Vierzehn

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Daire

Als wir aus dem Schnapsladen kommen, die Zigaretten sicher in meiner Tasche verstaut, ist Dace verschwunden. Hoffentlich hat er sich auf den Rückweg zur Schule gemacht, nachdem er begriffen hat, welch großes Risiko er eingeht, wenn er mir folgt.

An mich denkt.

Mich liebt.

Ich begleite Chay in die Buchhandlung, wo er an den Regalen entlangstreift und sich die Art von Titeln ansieht, von denen ich mir sicher bin, dass sie ihn überhaupt nicht interessieren. Dabei drückt er sich auf eine Art und Weise herum, dass ich mich frage, warum er überhaupt Wert darauf gelegt hat, mich hierherzubringen.

Als die Rothaarige an der Kasse einer unsichtbaren Person im Hinterzimmer zuruft, dass sie kurz rüber zu Gifford’s muss, um eine Rolle Briefmarken zu besorgen, und den Laden verlässt, wird Chay sofort munter. Sowie sie die Ladentür hinter sich geschlossen hat, schießt er mit einer mir völlig unerklärlichen Zielgerichtetheit zum Verkaufstresen. Er lächelt zur Begrüßung, als ein Mann mit pechschwarzem Haar und ebensolchen Augen hinter dem Vorhang hervorkommt und mich fragend ansieht.

»Daire Santos.« Chay macht eine Kopfbewegung zu mir her.

»Lucio Whitefeather.« Der Mann nickt und umfasst meine Hand mit seiner zu einem angenehm festen Händedruck.

»Whitefeather ?« Ich sehe zwischen ihm und Chay hin und her.

»Lucio ist Leftfoots Sohn«, murmelt Chay, während er mich durch den Vorhang in ein Hinterzimmer schiebt, das anscheinend als Lager, Pausenraum und Versandzentrale zugleich herhalten muss, wenn man nach der Anzahl großer Pappkartons geht, die überall herumstehen.

»Gutes Timing«, sagt Lucio. »Hab gerade Neuware bekommen.«

Ich sehe ihnen zu, wie sie sich über eine Kiste beugen und dicke Streifen braunen Klebebands durchtrennen, nur um … Bücher freizulegen ?

»Kapier ich nicht.« Ich verziehe den Mund. Versuche, aus ihrem Treiben schlau zu werden. »Was soll die ganze Heimlichtuerei ?«

Lucio schaut zwischen Chay und mir hin und her und ergreift die Initiative. »Die Richters kontrollieren die Stadt nicht nur einfach so – sie kontrollieren auch, was in der Stadt verkauft wird.«

Ich mustere die Bücherstapel mit ihren bunten Einbänden – Bücher darüber, wie man sein Leben meistert, wie man von innen heraus eine bessere Welt erschafft – etwas ganz anderes als die Bücher, die ich erwartet hätte.

»Wollt ihr damit sagen, dass sie zusätzlich zu ihrer langen Liste von Übeltaten jetzt auch noch Bücher verbieten ?«

»Sie haben alles verboten, was ihnen zu inspirierend oder zu informativ ist.« Lucio und Chay wechseln einen wissenden Blick. »Sie wollen nicht, dass die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Das wäre ungünstig für sie.«

»Also zensieren sie ?«

»Schon mal Enchantment-Radio gehört ?«, fragt Lucio.

Ich schüttele den Kopf. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich bin ziemlich mit meinem iPod verwachsen.

»Dort laufen nur die Musik und die Nachrichten, die ihnen genehm sind. Und die Lokalzeitung ist keinen Deut besser.«

»Okay, aber trotzdem – wozu die ganze Heimlichtuerei ? Warum bestellt man nicht einfach die ganzen Sachen online und lässt sich sämtliche inspirierenden Ratgeberbücher, die man haben will, direkt ins Haus liefern ?«

»Sie betreiben das lokale Postamt und auch den lokalen Internetprovider.«

Ich reiße die Augen auf. Puh. Ich wusste ja, dass diese Stadt schlimm ist. Ich wusste, dass die Richters böse sind. Aber irgendwie war mir wohl nie so ganz klar, wie weit das geht. Sie sind wirklich komplette Faschisten. Ein Grund mehr, mich ins Rabbit Hole zu begeben und zu tun, wozu ich gekommen bin.

»Und, warum bleibt ihr hier ?« Ich sehe zwischen ihnen hin und her.

»Jemand muss doch für das Gute kämpfen.« Chay grinst, nimmt ein Buch vom Stapel und steckt es mir in die Tasche. Er verabschiedet sich rasch von Lucio und drängt mich hastig zur Hintertür hinaus, als die rothaarige Verkäuferin zurückkehrt.

»Soll ich dich nach Hause bringen ?« Chay äußert die Frage ganz beiläufig, was in direktem Gegensatz zu dem durchdringenden Blick steht, mit dem er mich mustert.

»Nach Hause ? Du meinst nicht zur Schule ?« Ich ziehe eine Braue hoch. »Ehrlich gesagt, hatte ich eigentlich vor, mich noch eine Weile in der Stadt herumzutreiben. Mir ein ruhiges Plätzchen suchen und mein neues Buch lesen.« Ich tätschele nachdrücklich meine Tasche, doch Chays Blick sagt mir, dass er mir die Nummer nicht abkauft.

»Das würde ich nicht empfehlen. Am besten machst du so etwas ausschließlich in deiner häuslichen Privatsphäre.«

»Willst du damit sagen, dass unsere häusliche Privatsphäre geschützt ist ?«

In Chays Mundwinkeln zuckt es. »In Palomas Haus schon.«

»Was hast du mir da überhaupt zugesteckt ?«, frage ich, nachdem ich kaum einen Blick auf das Buch hatte werfen können, ehe er es mir tief in die Tasche geschoben hat.

»Ein Buch über Manifestieren und Entschlusskraft – nichts, was Paloma dir nicht auch beibringen könnte.«

Verwirrt starre ich ihn an.

Er reibt sich das Kinn und sieht sich um, um sicherzugehen, dass uns niemand belauscht. »Daire, ich wollte dir zeigen, mit was für Gegnern du es zu tun hast. Du unterschätzt El Coyote massiv, wenn du glaubst, du kannst einfach dort hineinplatzen und tun, was … was ich glaube, was du zu tun vorhast. Sie sind viel mächtiger, als du denkst. Die Schachtel Zigaretten in deiner Tasche bringt dich vielleicht an den Dämonen vorbei, die das Portal bewachen, aber was willst du machen, wenn du erst einmal drinnen bist ? Hast du überhaupt einen Plan – oder handelst du einfach aus einer irrationalen Mischung aus Leidenschaft, Wut und Adrenalin heraus ?« Er fixiert mich mit seinem Blick und wartet auf eine Antwort von mir, doch als ich ihm keine gebe, spricht er weiter. »Wenn du jetzt da rübergehst, schaffst du es lediglich, dich umbringen zu lassen.«

»Stimmt nicht«, widerspreche ich. »Cade bringt mich nicht um – er braucht mich. Er weiß, dass ich mich nicht einfach dazu zwingen kann, Dace nicht mehr zu lieben – so funktioniert das nicht. Also wird er umso stärker, je länger er mich am Leben lässt. Er ist derjenige, der davon profitiert.«

»Glaub bloß nicht eine Sekunde lang, dass er dich nicht tötet, nur um sich selbst zu retten, denn ich garantiere dir, er tut es. Dein Antrieb, ihn umzubringen, ist nur so wirksam wie die Kraft, die dir dafür zur Verfügung steht. Und Daire, du bist einfach nicht stark genug. Ich kann dich das nicht tun lassen. Zumindest noch nicht. Außerdem musst du das nicht alles allein auf dich nehmen. Du hast jede Menge Rückhalt in Paloma und mir. Selbst in Leftfoot und Chepi und Lucio, den du gerade kennengelernt hast. Lass dir von uns helfen. Lass dir von uns zeigen, wie man die Sache richtig angeht.«

Ich wäge seine Worte ab.

»Komm schon.« Er legt mir einen Arm um die Schulter und führt mich die Straße hinab zu seinem Auto. »Es ist keine Schande, auf die Weisheit eines alten Mannes zu hören.«