigt sie auf das Schloss, doch ich begreife es noch immer nicht.
»Es gibt einen Ort in Paris mit einem alten Maschendrahtzaun, ganz ähnlich wie der hier.« Sie hakt den Finger in eines der Maschenglieder ein und rüttelt zur Betonung daran. Diese Geste, im Verein mit ihren Worten, verwirrt mich noch mehr. »Nur dass der Zaun in Paris über und über mit Schlössern behängt ist. Er ist einfach von oben bis unten von Schlössern aller Art übersät. Und ja, das ist eines der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe. Oder zumindest ist es das, wenn du begreifst, was die Schlösser symbolisieren.«
Ich sehe sie an und habe keine Ahnung, worauf sie hinauswill.
»Es ist ein Zaun für Liebende.« Ihre Stimme wird weich. »Ein Ort, wo Paare ihre Liebe zueinander erklären. Als Zeichen der Zuneigung befestigen sie das Vorhängeschloss am Zaun, und dann bekommt jeder der beiden einen Schlüssel. Falls irgendwann einer von ihnen zu der Erkenntnis kommt, dass sich seine Gefühle geändert haben, kann er mithilfe des Schlüssels das Schloss entfernen. Doch dem Aussehen des Zauns nach zu urteilen geschieht das nur selten.« Sie blickt auf den Boden und denkt einen Moment lang nach. »Also, was ich damit zu sagen versuche, ist – ich erkläre meine Liebe zu dir. Und das Schloss dort an dem Zaun ist ein Symbol für diese Liebe. Ich liebe dich, Dace Whitefeather, und ob wir zusammen oder getrennt sind, ändert nichts an dieser grundlegenden Wahrheit. Wenn es eines gibt, was ich in den letzten Tagen gelernt habe, dann, dass meine Liebe zu dir weder verschwindet noch auch nur ansatzweise schwächer wird, wenn ich sie zu unterdrücken versuche.« Ihre Mundwinkel wandern nach oben, doch in ihren Augen steht ein leiser Schatten der Traurigkeit, die unter der Oberfläche lauert. »Ich weiß, wogegen wir ankämpfen, und du weißt es auch. Aber …« Sie holt tief Luft, und ich muss an mich halten, geduldig vor ihr stehen zu bleiben und nicht spontan meine Lippen auf ihre zu pressen. »Jedenfalls bin ich bereit, alles Nötige zu tun, um mit dir zusammen zu sein. Und, na ja, ich hatte gehofft, dass du genauso empfindest. Aber wenn du nicht mit an Bord bist …«
Sie fasst in ihr Top, zieht eines von zwei langen Bändern mit einem kleinen goldenen Schlüssel am Ende heraus und hängt es mir hastig um den Hals. Dort bleibt es auf meiner Brust liegen, genau wie das, welches sie trägt.
Ich umfasse den Schlüssel mit zwei Fingern. »Ich werde ihn nicht benutzen. Ich werde ihn bis in alle Ewigkeit tragen. Bis ins Grab.«
Sie beißt sich auf die Unterlippe, und als ich sehe, wie ihre Augen strahlend aufleuchten und ihre Wangen rosig glänzen, bin ich drauf und dran, sie zu küssen. Will sie in meine Arme ziehen und sie so schmecken, wie ich es mir gestern nur erträumen konnte. Bis mir einfällt, dass ich ja auch etwas für sie habe.
Ich lege ihr das kleine Päckchen in die Hände und verfolge, wie sie den Stein aus dem rot-grünen Geschenkpapier wickelt. »Das ist ein …«
»Ich weiß, was es ist.« Sie reibt mit dem Finger darüber, ehe sie den Stein umdreht und die Rückseite studiert. »Es ist deine Version des Vorhängeschlosses mit den Schlüsseln.« Sie lächelt mich an.
»Er soll dich außerdem beschützen und vor Unheil bewahren. Es ist ein Amulett. Darf ich ?«
Ich hake einen Finger um das Wildlederbeutelchen, das sie um den Hals hängen hat. Dann warte ich ab, bis sie ihre Zustimmung signalisiert, ehe ich das Band lockere und die Öffnung weit genug aufziehe, um den Stein zu ihrer Sammlung von Talismanen hinzuzufügen. Es ist mir unmöglich, mich wieder zu lösen, nun, da ich sie berührt habe.
Ich bin gebannt von der Wärme ihrer Haut auf meiner. Dem Rhythmus ihres Herzschlags, der fest gegen meine Handfläche pulsiert. Ihrem Atem, der sachte und schnell geht, während sie direkt vor mir steht. Sie sieht so schön aus, so strahlend, dass ich sie in meine Arme ziehe und ihren Mund mit meinem bedecke.
Ich spüre nur noch, wie ihr Körper nachgibt und sich gegen meinen schmiegt – und wie sie meinen Kuss mit ebensolcher Sehnsucht, ebensolchem Verlangen erwidert. Und so verschwindet alles andere in weiter Ferne – Cade, Leandro, das Rabbit Hole –, sie alle können uns mal. Das hier ist das Einzige, was für mich zählt.
Daire.
In meinen Armen.
Die mich liebt und mich ebenso sehr braucht, wie ich sie liebe und brauche.
Sie löst sich aus dem Kuss und schnappt nach Atem. »Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal im Traum gesehen habe – lange bevor ich auch nur von Enchantment gehört habe.«
Meine Augen werden schmal, denn ihre Worte erstaunen mich. Nie hätte ich gedacht, dass sie die Träume auch hatte.
»Dann weißt du also, wie es endet ?«
Sie schüttelt den Kopf, sodass ihr die Haare ins Gesicht fallen, was sie nur noch unwiderstehlicher macht. »Nein. Ich weiß nur, wie der Traum endet. Aber wir enden nicht so. Dace, ich habe mir überlegt, ob wir uns nicht diese Nacht zum Geschenk machen sollen. Ich weiß, dass wir nicht richtig zusammen sein können, zumindest nicht, ehe Cade ausgeschaltet ist. Trotzdem habe ich mir gedacht, dass wir uns doch dieses Glück gönnen könnten, diese eine Nacht – nur du und ich. Morgen gehen wir getrennte Wege und tun, was wir tun müssen. Aber heute Nacht … Na ja, irgendwie brauche ich einfach etwas, woran ich mich festhalten kann. Etwas, was den Schmerz der Einsamkeit und des Kummers lindert, weil ich dich so vermisse.«
Ich küsse sie noch einmal. Rückhaltlos. Innig. Es ist das einzig Sinnvolle.
Liebe muss geteilt werden – nicht gehortet. Das ist ihr eigentlicher Sinn.
Kein Wunder, dass im Radio so viele Liebeslieder laufen. Es ist das unendliche Bestreben von Künstlern, das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Irgendwo im Rabbit Hole tobt eine Party.
Irgendwo in diesem Club rocken Epitaph, während Xotichl auf meine Rückkehr wartet, damit sie mich zu dem Portal führen kann.
Irgendwo in der Menge bemüht sich Leandro um meine dunkle Seite, während Phyre in der Asche einer Leidenschaft herumstochert, die schon vor langer Zeit erloschen ist.
Doch das spielt jetzt alles keine Rolle mehr.
Denn Daire und ich sind zusammen.
Wie es sein soll.
Wie es uns bestimmt ist.
Und als ich sie zärtlich in den Arm nehme und zu meinem Auto führe, registriere ich, dass sie die Kerzen entlang des Wegs mit nichts als einem Kopfnicken löscht.
Womit kein Zweifel mehr daran besteht, dass sie recht hat.
Wir stehen das durch. Die Prophezeiung definiert uns nicht.
Heute Nacht machen wir einander uns selbst zum Geschenk.
Morgen kommt noch früh genug.
Beim Aufwachen sehe ich Daire neben mir im Schlaf liegen. Ihr Atem geht sanft und gleichmäßig, und ihre Haut glänzt hell unter dem Lichtstreif, der zum Fenster hereindringt. Doch sosehr ich mich auch danach sehne, sie zu berühren, meine Hände mit ihrer Verheißung zu erfüllen, stehe ich doch auf und überlasse sie ihrem Schlummer.
Ich ziehe die Jeans an, die ich auf dem Boden liegen gelassen habe, nehme mir ein frisches T-Shirt aus dem Waschkorb und ziehe es über. Nachdem ich es durch einen grauen Pullover ergänzt habe, den ich von einer Stuhllehne gepflückt habe, sehe ich mich zum ersten Mal seit Tagen in meiner Wohnung um und registriere erschrocken die kolossale Unordnung, die hier herrscht.
Die letzte Woche war mehr als chaotisch. Und genau deswegen sieht es bei mir schlimm aus. Während Daire und ich letzte Nacht ein bisschen zu beschäftigt waren, um es wirklich wahrzunehmen, zweifele ich nicht daran, dass sie es nach dem Aufwachen bemerken wird. Im grellen Schein des Tageslichts lässt sich nichts verbergen.
Zuerst mache ich mich über die Küche her, um dem Berg aus schmutzigem Geschirr in der Spüle zu Leibe zu rücken. Doch ich komme nicht besonders weit, als es an der Tür klopft und Xotichl und Auden davorstehen, beladen mit pinkfarbenen Schachteln und weißen Tüten mit dem Logo von Nanas Bäckerei, einem der wenigen Läden in Enchantment, der sich weder im Besitz der Richters befindet noch unter ihrer Leitung steht, sodass das Brot von dort einfach göttlich ist.
»Wir bringen was zu essen.« Xotichl findet selbst den Weg an mir vorbei, während Auden ihr folgt und Schachteln und Tüten auf den kleinen Küchentisch fallen lässt. »Aber was den Kaffee angeht, zählen wir auf dich, also bitte enttäusch uns nicht. Du bist nicht der Einzige, der eine lange Nacht hatte. Ich brauche dringend eine morgendliche Stärkung.«
»Kaffee hab ich auf jeden Fall da.« Ich kehre an die Spüle zurück und bearbeite die hartnäckige Schicht Kaffeesatz am Boden der Kanne mit der groben Schwammseite. »Lasst mir nur, äh, ein klein wenig Zeit, dann krieg ich es hin.«
Xotichl steht mitten in meinem Wohnzimmer und bewegt den Kopf hin und her, als wüsste sie nicht, wo sie sich hinsetzen soll, obwohl dies weiß Gott nicht ihr und Audens erster Besuch bei mir ist.
»Stimmt was nicht ?« Ich verfolge, wie sich Auden ein Stück Brot abreißt, es in den Mund steckt und mir einen schuldbewussten Blick zuwirft. Xotichl bleibt unterdessen wie angewurzelt stehen, die Nase erhoben und die Miene missbilligend verzogen.
»Dace, die Wohnung hier fühlt sich wie ein schlimmes Durcheinander an. Wie ein richtig krasses Chaos.«
»So ist es auch«, wirft Auden ein und sieht mich an. »Tut mir leid, Amigo, aber ich kann dich nicht so weitermachen lassen. Schlamperei sorgt für schlechte Energie. Das müsstest du doch wissen.«
»Komisch, ich habe die Unordnung gar nicht bemerkt, bis ihr sie angesprochen habt. Wie konnte mir das nur verborgen bleiben ?« Daire steht in der Tür und sieht in einem meiner alten roten Karohemden, das ihr fast bis zu den Knien reicht, hinreißend aus.
»Nachts entgeht einem vieles, aber jetzt fällt es dir doch sicher auf ?«, fragt Xotichl, außerstande, einen Platz zum Hinsetzen zu finden, bis Auden ein Stück Sofa freischaufelt und sie dorthin führt.
»Nö. Ich interessiere mich nur fürs Frühstück.« Daire schlängelt sich an mir vorbei und fährt mir kokett mit einem Finger das Rückgrat entlang, während sie zum Tisch geht, auf dem Auden ein Sortiment aus frisch gebackenen Brötchen, Plunderteilchen und dicken, ofenwarmen Brotlaiben ausgelegt hat. »Ich bin am Verhungern.« Sie beißt in ein Brötchen und schließt genießerisch die Augen. Langsam öffnen sich ihre Lider wieder. »Woher habt ihr denn gewusst, dass ich hier bin ?«, fragt sie und spaziert ins Wohnzimmer, wo sie sich auf der Armlehne des Sofas niederlässt, direkt neben Xotichl.
»Dace hat mich sitzen lassen.« Xotichl nickt in meine Richtung, während Auden lacht. »Ich wollte ihm das Portal zeigen, doch als er dann nicht aufgetaucht ist und du verschwunden geblieben bist … Na ja, sagen wir mal, es war einer der leichter aufzuklärenden Kriminalfälle.«
»Tut mir leid«, murmele ich mit einem Blick zur Kaffeemaschine. »Ich hätte anrufen sollen.«
»Keine Sorge.« Xotichl zuckt die Achseln. »Es läuft uns ja nicht davon.«
»Aber du hast die große Show verpasst.« Auden schleicht sich zum Tisch und schnappt sich ein Plunderteilchen. »Cade ist aufgetaucht.«
Daire und ich wechseln einen Blick.
Einen Blick, der Auden nicht entgeht. »Ja, ich weiß Bescheid«, sagt er. »Dämonen, Portale, multiple Welten, die Richters sind böse Ungeheuer, die Enchantment beherrschen wollen …« Seine Backen füllen sich, als er erneut an seinem Gebäckstück beißt. Mit vorgehaltener Hand spricht er weiter. »Ich bin über alles im Bilde.«
»Und, was ist passiert ?« Ich schaue in den Küchenschrank, auf der Suche nach Tassen, die nicht angestoßen sind. Da ich jedoch keine finde, muss ich mich mit denen zufriedengeben, die noch die geringsten Anzeichen von Abnutzung und Beschädigung aufweisen.
»Ja, und ist mit Lita alles in Ordnung ?« Daire schlägt die Beine übereinander und lenkt mich mit der Aussicht auf ein Stück Schenkel ab, das ich mich zu ignorieren bemühe.
»Lita geht’s gut«, sagt Xotichl. »Ja, sogar mehr als gut. Ich glaube, sie hat über eine Stunde damit zugebracht, die Mistelzweig-Gasse abzuarbeiten, wo sie einmalig kostenlose Weihnachtsküsse verschenkt hat, nur um ihn zu ärgern.«
»Und, hat sie es geschafft ?« Daires Miene leuchtet bei dem Gedanken auf.
»Nicht so, wie sie es sich erhofft hatte«, fährt Xotichl fort. »Cade ist über Eifersucht erhaben. Aber ich glaube, es hat ihn doch gekratzt, dass er sie nicht mehr so kontrollieren konnte wie früher. Er ist ein ziemlicher Kontrollfreak.«
»Und das war alles ? Cade ist aufgetaucht, Lita hat ein paar Typen geküsst, die sie schon ihr Leben lang kennt, und die Party hat ganz normal geendet ?« Ich verteile gefüllte Kaffeebecher und entschuldige mich für den klumpigen Zucker und die fehlende Milch.
»Mehr oder weniger schon«, sagt Auden, während er sich neben Xotichl niederlässt und ihre Hand nimmt. »Allerdings hat er nach dir gefragt – beziehungsweise nach euch beiden.«
»Und ?« Daire späht ihn über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg an.
»Und – nichts«, antwortet Xotichl. »Ich hab ihn abblitzen lassen. Hab ihm gesagt, ich hätte dich nicht gesehen.«
»Aber es war seltsam«, sagt Auden. »Eigentlich schien er darüber ziemlich froh zu sein.«
»Ja, das kann ich mir denken.« Ich wechsele einen weiteren Blick mit Daire.
»Und was dann ?« Daire lehnt sich gegen meine Brust, als ich mich hinter sie stelle. »Ist er geblieben oder gegangen – was ist passiert ?«
»Ehrlich gesagt, war es ganz schön schräg. Er hat fast die ganze restliche Zeit damit zugebracht, mit Phyre zu reden.« Xotichl trinkt dankbar einen großen Schluck Kaffee.
»Worüber haben sie gesprochen ?« Sachte massiere ich Daires Schultern und bemerke, wie sie sich bei der Erwähnung von Phyres Namen verspannen. Ich frage mich, wie viel sie weiß – beziehungsweise wie viel sie sich womöglich selbst zusammengereimt hat.
»Keine Ahnung«, sagt Xotichl. »Ich war nicht nah genug dran, um es zu hören. Aber die Energie, die zwischen den beiden geflossen ist, war auf jeden Fall eigenartig.«
»Inwiefern eigenartig ?«, erkundigt sich Daire mit besorgter Stimme und beugt sich vor.
»Gehetzt. Muffig. Irgendwie trüb und von der Farbe her graubraun.«
»Du hast die Energie gesehen ?«, hakt Daire nach. »Ich dachte, das ginge nur bei Musik ?«
Xotichl schüttelt den Kopf und trinkt noch einen Schluck Kaffee. »Paloma lehrt mich, in allen Formen von Energie die Farbe zu sehen. Die Musik war nur der Einstieg.«
»Apropos«, Daire greift nach meinem Handgelenk und schaut auf meine Uhr, »ich muss mich anziehen und nach Hause gehen. Ich bin mit Jennika verabredet, damit wir ein paar schöne Mutter-Tochter-Stunden miteinander verbringen können.«
»Ich fahr dich, wenn du willst«, sagt Auden. »Ich muss sowieso in die Richtung.«
»Und ich bleibe noch ein bisschen und zeige Dace endlich, wo sich das Portal im Rabbit Hole befindet.«
»Ich will nicht, dass du dorthin gehst.« Daire macht auf dem Weg ins Schlafzimmer halt und richtet ihre Worte an Xotichl.
»Das hab ich mir schon gedacht«, erwidert Xotichl. »Aber ich weiß nicht, ob mich das bremsen kann.«
»Im Ernst«, sagt Daire, die nicht so ohne Weiteres nachgibt. »Es ist total verseucht. Viel zu gefährlich. Dace, versprich mir, dass du sie nicht mitnimmst. Oder versprecht mir lieber gleich, dass keiner von euch beiden hingeht.«
Ich reibe mir das Kinn und ignoriere den letzten Satz geflissentlich. »Hast du schon mal versucht, Xotichl von etwas abzubringen, was sie unbedingt tun will ?«
»Ja, hab ich.« Auden hebt die Hand. »Es ist kein Vergnügen. Meine Blume ist ein Dickkopf.«
Daire wirft mir einen warnenden Blick zu, doch ich kann nur die Achseln zucken.
Ich gehe rein.
Ohne Xotichl.
Ohne Daire.
Ohne irgendwen.
Die letzte Nacht hat es besiegelt. Jetzt, da ich wieder mit ihr zusammen gewesen bin, will ich nie wieder ohne sie sein.
Ich werde mich der Prophezeiung stellen.
Und wenn ich damit fertig bin, wird Cade tot sein.