Drei

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Paloma geht durch ihre warme, gemütliche Küche und zieht ihre abgenutzte, himmelblaue Strickjacke enger über eines der akkurat gebügelten Hauskleider, die sie am liebsten trägt. Sie ist nicht im Geringsten erstaunt über meine plötzliche Rückkehr.

Ihre braunen Augen leuchten, und ihr dunkler Zopf mit den Silberfäden darin schlängelt sich ihren Rücken hinab, sodass sie völlig unverändert wirkt. Doch bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass ihre Bewegungen langsamer sind – nicht mehr so flink. Vor allem im Vergleich mit der unverwechselbaren Aura von Entschlossenheit und Kraft, die sie an jenem Abend demonstrierte, als ich vor wenigen Monaten zum ersten Mal vor ihrer Tür stand. Kurz nach meinem Zusammenbruch auf diesem Platz in Marokko.

Damals, als ich von entsetzlichen Halluzinationen von leuchtenden Gestalten und Krähen geplagt wurde – und eine Zukunft in der Gummizelle vor mir sah.

Paloma hat mich gerettet. Vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt. Nur um mich stattdessen mit einer derart befremdlichen Wahrheit zu konfrontieren, dass ich mein Möglichstes tat, um ihr zu entkommen.

Aber sie wusste eben etwas, was die Ärzte nicht wussten.

Ich war nicht verrückt.

Wurde nicht von Halluzinationen geplagt.

Die Krähen und die leuchtenden Gestalten – das ist alles real. Und ich war bei Weitem nicht die Erste, die diese Erfahrung machen musste. Jeder Suchende bekommt seinen Ruf – ich war einfach an der Reihe.

Es ist das Familienerbe der Familie Santos. Das Geburtsrecht, das seit unzähligen Generationen von einem Elternteil zum erstgeborenen Kind weitergegeben wird. Die ersten sechzehn Jahre schlummert es nur – doch wenn es dann zum Ausbruch kommt, steht die ganze Welt auf dem Kopf. Und selbst wenn es verlockend erscheint davonzulaufen, ist es doch besser, wenn man akzeptiert, dass das Schicksal einem kaum eine Wahl lässt. Für diejenigen, die das zu leugnen suchen, endet es nie gut.

Mein Vater Django ist das beste Beispiel dafür.

Sein tragischer, allzu früher Tod hat Paloma nur noch entschlossener gemacht, mich zu retten. Als Letzte der Familie bin ich die Einzige, die die Richters aufhalten kann. Doch nachdem meine Ausbildung aufgrund von Palomas kürzlich akut gewordener Erkrankung abgebrochen wurde, bin ich der Aufgabe kaum gewachsen.

Mühsam stellt sie sich auf die Zehenspitzen und streckt den Arm aus, um zwei Becher aus dem Hängeschrank zu nehmen. Ihre Glieder wirken steif und ungelenk. Als müssten die Gelenke dringend geölt werden, damit sie sich wieder mühelos bewegen kann. Der Anblick dient mir als bittere Erinnerung an ihren jüngst erfolgten Seelenverlust, der ihr all ihre Zauberkräfte und fast das Leben selbst geraubt hat – einer der zahlreichen Gründe, warum ich Cade und seine untoten Vorfahren finden muss, bevor alles noch schlimmer wird.

Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Dabei fülle ich meinen Kopf mit den konkurrierenden Aromen von würzigem Kräutertee, den frisch gebackenen Ingwerplätzchen und dem rauchigen Duft der vertikal aufgestapelten Scheite vom Mesquitebaum, die im Kamin in der Ecke verbrennen. Ihr melodisches Knistern und Knacken steuert einen seltsam beruhigenden Hintergrundton zu den schlechten Nachrichten bei, die jetzt kommen.

»Nieta.« Sie stellt eine dampfende Teetasse vor mich hin und setzt sich auf den Stuhl gegenüber.

Ich wärme mir die Hände, indem ich den Becher auf beiden Seiten umfasse. Dann blase ich auf die Flüssigkeit und nehme vorsichtig einen ersten Schluck. Ich hebe den Blick zu meiner Großmutter. »Noch immer keine Spur von ihnen«, sage ich.

Sie nickt und bemüht sich nach Kräften, eine stoische, unveränderte Miene zu wahren.

»Obwohl das eigentlich nicht ganz stimmt …« Meine Stimme ist ebenso unsicher wie mein Blick. Ich ermahne mich selbst, dass ich es tun kann, dass ich es tun muss. Zumindest schulde ich ihr die Wahrheit. Ich räuspere mich und beginne erneut. »Was ich meine, ist, dass wir sie zwar nicht aufgespürt haben, aber es gibt untrügliche Anzeichen für ihre Anwesenheit …« Ich beschreibe die Flut von toten Fischen, die wir in der verzauberten Quelle gefunden haben – wobei ich bewusst verschweige, was wir überhaupt dort zu suchen hatten –, doch abgesehen davon, dass sie an ihren Ärmeln herumzupft, bleibt sie ganz ruhig sitzen und lässt sich nichts anmerken. »Und es gibt absolut keine Spur von Cade. Er war nicht in der Schule – und auch nicht im Rabbit Hole. Niemand hat ihn gesehen, und ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun und wo ich noch Ausschau halten soll.«

Mein Blick sucht den von Paloma, in der Hoffnung auf Orientierung, Antworten, irgendetwas. Doch sie nickt nur, statt etwas zu sagen, und bedeutet mir mit Gesten, meinen Tee auszutrinken und eines ihrer köstlichen Ingwerplätzchen zu essen. Schließlich erhebt sie sich vom Tisch und führt mich in mein Zimmer. Dort setzt sie sich auf meine Bettkante und weist mich an, die schöne, handbemalte Truhe zu öffnen, die sie mir an dem Abend hingestellt hat, als sie krank wurde.

Ich öffne das Schloss und betrachte den Inhalt. Mein Herz rast angesichts der Erwartung, welche Art von Zauber sie mit mir zu teilen bereit ist. Es ist schon Wochen her, seit sie mich gelehrt hat, mit den Eidechsen zu kriechen und mit den Vögeln zu fliegen – meine Energie mit ihrer zu verschmelzen, bis ich ihre Erfahrung als meine eigene erlebt habe. Und ich muss zugeben, dass ich unsere Lehrstunden vermisst habe. Wie auch unsere Gespräche und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben.

Abgesehen davon, dass sie mir Essen kocht und sich um mich kümmert – trotz meiner Proteste, dass das wirklich nicht nötig ist, da ich dank meiner Mutter und meines nomadischen Lebensstils schon von Kindesbeinen an für mich selbst sorgen kann –, hat sie sich in den letzten paar Wochen vornehmlich ausgeruht. Und trotz Leftfoots Versicherungen, dass sie sich bald wieder erholen wird, hatte ich bis jetzt keinen triftigen Grund, ihm zu glauben.

Palomas Bereitschaft, meine Ausbildung als Suchende wiederaufzunehmen, ist das erste greifbare Zeichen dafür, dass sie vielleicht wirklich allmählich gesundet. Und selbst wenn kein Zweifel daran besteht, dass es nie wieder so werden wird, wie es einmal war, spricht doch nichts dagegen, dass wir trotz allem Fortschritte machen können.

»Die Decke.« Sie zeigt auf die aufwendig gemusterte, handgewebte Decke, die ordentlich gefaltet ganz unten liegt. »Breite sie vor dir aus und leg alle Gegenstände darauf.«

Also platziere ich die schwarz-weiße, handbemalte Wildlederrassel neben die Trommel, auf der ein Bild eines Raben mit violetten Augen prangt. Dann beginne ich eine neue Reihe nur für Federn. Jede von ihnen trägt einen Anhänger, der ihren jeweiligen Anwendungsbereich benennt – die Schwanenfeder für Verwandlungskräfte, eine Rabenfeder für Zauberkräfte und eine Adlerfeder fürs Versenden von Gebeten. Und direkt darunter lege ich das Pendel mit dem kleinen Stück Amethyst am Ende. Die Truhe ist jetzt leer, bis auf die kurze, prägnante Notiz von Paloma, die mir in ihrer akkuraten Schrift verspricht, mir eines Tages die Magie zu zeigen, die in all diesen Werkzeugen lebt – eines Tages, der, wie ich allmählich fürchtete, nie kommen würde.

Ich nehme die schwarze Feder und schwenke sie vor mir hin und her. Dabei denke ich, dass sie der in meinem Beutel ziemlich ähnlich sieht, sie ist nur größer, viel größer.

»Als dein Geisttier ist Rabe stets bereit, dich zu führen. Hast du ihn schon angerufen, nieta

»Andauernd.« Ich zucke die Achseln, und meine Stimme klingt so düster, wie ich mich fühle. »Doch in letzter Zeit kommt es mir so vor, als würde er eher folgen als führen. Er sitzt nur auf Pferds Nacken, wie ein zufälliger Begleiter, während Dace und ich reichlich ziellos umherziehen.«

»Und Pferd ?« Sie richtet sich auf und mustert mich aus schmalen Augen.

»Genauso. Wenn Dace ihn nicht antreiben würde, würde er die ganze Zeit nur grasen. Es ist eher so, dass sie, je mehr wir sie brauchen, umso träger werden, bis sie kaum noch kooperieren. Und irgendwie wird es jeden Tag schlimmer.«

Paloma wird blass, während ihre Augen erschrocken aufleuchten. Der Effekt hält allerdings nur einen Moment lang an, dann findet sie ihre gewohnte Ruhe und Gelassenheit wieder – entschlossen, die Sorgen zu verbergen, die sie plagen.

Doch jetzt, da ich es gesehen habe, habe ich nicht vor, es auf sich beruhen zu lassen. Wenn Paloma bereit ist, meine Ausbildung wiederaufzunehmen, dann muss sie ehrlich sein und mit der Geheimnistuerei aufhören. Falls das stimmt, was sie sagt, nämlich dass ich als Suchende die letzte verbliebene Hoffnung bin, dann bringt sie nur alle anderen in Gefahr, wenn sie mich vor der Wahrheit schützt.

»Paloma«, sage ich beschwörend. »Du musst ehrlich zu mir sein. Du musst mir die Wahrheit sagen, egal, wie hässlich sie ist. Als du mir erklärt hast, dass eine Suchende lernen muss, im Dunkeln zu sehen und sich auf das zu verlassen, was sie tief in ihrem Herzen weiß – da dachte ich, du hättest das metaphorisch gemeint. Aber in letzter Zeit bekomme ich immer mehr das Gefühl, als würden Dace und ich nur im Dunkeln herumstochern, und da würde es uns sehr weiterhelfen, wenn du ein bisschen Licht in das Ganze bringen könntest. Ehrlich, abuela, ich bin bereit. Du brauchst mich nicht zu beschützen.«

Sie hebt das Kinn und holt tief Atem. Mit ihren zarten Fingern streicht sie die Falten in ihrem Baumwollkleid glatt. »Deiner Schilderung zufolge muss Rabe wohl verdorben, korrumpiert worden sein. Und Pferd auch. Und auch wenn sie vielleicht nicht gegen dich arbeiten, so arbeiten sie doch auch nicht wirklich für dich. Das alles bedeutet, dass wir uns für Wissen und Orientierung auf andere Quellen stützen müssen, bis wir die Richters aus der Unterwelt vertrieben und alles wieder ins gewohnte Gleichgewicht gebracht haben.« Sie seufzt leicht. »Ich hatte so etwas schon befürchtet«, fügt sie hinzu. »Und glaub mir, nieta, die toten Fische sind erst der Anfang. Wenn wir sie nicht bald aufhalten, dauert es nicht lange, ehe die Auswirkungen auch in der Mittel- und der Oberwelt zu verspüren sind. Jede Welt hängt von der anderen ab. Wenn die eine zersetzt wird, stürzen auch die anderen ins Chaos, und das ist genau das, was Cade will. Wenn die Geisttiere nicht mehr in der Lage sind, uns zu führen und zu beschützen, bekommt er freie Hand und kann schalten und walten, wie es ihm gefällt.«

Instinktiv greife ich nach dem weichen Wildlederbeutelchen an meinem Hals. Ich taste nach der Form des kleinen Steinraben und der schwarzen Rabenfeder, die Anfang und Ende meiner Visionssuche markiert hat. Gegenstände, die ich einst als heilig betrachtete, als die Hauptquelle meiner Kraft, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wurden sie genauso verdorben wie mein Leittier, Rabe ?

»Soll ich das dann nicht mehr tragen ?«, frage ich verblüfft von der Panik, die sich in meine Stimme geschlichen hat. Ich habe mich so daran gewöhnt, das Wildlederbeutelchen um den Hals hängen zu haben, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, ohne es zu sein.

Paloma zeigt auf die Decke. »Fragen wir doch das Pendel.« Sie kommt zu mir herunter auf den Boden, und so sitzen wir im Schneidersitz nebeneinander. Unsere Knie berühren einander beinahe, während ich das Pendel von meiner Fingerspitze schwingen lasse, bis es von selbst stillhält. »Das Pendel ist ein sehr mächtiges Weissagungsinstrument. Aber lass dich nicht beirren, nieta. Auch wenn man es leicht als Magie bezeichnen könnte, kommen die Antworten, die es liefert, von einem Ort tief in deinem Inneren.«

Ich blinzele und weiß nicht genau, ob ich sie verstanden habe.

»Das Pendel stimmt sich bloß auf dein eigenes höheres Bewusstsein ein und bringt die Antworten zum Vorschein, die du bereits kennst, zu denen du aber möglicherweise keinen unmittelbaren Zugang hast.«

»Willst du damit sagen, dass es durch die Dunkelheit blickt und das findet, was ich in meinem Herzen bereits weiß ?«

»Genau.« Sie erwidert mein Grinsen und schickt ein leises Lachen hinterher, das auf der Stelle das ganze Zimmer heiterer macht. »Oft verheddern wir uns dermaßen in Abwägungen und Entschlusslosigkeit, dass wir keinen Zugang mehr zu der Wahrheit finden, die in uns lebt. Dann kommt das Pendel zum Zug. Es hilft dir, durch den Wirrwarr zum Kern der Sache vorzudringen.«

»Also, wie fangen wir an ?« Ich starre auf den Kristall, begierig darauf, endlich mit der langen Liste von Fragen zu beginnen, die sich in meinem Kopf türmen.

»Zuerst möchte ich, dass du die Augen schließt und dir vorstellst, von Licht umgeben zu sein.«

Ich tue nichts dergleichen und verziehe nur den Mund, da ich die Stichhaltigkeit des Ganzen anzweifele.

»Wann immer du eine Weissagung vornimmst, selbst wenn du lediglich die Antworten tief in deinem Inneren ergründest, musst du dich schützen.«

»Wovor genau muss ich mich schützen ?« Ich runzele die Stirn, da ich nicht weiß, worauf sie hinauswill.

»Vor dunklen Wesen. Niedrigeren Geistformen.« Sie fixiert mich mit ihrem Blick. »Du siehst sie vielleicht nicht, aber sie lauern immer in der Nähe, sie sind allgegenwärtig. Sie finden sich in jeder Dimension der Mittelwelt und leben von der Energie anderer. Deshalb musst du immer gut aufpassen, dich vor ihnen zu wappnen, und ihnen keine Gelegenheit geben, sich an dich zu hängen. Sie können großen Schaden verursachen und nutzen jede Bresche, die du ihnen bietest. Also bieten wir ihnen lieber keine, okay ?«

Mehr brauche ich nicht, um die Augen fest zu schließen und mir mich selbst umgeben von einer strahlend weißen Lichtwolke vorzustellen.

»Gut.« Ihre Stimme klingt weich, erfreut. »Jetzt müssen wir entscheiden, welche Richtung ein Nein als Antwort bedeutet und welche ein Ja. Wir fangen am besten damit an, dass wir ein paar einfache Fragen stellen, auf die wir die Antwort bereits kennen, und warten ab, wie es reagiert.«

Ich senke den Blick, mustere eindringlich den kleinen Amethysten, der in die Spitze des Pendels eingelassen ist, und versuche, einen ernsthaften Tonfall zu wahren. »Ist mein Name Daire Lyons-Santos ?« Verblüfft sehe ich zu, wie das Pendel von selbst zu schwingen beginnt. Zuerst bewegt es sich langsam vor und zurück, doch es dauert nicht lange, bis es einen Kreis im Uhrzeigersinn zu beschreiben beginnt, obwohl sich meine Finger nicht geregt haben.

»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass im Uhrzeigersinn Ja heißt.« Ich schaue zu Paloma, die bestätigend nickt.

»Das Pendel müsste von selbst langsamer werden, dann darfst du es zum kompletten Stillstand bringen, ehe du ihm eine Frage stellst, von der du weißt, dass die Antwort darauf nein lauten wird.«

Ich konzentriere mich auf das Pendel. Sogleich bin ich derart überwältigt von Freude darüber, dass ich wieder mit Paloma üben und mich der Magie nähern darf, die zum Greifen nahe ist, dass ich beschließe, dem Pendel eine Frage zu stellen, die nicht nur zu einem deutlichen Nein führen wird, sondern mich schon zum Lachen bringt, als ich sie ausspreche. »Pendel, sage mir: Bin ich in Cade Richter verliebt ?«

Ich presse die Lippen aufeinander, um mir ein Grinsen zu verkneifen, doch es ist zwecklos. Es ist einfach zu lächerlich. Außerdem hat mich Paloma aufgefordert, eine Frage zu stellen, die zu einem unmissverständlichen Nein führen wird, und die Frage, ob ich in Cade verliebt bin, entspricht dem genau.

Ich starre das Pendel an, und meine Erheiterung verwandelt sich rasch in Verwirrung, als es erneut beginnt, im Uhrzeigersinn zu schwingen. Zuerst in trägen Schleifen, doch dann immer schneller, bis der Amethyst in schwindelerregendem Tempo herumsaust.

Um ihn ein für alle Mal zum Stehen zu bringen, grapsche ich unsanft nach ihm. Ich drücke ihn so fest, dass seine scharf geschliffene Spitze sich in meine Fingerkuppe bohrt und ein dünnes Blutrinnsal herauslaufen lässt. »Es funktioniert eben doch nicht«, sage ich, wobei meine Stimme verrät, dass ich meinen Worten selbst nicht traue. »Entweder das, oder es hat keinen Humor oder es will mir eine Lektion erteilen …«

Mein Redefluss wird von Paloma unterbrochen. »Das Pendel hat nur einen Zweck – die Wahrheit zu offenbaren, die in dir wohnt. Das ist alles, nieta

Ich ziehe eine finstere Miene und finde das nicht witzig.

»Du darfst nie vergessen, dass Dace und Cade eine gespaltene Seele sind, also zwei Hälften eines Ganzen.« Ihre Stimme ist so sanft wie die Hand, die sie mir aufs Knie gelegt hat.

»Ja, aber zwei ganz verschiedene Hälften«, fauche ich, die Worte so scharf und bitter, wie mir momentan zumute ist. »Dace ist gut – Cade ist böse. Dace …« Ich halte inne, noch nicht bereit, das L-Wort jetzt schon auszusprechen, obwohl mir ja Paloma selbst gesagt hat, dass wir füreinander bestimmt seien. Ich setze neu an. »Dace habe ich unheimlich gern – Cade hasse ich.«

Ich lasse das Pendel aufs Bett fallen und wische mir den Finger am Hosenbein ab, wo er eine dünne rote Spur hinterlässt. Dann greife ich zu den aufgereihten Federn, wähle die des Adlers, mit der man Gebete senden kann, begierig darauf, das Training fortzusetzen.

»Also, wie funktioniert das ?« Ich schwenke die Feder vor mir. Will das Debakel mit dem Pendel hinter mir lassen und blicke verdrossen drein, als Paloma mir die Feder abnimmt und mir erneut das Pendel in die Hand drückt.

»Du musst es noch einmal versuchen, nieta. Stell diesmal eine andere Frage – eine, die definitiv zu einem Nein führt.«

»Das hab ich doch schon ! Was soll das bringen ?«, schimpfe ich und bereue augenblicklich meinen barschen Ton. Aber mal im Ernst – worauf will sie eigentlich hinaus ? »Glaub mir, in Cade verliebt zu sein ist die lächerlichste Vorstellung überhaupt. Es ist widerlich. Grotesk. Völlig unvorstellbar. Der Stoff für Albträume. Meine persönliche Version der Hölle. Es ist die Definition von einem Nein !«

Grollend schüttele ich den Kopf und knurre leise eine Reihe ärgerlicher Worte vor mich hin, während Paloma geduldig darauf wartet, dass ich mich wieder der Aufgabe widme. Doch das kommt nicht infrage. Ich bin zu verletzt. Zu gekränkt von ihrer Reaktion – dass sie lieber einem dämlichen Pendel glaubt als dem, was ich ganz genau weiß.

Eine Weile bleiben wir so sitzen – Paloma schweigend und ich ein wutschnaubendes Häufchen Elend. Und dann kommt mir der Gedanke, dass sie etwas zurückhält.

»Was verschweigst du mir ?« Ich beäuge sie misstrauisch. »Was ist hier los – worum geht es hier wirklich ?«

Ich stehe auf, wobei meine Knie dermaßen zittern, dass ich ums Gleichgewicht ringen muss. »Sag’s mir !«, zische ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sag’s einfach, was immer es ist. Denn ich schwöre dir, was ich denke, ist wesentlich schlimmer, als die Wahrheit es je sein könnte.«

Sie greift nach meiner Hand, nimmt sie fest in ihre und zieht mich wieder zu sich herunter. »Nein, nieta«, sagt sie mit so beklommener Stimme, dass ich mich gleich noch schlechter fühle. »Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass hier in Enchantment die Wahrheit oft viel schlimmer ist als alles, was man sich in Gedanken ausmalen könnte.«