Vier

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Ich versuche es noch einmal.

Und noch einmal.

Und danach noch ein paarmal. Doch das Ergebnis bleibt stets dasselbe.

Jedes Mal, wenn ich dem Pendel eine Frage stelle, die ein unmissverständliches Nein ergeben müsste, reagiert es, wie es soll, indem es gegen den Uhrzeigersinn schwingt. Aber jedes Mal, wenn ich die Frage wiederhole, ob ich in Cade verliebt bin, schwingt es in die andere Richtung.

Das Ritual frustriert mich dermaßen, dass ich nicht mehr an mich halten kann. »Paloma, was soll das ?«, schimpfe ich, da ich nicht begreife, was es bedeuten könnte, warum das Pendel darauf besteht, mich zu quälen.

Und dann fällt mir etwas ein, was die Knochenhüterin gesagt hat.

Etwas in dem Sinne, dass Dace das Echo sei.

Was Cades spöttische Bemerkung widerspiegelt, die er mir bei unserer letzten Begegnung an den Kopf geworfen hat.

Du arbeitest seit dem Tag für mich, als du zum ersten Mal diese Träume von meinem Bruder hattest … du weißt schon, das Echo ?

Ein Echo ist eine Wiederholung.

Ein Spiegelbild.

Eine Figur aus der griechischen Mythologie, die sich nach Narziss verzehrte, bis nur noch ihre Stimme von ihr übrig war.

Was sollte das mit Dace zu tun haben ?

Ich sehe Paloma forschend an, da ich dringend Antworten brauche.

»Sie sind miteinander verbunden, nieta. Das ist alles, was ich weiß. Wie tief diese Verbindung reicht, musst du selbst herausfinden. Aber sie ist eindeutig tief genug, dass das Pendel die beiden verwechselt.«

»Das ist unmöglich !«, rufe ich. »Sie sind sich überhaupt nicht ähnlich !«

Doch Paloma nickt nur und legt ihre Hand über meine. »Meine Patientin wird bald hier sein. Machen wir mit den Federn weiter, solange noch Zeit ist.«

Als Palomas Patientin eintrifft, mache ich mich auf den Weg nach draußen. Doch als ich an einem Fenster vorbeikomme und einen Blick auf einen dunkel dräuenden Himmel erhasche, kehre ich rasch um und gehe in mein Zimmer, wo ich vor meinem Schrank stehen bleibe und überlege, was ich tun soll.

Sosehr ich die alte Armeejacke liebe, die ich ständig trage – und die ich von der Kostümbildnerin bei einem Blockbuster-Film bekommen habe, an dem Jennika vor zwei Jahren mitgearbeitet hat –, sie ist nicht geeignet für einen Winter in New Mexico. Ich brauche etwas Schwereres, Dickeres, etwas, das mich zuverlässig vor der harten Winterkälte schützt.

Ich betrachte meine mageren Besitztümer, bestehend aus Jeans, Tops, lässigen Stiefeln und nicht viel mehr. Das Wärmste, was ich besitze, ist der schwarze V-Pulli, den ich mir im Duty-Free-Shop am Charles-de-Gaulle-Flughafen auf dem Weg nach Marokko gekauft habe, damit ich im Flugzeug etwas Warmes anzuziehen habe.

Immerhin hat mich das Leben aus dem Koffer gelehrt, meine Habseligkeiten auf ein Minimum zu beschränken. Bücher, Klamotten, Schuhe, Schmuck – alles, was ich nicht mehr brauche, gebe ich entweder weiter oder lasse es liegen. Und da mein letzter Wohnort L. A. war, bin ich in puncto Winter etwas mager ausgerüstet.

Ich trommele mit den Fingern auf meine Hüften, verziehe den Mund und blicke herum, als würde ich damit rechnen, dass aus dem Nichts etwas Neues auftaucht. Dann überlege ich, ob ich vielleicht etwas von Paloma borgen kann, bis ich in einen vernünftigen Kleiderladen komme, obwohl ich bezweifele, dass sie etwas Brauchbares besitzt. Ganz egal, wie tief die Temperaturen auch sinken, ich habe sie noch nie etwas Dickeres tragen sehen als ein Baumwollkleid und eine Strickjacke.

Ich richte den Blick nach oben und mustere den noch unerforschten braunen Pappkarton im obersten Schrankfach. Obwohl ich jetzt schon mehrere Monate in diesem Zimmer wohne, fällt es mir immer noch schwer, es als meines zu betrachten. Irgendwie bin ich es einfach nicht gewohnt, mir Räume anzueignen. Seit ich ein Kind war, waren alle meine Wohnsitze bestenfalls vorläufig. Und obwohl mir Paloma freie Hand dabei lässt, alles Erforderliche zu tun, um das Zimmer zu meinem eigenen zu machen, sind die einzigen Zeichen für meine Existenz ein paar Kleidungsstücke im Schrank, ein kleiner Stoß Socken und Unterwäsche in der großen Kommode und der Laptop, den ich auf den alten, hölzernen Schreibtisch gestellt habe – was allesamt locker in eine Reisetasche passt, wenn es Zeit ist weiterzuziehen.

Dieses Zimmer ist immer noch sehr stark Djangos Zimmer, und so gefällt es mir auch. Dadurch fühle ich mich meinem Vater auf eine Weise nahe, wie ich es bisher noch nie erlebt habe.

Auf der Frisierkommode steht in einem hübschen Silberrahmen ein Bild von ihm, das gemacht wurde, als er sechzehn war, genauso alt wie ich jetzt. Und seine Initialen sind direkt neben meinem Computer in die Tischplatte geritzt – das schroffe D. S. halb so groß wie meine Hand. Selbst der Traumfänger über dem Fensterbrett gehört ihm, also habe ich wohl wie selbstverständlich angenommen, dass der Inhalt der Schachtel oben im Schrank auch ihm gehört. Und bis jetzt hatte ich nicht das Gefühl, ich hätte das Recht herumzuschnüffeln.

Obwohl ich mit meinen eins achtundsechzig nicht gerade klein bin, ist das Regalbrett das entscheidende Stückchen zu hoch für mich, um nach der Schachtel zu greifen, ohne zu riskieren, dass sie mir auf den Kopf knallt. Ich überlege, die handbemalte Kiste, in der sich die Instrumente für meine Arbeit als Suchende befinden, zum Schrank herüberzuzerren, damit ich daraufsteigen und die Schachtel herunterholen kann, doch dann fällt mir etwas Besseres ein.

Ich beschließe, ein wenig von der Magie einzusetzen, die ich geübt habe, die Telekinese, an deren Beherrschung ich noch feilen wollte, und konzentriere mich fest auf die Schachtel. Dabei beachte ich Palomas Ratschlag, vom Ende her zu denken, denn sie behauptet, das sei die zweitwichtigste Zutat der Magie und komme gleich nach der Entschlusskraft.

»Das Universum arbeitet die Einzelheiten aus«, hatte sie gesagt. »Das Wichtigste, was du tun kannst, ist, deine Entschlossenheit zu erklären und dir dann das Ergebnis vorzustellen, als sei es bereits eingetroffen.«

Und statt mir nun vorzustellen, wie sich die Schachtel von dem Regalbrett hebt und sachte zu Boden schwebt, wie ich es früher getan habe, male ich mir aus, wie sie bereits wohlbehalten vor meinen Füßen steht. Prompt muss ich mit ansehen, wie sie sich vom Regalbrett löst und ungebremst auf den Boden kracht. Da muss ich wohl noch ein paar telekinetische Mängel ausbügeln.

Ich spähe zur Tür, in der Hoffnung, dass Paloma den Lärm überhört hat und nicht auf die Idee kommt nachzuforschen. Dann hocke ich mich neben die alte Kiste und öffne sie. Auf der Stelle weht mich ein Muff von Staub und Moder an, gefolgt von einem erdigen Geruch nach Gewürzen, Mesquite und ein paar anderen namenlosen Düften, die ich mittlerweile mit dem Ort hier assoziiere.

Ich krame durch den Inhalt. Schiebe einen selbst gestrickten Pulli beiseite, der mir auf den ersten Blick missfällt, ein altes Karohemd, das fast zu Tode getragen wurde, einen Stapel vergilbte T-Shirts, die einmal weiß waren, bis ich auf eine schwarze Daunenjacke stoße, die vielleicht ein bisschen groß sein könnte, aber für meine Zwecke definitiv ausreicht.

Schon will ich den Karton schließen und wieder nach oben stellen, als mir ganz unten ein Stapel Blätter auffällt, den ich mir noch ansehen will. Ich finde ein altes Schulzeugnis von Django mit Einsern in Spanisch und Sport, einem guten Zweier in Englisch und Dreiern in Geschichte und Naturwissenschaften. Ich lehne mich zurück und streiche über das verknitterte Blatt. Dann schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie er damals war – ein gut aussehender Junge mit einer Nase wie der meinen – ein durchschnittlicher Schüler, der eine nicht ganz so durchschnittliche Zukunft vor sich hatte, der er sich nicht zu stellen wagte.

Ich lege das Zeugnis beiseite und stöbere weiter. Ich fühle mich seltsam schuldig, weil ich herumspioniere, bin aber ebenso begierig nach allem, was ich in die Finger kriege. Ich lese alles. Weitere Schulzeugnisse, Stundenpläne, ein zusammengefalteter Zettel von einem Mädchen namens Maria, die offenbar auf ihn stand, falls man aus den um den Rand herum gemalten Herzchen Schlüsse ziehen darf. Schließlich komme ich zu dem Brief, den er Paloma an dem Tag hinterlassen hat, als er davongelaufen ist, ohne zu ahnen, dass seine Reise tragisch und kurz sein würde. Dass er sich kurz nach seiner Ankunft in Kalifornien in meine Mutter verlieben und sie schwängern würde, nur um noch bevor sie ihm das sagen konnte, auf einer hektischen Stadtautobahn in L. A. bei einem Unfall geköpft zu werden.

Ich hole tief Luft, und meine Hände zittern, während meine Augen über die Zeilen wandern:

Mama,

wenn du das hier liest, bin ich schon lange weg, und auch wenn du versucht sein wirst, mir zu folgen, bitte ich dich, mich ziehen zu lassen.

Ich bedauere die Enttäuschung und den Kummer, die ich dir bereitet habe. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich kann mich glücklich schätzen, eine so nette, liebevolle und unterstützende Mutter zu haben, und ich hoffe, du begreifst, dass mein Verschwinden nichts mit dir als Person zu tun hat.

Die Stadt erstickt mich einfach. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss weit weg von hier – irgendwohin, wo mich niemand kennt.

Wo mich die Visionen nicht finden.

Du sprichst von Bestimmung und Schicksal – aber ich glaube an den freien Willen.

Die Bestimmung, die ich wähle, erfüllt sich an einem weit von hier entfernt gelegenen Ort.

Ich melde mich, wenn ich Fuß gefasst habe.

Alles Liebe,

dein Django

Ich lese den Brief noch einmal.

Und dann noch einmal.

Und nachdem ich ihn so oft gelesen habe, dass ich nicht mehr mitzählen kann, falte ich ihn ordentlich zusammen, lege ihn zurück in die Schachtel und stelle sie wieder an ihren Platz oben im Schrank.

Dann schlüpfe ich in die alte Daunenjacke meines Vaters und durchsuche die Taschen. Sorgfältig taste ich jeden Saum ab und halte inne, als ich etwas Kleines, Glattes entdecke, das jedoch ein erstaunliches Gewicht hat.

Ich öffne die Faust, und zum Vorschein kommt die kleine Steinskulptur eines Bären, die im selben Stil gehalten ist wie der Rabe in meinem Beutelchen. Der Rabe, der unerklärlicherweise nach meinem ersten Besuch in der Unterwelt modelliert wurde, als ich unterstützt von Palomas Tee auf eine Seelenreise ging. Und jetzt frage ich mich zwangsläufig, ob Bär auf die gleiche Weise zu Django kam.

Ich war immer davon ausgegangen, dass Django, geplagt von den entsetzlichen Visionen, die den Beginn der Berufung jedes Soul Seekers markieren, abgehauen ist, ehe Paloma das Ritual mit ihm vollziehen konnte – doch da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher.

Trotzdem freut es mich, dass ich ein Souvenir von meinem Dad habe, wie klein es auch sein mag. Und so reihe ich es in meine Sammlung von Talismanen ein und denke an das, was Paloma gesagt hat, nachdem das Pendel bestätigt hatte, dass ich das Beutelchen weiterhin um den Hals tragen solle: Du sollst die Geisttiere nicht verlassen, wenn nicht sie dich aus freien Stücken verlassen haben.

Ich gehe hinaus in den Garten und spaziere an den verschiedenen Beeten vorüber. Eines für die Kräuter, die Paloma für ihre Arbeit als Heilerin braucht, eines für das biologische Obst und Gemüse, mit dem sie all unsere Mahlzeiten zubereitet. Ich halte inne und mustere das Stück Land, das für ihre Hybridexperimente reserviert ist – wo seltsame, missgestaltete Pflanzen aus der Erde sprießen und ununterbrochen blühen, ganz unabhängig von der Jahreszeit –, bevor ich schließlich am Brunnen und der kleinen Steinbank vorübergehe und zu guter Letzt an Kachinas Stall haltmache.

Als ich meinen Adoptivkater schlafend in der Ecke liegen sehe, schleiche ich mich extra leise näher heran. Doch sowie er meine Anwesenheit spürt, schnellt sein Kopf in die Höhe, er spitzt die Ohren, dann springt er auf die Füße und schießt davon – hüpft über den nächstgelegenen Zaun und verschwindet im Garten der Nachbarn.

»Offenbar hasst Kater mich noch immer.« Ich liebkose Kachinas Nüstern, fahre ihr mit der Hand über die akkurat gestreifte braun-weiße Mähne, während sie zur Begrüßung leise wiehert. »Meinst du, du könntest ein gutes Wort für mich einlegen ? Ihn daran erinnern, dass ich diejenige bin, die ihn füttert – dass ich es bin, die ihn gerettet hat ?«

Kachina reibt ihre Nase an meiner Seite und drängt mich in Richtung Stalltür – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie will, dass ich sie losbinde und mit ihr ausreite. Und auch wenn mir die Idee ebenso gut gefällt wie ihr, fallen mir zwangsläufig all die anderen Dinge ein, die ich stattdessen tun müsste.

Wie zum Beispiel zur Schule zurückkehren, damit meine Verspätung nicht in ein Schwänzen ausartet.

Oder, weit wichtiger noch, in die Unterwelt zurückkehren, damit ich einen Vorsprung auf der Jagd nach den Richters bekomme.

Doch bevor ich mich für das eine oder das andere entscheiden kann, trifft eine SMS von Dace ein:

Hab dich in der Pause vermisst – alles okay ?

Ich zögere. Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, ihn zu sehen, und dem Wissen, dass er, wenn ich ihm auch nur den leisesten Hinweis darauf liefere, dass ich die Jagd fortzusetzen gedenke, nicht nur die Schule, sondern auch noch die Arbeit schwänzen wird, um mir zu helfen. Und das kann ich nicht zulassen. Wenn er sich die Aussicht darauf bewahren will, aufs College zu gehen, dann muss er sowohl einen guten Abschluss schaffen als auch ein regelmäßiges Einkommen haben.

Und so tippe ich meine Antwort ein:

Keine Sorge. Alles bestens. Ich bin bei Paloma. Kommst du heute Abend nach der Arbeit vorbei ?

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und warte auf seine Antwort. Ich habe wegen der Lüge ein schlechtes Gewissen – einer Notlüge, aber trotzdem einer Lüge –, während ich mir selbst einrede, dass es nicht anders ging.

Sowie er antwortet und mir versichert, dass er später kommt, zäume ich Kachina auf, steige auf ihren Rücken und lenke sie aus dem Stall. Dann dirigiere ich sie auf den zerfurchten Feldweg und habe nur noch ein Ziel vor Augen.