Einunddreißig
Dace
Du weißt, dass ich dich nicht weiter mitkommen lassen kann«, sage ich zu Xotichl. So winzig und schmal sieht sie aus, als würde sie gleich von dem dicken Parka verschluckt, den sie anhat.
Wir können von Glück reden, dass wir ungesehen so weit gekommen sind. Dass wir es geschafft haben, uns an einer Horde untoter Richters vorbeizuschleichen, die viel zu sehr damit beschäftigt waren, eine sogenannte Jobmesse aufzubauen, um uns zu registrieren. Das ist allerdings keine Garantie dafür, dass unsere Glückssträhne von Dauer sein wird. Und ich würde es mir nie verzeihen, wenn Xotichl in meiner Obhut zu Schaden käme.
»Offen gestanden, kann ich auch nicht behaupten, dass ich das will. Hier spielt sich irgendwas ganz Sonderbares ab.« Sie reckt das Kinn und schnuppert. »Noch sonderbarer als sonst, finde ich. Diese Leute, an denen wir vorhin vorbeigekommen sind, du weißt schon, die die Tische aufgestellt und die Schilder aufgehängt haben ?«
»Ja ?« Ich ziehe eine Braue hoch und beuge mich zu ihr.
»Es sind Untote.«
Ich atme aus und bin seltsamerweise von ihren Worten erleichtert. Das zeigt mir, wie sehr sich mein Leben in nur wenigen Wochen verändert hat. »Ich weiß.« Ich erzähle es ihr. »Das ist Cades Lieblingsprojekt. Er hat am Tag der Toten eine Reihe lange verstorbener Richters wiederbelebt, indem er sie mit Stückchen von Seelen – sowohl tierischen als auch menschlichen – gefüttert hat. Das ist nur ein weiterer Grund dafür, dass er aufgehalten werden muss. Es hätte uns gerade noch gefehlt, wenn noch mehr Richters herumlaufen.«
Xotichl umklammert ihren Stock und zieht die Schultern zusammen. »Ich halte das mit der Jobmesse für einen Schwindel. Ich glaube, es ist ein Vorwand für etwas viel Zwielichtigeres.« Sie hält inne, damit ich mich dazu äußern kann, doch ich habe nichts zu sagen. Ich bin ganz ihrer Meinung. »Vielleicht sollte ich dich begleiten«, erbietet sie sich. »Du weißt schon, wie ein Bodyguard.« Sie grinst über ihren Witz, doch die Wirkung hält nur kurz an, dann legt sich die Schwere der Situation erneut über uns.
»Mir ist echt nicht wohl dabei, dich jetzt allein zu lassen. Bist du sicher, dass du den Rückweg findest ?«
Ich blicke zwischen ihr und der Wand, die keine Wand ist, hin und her. Sinne darüber nach, wie lange ich ihre Anwesenheit nichts ahnend hingenommen habe, obwohl ich bestimmt Hunderte von Malen an ihr vorbeigegangen bin. Und darüber, dass ich eine Blinde dazu brauche, um mich auf die Wahrheit zu stoßen, die seit jeher direkt vor meinen Augen war.
Wir sehen, was wir sehen wollen. Und wenn wir uns diesen Luxus nicht mehr leisten können, sehen wir, was wir sehen müssen.
Jetzt, wo ich mit der Wahrheit konfrontiert werde, bin ich hin- und hergerissen zwischen meinem Wunsch, einfach loszustürmen, und der Sorge, Xotichl zurückzulassen. Ich habe Angst, dass sie sich in diesem dunklen, höhlenartigen Raum verirrt, der regelrecht nach Bösartigkeit und Niedertracht stinkt.
»Mach nie den Fehler, mich zu unterschätzen. Ich komm schon klar.« Sie zieht eine Braue auf eine Weise hoch, dass kein Zweifel möglich ist. »Wenn mich irgendjemand erwischt, sage ich einfach, ich war so begeistert von den Jobangeboten, dass ich extra früh gekommen bin, um als eine der Ersten ein Bewerbungsblatt ausfüllen zu können. Und wenn sie mir das Recht dazu verweigern wollen, drohe ich damit, dass ich sie wegen Diskriminierung verklage.« Um ihre Worte zu unterstreichen, schlägt sie mit dem Stock fest auf den Boden. »Hast du die Zigaretten ?«
Ich klopfe auf meine Jackentasche und bestätige, dass ich sie habe. »Ich dachte immer, das sei ein Mythos. Du weißt schon, das mit dem Tabakopfer für die Dämonen.«
»Und was glaubst du, wo Mythen herkommen ?«, fragt sie. »Sie beginnen als Wahrheiten. Sie sind erst zu Mythen geworden, als wir beschlossen haben, dass es leichter ist, Dinge, die wir nicht verstehen, einfach zu leugnen.«
»Okay, du kleine Schlaubergerin.« Ich umfasse ihre Schultern mit beiden Händen und drehe sie um, bis sie in die andere Richtung schaut. »Wir müssen uns jetzt trennen. Du suchst den Ausgang, während ich auf Entdeckungsreise gehe.«
Doch kaum will ich losgehen, da dreht sie sich um. »Dace«, beginnt sie, während ihre Miene sich besorgt verzieht. »Was soll ich Daire sagen ? Du weißt schon, falls ich ihr begegne ?«
Ich betrachte Xotichl, die in diesem hohlen Raum derart winzig und verletzlich aussieht, dass ich mir selbst in Erinnerung rufen muss, wie recht sie hat – es wäre ein Fehler, sie zu unterschätzen. Ich umfasse die Zigaretten, umklammere sie fest mit den Fingern, während ich auf den schmierigen, pulsierenden Schleier zugehe und sage: »Mach dir keine Sorgen. Dank dir habe ich einen soliden Vorsprung. Dagegen ist Daire wahrscheinlich gerade erst bei Paloma zur Tür hereingekommen und muss jetzt ein ausführliches Verhör über sich ergehen lassen, wie und wo sie die Nacht verbracht hat. Bis sie sich wieder loseisen kann, ist Cade tot. Zumindest dafür werde ich sorgen.«