Vierzig

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Daire

Was soll das ?« Kurz vor dem Eingang mache ich halt. Spähe durch die Gasse auf eine Horde von Leuten, die vor einer über und über mit Bildern beklebten Wand stehen und flackernde Kerzen in den Händen halten.

»Mahnwache für die Vermissten.« Lita schickt ihren Worten ein Stöhnen hinterher. »Als ob diese Stadt nicht schon deprimierend genug wäre.«

Ich sehe die Fotos durch und erkenne viele der Gesichter von Cades unechter Jobmesse, während Lita Xotichl und mich von der Menge wegsteuert und in den Club drängt. Sie beginnt ihr gewohntes Programm aus Lächeln, Winken und Luftküssen, wobei sie mit spöttischem Tonfall ruft: »Hallo-hallo ! Kuss-Kuss ! Winke-Winke !« Stirnrunzelnd schüttelt sie den Kopf. »Was bin ich eigentlich – das dämliche Begrüßungskomitee ?« Als sie Jacy und Crickett am gewohnten Platz warten sieht, schlägt sie gezielt die andere Richtung ein. »Ich pack das nicht mehr. Ich krieg es nicht mehr hin. Ich hab die Szene hier dermaßen satt, dass ich zum ersten Mal über einen vorzeitigen Abgang nachdenke. Wenn Phyre so scharf darauf ist, mich abzulösen, soll sie. Von mir aus kann sie die neue Königin werden.«

»Bist du dir sicher, dass du die Krone aufgeben willst ?«, witzelt Xotichl. »Noch dazu völlig kampflos ?«

»Derart beliebt zu sein saugt einem total die Energie aus.« Lita seufzt. »Ihr habt ja keine Ahnung. Ich kenne diese Leute praktisch schon mein ganzes Leben, und trotzdem wird immer noch erwartet, dass ich mich jedes Mal vor Begeisterung überschlage, wenn ich sie sehe. Wenn wir doch nur ein paar neue Schüler auf die Milagro kriegen könnten – und zwar keine Mädchen –, dann würde ich es mir vielleicht noch mal überlegen. Aber schaut sie euch nur an.« Sie zeigt auf eine Gruppe Jungs, die mit Jacy und Crickett am selben Tisch sitzen. »Ich habe schon jeden dieser Trottel geküsst, und glaubt mir, sie hatten wesentlich mehr davon als ich.« Sie verzieht das Gesicht und wendet sich zu mir um. »Wenn du zu Jennika nach L. A. fährst, musst du mir versprechen, dass du mich mitnimmst. Ehrlich. Ich rolle mich in deinem Handgepäck zusammen – und das meine ich so was von ernst. Betrachte es als Rettungseinsatz. Nur dass du mich vor der sehr realen Gefahr retten würdest, vor Langeweile zu sterben.«

Ich stelle mir Lita in L. A. vor und komme zu dem Schluss, dass es ihr wahrscheinlich so gut gefallen würde, dass ich am Ende ohne sie nach Enchantment zurückkäme.

»Wir können unsere Tage mit Shoppen und am Strand verbringen, und abends zeigst du mir die ganzen Promi-Lokale. Wie klingt das ?«

»In deiner Fantasie besser als in Wirklichkeit«, sage ich und lasse auf der Suche nach Cade den Blick schweifen, doch stattdessen kommt mir Dace ins Visier. Und obwohl es mich freut zu sehen, dass er wieder auf den Beinen ist, bedeutet die Tatsache, dass er hier ist, nichts Gutes für meine Pläne. Mehr denn je muss ich mir Cade schleunigst schnappen, ehe Dace den Plan umsetzen kann, den er angedeutet hat.

Gewaltsam wende ich mich ab und konzentriere mich auf meine Freundinnen, da ich weiß, dass ich Dace nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken darf. Doch schon im nächsten Moment tippt mir Lita auf die Schulter und sagt: »Äh, vielleicht solltest du da mal dazwischengehen. Ich trau der Tussi nicht über den Weg.«

Sie zeigt zu der Stelle, wo Dace noch vor ein paar Sekunden allein stand und wo sich jetzt Phyre zu ihm gesellt hat. Die immer näher an ihn heranrückt. Sich in seinen Raum drängt. Dabei scheint sie weder zu bemerken noch zu berücksichtigen, dass er zurückweicht und sich gezielt aus ihrem Radius entfernt. Und auch wenn ich einerseits am liebsten hinübermarschieren und sie zur Rede stellen würde, bin ich doch klug genug, mich zurückzuhalten.

»Mal im Ernst.« Lita stupst mich an, diesmal etwas fester. »Willst du nicht etwas dagegen unternehmen, dass sie dir deinen Mann klaut ?« Sie wirft mir einen empörten Blick zu. »Warum gibst du dich so passiv ? Das kapier ich nicht. Sieht dir gar nicht ähnlich.«

Ich will ihr gerade antworten, als Xotichl das für mich übernimmt. »Du kannst einen anderen Menschen nicht klauen, Lita. Entweder geht er freiwillig oder er tut es nicht. Und wenn er freiwillig geht, dann tschüss – dann kannst du froh sein, wenn du ihn los bist.«

Litas Augen werden schmal, als sie über Xotichls Worte nachdenkt und an ihrem Piercing dreht, während ich mich zwinge, woanders hinzusehen und Dace nicht anzuschauen. Was er und Phyre diskutieren, geht mich nichts an.

»Okay«, sagt Lita. »Selbst wenn Xotichl recht hat – und ich muss widerwillig zugeben, dass dem so ist –, dann steht trotzdem außer Zweifel, dass Phyre wildert. Und ich finde, sie sollte wissen, dass du sie total im Blick hast und das weder akzeptabel noch cool ist. Die Welt ist hart, und wir Mädels müssen zusammenhalten. Wir müssen die Hinterhältigkeit, das Herumzicken und den Konkurrenzkampf um Jungs sein lassen, als wären sie irgendein sagenhafter Preis.«

»Da hast du dich ja ganz schön weiterentwickelt«, witzele ich und muss daran denken, wie schlecht sie mich an meinem ersten Schultag behandelt hat.

»Ja, allerdings.« Sie wirft mir ein verkniffenes Lächeln zu. »Und nur damit du’s weißt, wenn du jetzt nicht zu Miss Phyre Youngblood rübermarschierst und alles wiederholst, was ich gerade gesagt habe, dann kann ich es gern für dich übernehmen.«

Ich schüttele den Kopf und lasse einen Moment lang den Blick auf Dace ruhen. Lange genug, um ein wenig von seiner Wärme zu spüren, ehe ich wieder wegsehe. »Es ist alles ein bisschen kompliziert mit Dace …«

»Sie machen gerade eine kleine Pause«, wirft Xotichl ein und spricht damit eine Wahrheit aus, die für mich zu schmerzhaft ist.

»Was ? Wann genau ist das passiert ? Willst du damit sagen, dass wir jetzt alle beide Single sind ? Heißt das, ich konkurriere mit dir ?« Lita kneift die Lider zusammen und muss erst überlegen, wie sie das findet.

»Konkurrieren um was ?«, will Xotichl wissen. »Du hast doch gerade gesagt, wir Mädels müssten aufhören, um Jungs zu konkurrieren. Und du hast gesagt, es gäbe keinen einzigen interessanten Jungen in der Stadt, der nicht gebunden ist.«

»Stimmt. Und genauso habe ich es auch gemeint. Was soll ich sagen ? Manchmal gibt es halt eine kleine Verzögerung bei der Umsetzung meiner Worte. Außerdem ist das alles rein hypothetisch. Du hast dir den einzigen guten Typen geschnappt, der hier in der Gegend zu haben war. Wo ist Auden eigentlich ?«

Xotichl neigt den Kopf zur Seite. »Er ist gerade gekommen.«

Lita und ich schauen zur Tür, wo tatsächlich Auden steht und sich auf der Suche nach Xotichl im Raum umsieht.

»Wie machst du das ? Wie macht sie das ?« Lita sieht zwischen uns hin und her, doch ich zucke nur die Achseln. Ich habe genug damit zu tun, nicht wegen Dace auszurasten.

»Ich bin gekommen, um Wettschulden einzutreiben«, sagt Auden, während er auf Xotichl zugeht. »Wenn in den nächsten Stunden nicht etwas Dramatisches passiert, können wir bestenfalls auf nasse Weihnachten hoffen, aber nicht auf weiße Weihnachten.«

»Oh, ihr Kleingläubigen.« Xotichl grinst. »Wisst ihr nicht, dass der Vorhang erst fällt, wenn das weiße Zeug vom Himmel rieselt ?«

Ich sehe sie alle an und kann kaum glauben, dass ich so angestrengt versucht habe, im Kodex Antworten zu finden, die Prophezeiung in meinem Kopf umzudeuten und mir einen Plan einfallen zu lassen, dass ich gar nicht mehr an den Schnee gedacht habe.

Nicht mehr an das Einzige gedacht habe, das nach wie vor – vielleicht – meiner Kontrolle untersteht. »Bin gleich wieder da !«

»Wo willst du hin ?«, ruft mir Lita nach, während Xotichl besorgt das Gesicht verzieht.

»Ich verschaffe Xotichl ihre weißen Weihnachten«, gebe ich zurück und haste auf den Ausgang zu, während mir Lita, Xotichl und Auden nachstarren.