Phyre
Wir sind schon fast zu Hause, als der Schnee zu fallen beginnt und mein Dad beschließt, meine Anwesenheit in seinem Auto zur Kenntnis zu nehmen.
»Muss ich also davon ausgehen, dass du versagt hast ?«, fragt er in einem Tonfall, der so streng ist wie seine Miene – und so streng wie der nüchterne schwarze Anzug, den er trägt.
Ich presse die Stirn ans Fenster und starre in eine unendliche Nacht hinaus, die nun weiß glitzert.
»Antworte mir !« Er tritt heftig auf die Bremse. Hält den Wagen mitten auf der Straße an, als wären wir die Einzigen hier. Sind wir auch.
Ich presse mich dicht an die Tür und ziehe die Schultern hoch. Jetzt bin ich dran.
Heimlich hebe ich eine Hand und wische die paar Tränen weg, die ich mir erlaubt habe, bevor er sie sieht, da ich weiß, dass es das nur noch schlimmer macht.
Das ist meine Rolle. Als ob ich das nicht wüsste. Ich habe sie seit meiner Kindheit eingeübt, seit dem Tag, als er mit dem Finger auf mich gezeigt und erklärt hat, dass ich unter meinen Schwestern seine Erwählte sei.
»Na ?«, drängt er und fährt keinen Meter weiter, bis ich ihm die Antwort gebe, die er haben will.
»Es ist nicht so einfach, wie du denkst«, erwidere ich und bereue es sofort. Es ist zu defensiv. Schreibt die Schuld mehr ihm zu als mir. Ich müsste es besser wissen. Diese Art von Taktik funktioniert nie.
»Tatsächlich ?« Er rutscht hin und her und zerrt unsanft an seinen Ärmeln, genau wie er es jeden Sonntag tut, ehe er die Kanzel besteigt. »Dann sollte ich vielleicht eine deiner Schwestern hierherholen, damit sie sich an deiner statt um die Sache kümmert. Ember oder Ashe – welche wäre dir lieber ?«
»Keine von beiden.« Die Antwort kommt schnell, ohne Zögern. Ich drehe mich auf dem Sitz zur Seite, bis ich ihm direkt ins Gesicht sehe. »Lass sie in Ruhe«, bitte ich. »Ich schaffe das. Ich mache es. Ich brauche nur …«
Er starrt mich an. Seine Augen sind dunkel und ohne Gnade.
»Ich brauche nur ein bisschen mehr Zeit. Es ist lang, wenn man zwei Jahre weg ist. Es ist, als finge man von vorne an. Ich muss erst sein Vertrauen wiedergewinnen. Das ist nicht mehr so leicht. Er hat eine Freundin. Glaubt, er sei verliebt. Und das ist er auch. Ich habe mitbekommen, wie er sie ansieht.« Die Wahrheit hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
»Tja, dann würde ich sagen, du musst eben einen Weg finden, um ihn abzulenken, oder ?«
Ich schlucke schwer. Nicke, wie er es erwartet. Konzentriere mich auf die andere Seite der Windschutzscheibe und beobachte, wie sich der Schnee in kleinen, vereinzelten Klumpen auf der schmutzig weißen Motorhaube sammelt.
»Die Zeit wird knapp.« Er geht von der Bremse und lässt den Wagen langsam den Feldweg hinunterrollen.
Die Zeit ist immer knapp. Das ist sie schon seit meiner Kindheit.
»Es hat bereits begonnen. Die Zeichen sind überall.«
Alles ist ein Zeichen. Eine seltsam angebrannte Scheibe Toast – eine Wolkenformation, die etwas Unheiligem ähnelt – eine Katze mit sechs Zehen – er sieht Vorboten des Untergangs, wo immer er hinschaut.
»Und du weißt, was das bedeutet. Du weißt, was von dir erwartet wird.«
Ich nicke erneut. Mein gesamtes Leben habe ich damit zugebracht, mich auf die Letzten Tage vorzubereiten, wenn auch nur, um meinen Schwestern diese Aufgabe zu ersparen.
»Dein Opfer ist hart, aber es dient dem Wohl des größeren Ganzen. Du wirst als Retterin verehrt werden – als Heilige !« Er singt es mit glänzenden Augen, versunken in die falsche Herrlichkeit seines salbungsvollen Gefasels. Nie kommt er darauf, mich zu fragen, warum es mich kümmern sollte, wie man sich nach meinem Tod an mich erinnert. Er dreht sich um und fixiert meine Augen. »Warum ist dein Make-up verschmiert ? Hast du geweint ?« Seine Stimme hebt sich empört und veranlasst mich, hektisch an meinen Augenlidern und Wangen herumzureiben. »Du hörst sofort damit auf ! Hast du mich verstanden ?«
Er wirft mir einen warnenden Blick zu und konzentriert sich erst dann wieder aufs Fahren, als er sicher ist, dass ich mich gehorsam zeige. Für den Rest der Fahrt verfällt er in willkommenes Schweigen, bis er vor dem kleinen, verlassenen Trailer parkt, den er als unser Zuhause bezeichnet.
»Ich will, dass der Junge bis Silvester tot ist«, sagt er. »Lange bevor die Uhr Mitternacht schlägt. Dace – Cade – egal, welcher. Soweit ich es überblicke, sind sie ein und dieselbe Person. Beherrscht von Finsternis. Der absolute Inbegriff des Bösen. Wenn du deine Arbeit richtig machst und das Opfer bringst, für das du auf diese Welt gekommen bist, werden die Letzten Tage von den Leuchtenden Tagen der Herrlichkeit gefolgt werden, die ich schon lange prophezeit habe.« Er blickt in den Rückspiegel und rückt das Revers seines Anzugs zurecht – des Anzugs, den er für Feiertage, Sonntage und seine heiß geliebten Weltuntergangsmomente reserviert hat.
»Jetzt schau dir das mal an !« Seine Stimme klingt auf einmal hell und heiter, als er auf seine billige Uhr mit ihrem abgewetzten Lederband schaut. »Es ist schon Mitternacht vorbei. Fröhliche Weihnachten«, sagt er.
»Fröhliche Weihnachten«, wiederhole ich dumpf.
Ich rutsche aus dem Auto und halte das Gesicht gen Himmel. Gesalbt vom Schnee, der kurz auf meinen Wangen liegen bleibt, bevor er schmilzt und die Tränen verbirgt, die ich nicht weinen darf.