Acht
Wie lange weißt du es schon ?« Dace geht in seiner kleinen Küche auf und ab. Zwei Schritte zu dem alten Herd, einen von dort zu dem vorsintflutlichen Kühlschrank und drei weitere zu der abgestoßenen Porzellanspüle und dann wiederum anderthalb Schritte zurück zum Herd, wo er stehen bleibt, sich erschöpft mit einer Hand die Augen reibt und mir einen so bestürzten Blick zuwirft, dass ich ihn nur zögernd erwidere.
Ich lasse mich auf einen Stuhl an dem mit Schnitzereien verzierten Holztisch fallen, der fast identisch mit dem in Leftfoots Haus ist, und wünschte, Dace würde sich zu mir setzen. Doch ich begreife, dass er das nicht einmal in Betracht zieht, ehe ich ihm ein paar der Antworten liefere, die er haben will. Ich hole tief Luft. »Paloma hat mir von den Umständen deiner Geburt erzählt – davon, dass Leandro Chepis Wahrnehmung lange genug verändert hat, um sie zu verführen.«
»Sie zu verführen ?« Dace wirbelt zu mir herum und zeigt mir seine empörte Miene. »Er hat sie vergewaltigt. Chepi war sechzehn Jahre alt und unberührt. Sie war nicht auf Abenteuer aus.«
Ich zucke unter seinem Blick zusammen, zwinge mich dann aber, mich wieder aufrecht hinzusetzen, da ich ihm die Sache unbedingt erklären will. »So habe ich es nicht gemeint – als ob es ein romantisches Rendezvous gewesen wäre. Ich wollte damit sagen, dass er sie eingewickelt hat. Mit Hexerei und Schwarzer Magie. Die Richters wissen, wie man die Wahrnehmung anderer verändert – das tun sie ja schon seit Jahrhunderten. Es geht darum, wie sie diese Stadt und fast jeden in ihr beherrschen. Es geht darum, wie Cade uns glauben gemacht hat, dass die Quelle nach wie vor verzaubert sei, obwohl sie längst verdorben war. Leandro hat Chepis Träumen Nahrung gegeben, sie sehen lassen, was sie am liebsten sehen wollte, und als sie dann völlig weggetreten war …« Ich lasse den Satz unvollendet, da ich die Sache nicht weiter ausführen will.
Dace winkt ab, gestikuliert heftig in den leeren Raum vor sich, die Augen so müde und rotgerändert, wie ich sie noch nie gesehen habe. »Ich bin das Produkt einer Gewalttat.« Sein Blick ist kalt und leer. »Da helfen keine Beschönigungen. Ich hätte nie geboren werden sollen.«
»Sag das nicht !« Ich klammere mich an die Tischplatte und kämpfe gegen den Drang an, aufzuspringen und ihn eng an mich zu drücken. Im Augenblick ist er eine Insel – mit einer Bevölkerung von einer Person. Er würde einen Eindringling nicht willkommen heißen.
»Weißt du, wie viel einfacher ihr Leben ohne mich wäre ?« Seine Stimme klingt flach und tonlos. »Jedes Mal, wenn sie mich sieht, wird sie an den schlimmsten Tag ihres Lebens erinnert.«
»Das glaube ich nicht. Und du solltest auch nicht so denken.«
Er ignoriert meinen vielsagenden Blick. »Wirklich, Daire ? Wie soll ich es denn stattdessen sehen ?« Er spuckt die Worte regelrecht aus.
Ich sitze ruhig da und weigere mich, den Köder zu schlucken. Ich starre lediglich auf meine Hände und registriere, dass mein Finger von Sekunde zu Sekunde roter und dicker wird.
»Und, wo wir schon dabei sind, wie soll ich es denn finden, dass du das alles wusstest, es aber nicht für nötig gehalten hast, es mir zu sagen ?«
Ich hebe das Kinn, bis mein Blick seinem begegnet. Mir ist klar, dass die drei Worte »Tut mir leid« nicht ganz ausreichen, aber mehr habe ich nicht zu bieten. »Ich wünschte, ich hätte es dir gesagt, glaub mir. Ich wünschte, du hättest es nicht auf diese Art erfahren müssen.« Seufzend schüttele ich den Kopf. »Der Punkt ist, dass ich Paloma versprechen musste, es dir nicht zu sagen. Sie meinte, du seist eine wahrhaft gute und reine Seele und es stehe mir nicht zu. In dem Fall tut es mir leid, dass ich auf sie gehört habe statt auf mein Herz.«
»Eine gute und reine Seele ?« Er zieht eine finstere Miene. »Ich bin eine Abscheulichkeit ! Das Resultat einer so bösen Tat …«
»Bist du nicht !«, schreie ich, um ihn daran zu hindern, diesen Gedankengang weiterzuverfolgen. »Das ist dein Bruder, nicht du.« Ich richte den Blick auf seinen Arm, auf die Stelle, wo Kojote ihn angefallen hat. Ich wünschte, er ließe mich die Wunden versorgen, doch als ich Anstalten dazu gemacht habe, hat er nur abgewinkt, sich ein Geschirrtuch geschnappt und es um die verletzten Stellen gewickelt.
»Er ist ein Monster.« Er macht das blutgetränkte Geschirrtuch ab, wirft es in die Spüle und ersetzt es durch ein frisches. Und obwohl die Worte wie eine Aussage klingen, liegt eine Frage in seinem Blick.
»Allerdings.« Ich nicke bekräftigend.
»Und dennoch sind wir ein Echo voneinander.«
Ich scharre mit der Schuhspitze auf dem abgenutzten Linoleumboden herum und habe keine Ahnung, was ich sagen soll.
Seine Stimme klingt matt und trostlos, als er weiterspricht. »Wir dürfen uns nicht mehr treffen.«
Die Worte kommen aus dem Nichts.
Versetzen mir eine Breitseite.
Treffen mich mit voller Wucht.
»Was ?« Ich starre ihn verständnislos an. Spüre, wie der Boden unter meinen Füßen ins Wanken gerät, unter mir wegzurutschen und mich mit Haut und Haaren zu verschlingen droht.
»Es tut mir leid, Daire, aber wir haben keine Wahl. Ich muss dich schützen, und das kann ich nur dadurch tun, dass ich dich nicht mehr treffe.«
Seine Worte machen mich sprachlos. Ich kann nur noch mit offenem Mund dasitzen.
»Ich bin nicht völlig ahnungslos, weißt du.« Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe im Lauf der Jahre Gerüchte gehört. Registriert, wie die Stammesältesten, vor allem Leftfoot, mich ansahen, wenn sie dachten, ich bekäme es nicht mit. Ich war ein stilles Kind. Ein Einzelgänger, ein Leser, ein Denker – was es alles zusammen leichter machte, unbemerkt zu bleiben. Ich wurde ein Experte im Lauschen, darin, mit der Zeit immer wieder einzelne Häppchen aufzuschnappen, deren Bedeutung sich mir bis jetzt nie so richtig erschlossen hat. Ich wusste immer, dass ich anders war, ich wusste nur nicht, wie anders. Außerdem hatte ich dieses grundlegende Wissen, dass ein ungewöhnliches Schicksal auf mich wartet. Und auch wenn ich noch nicht genau weiß, was das ist – so fügt sich doch allmählich alles zusammen. Das Rätsel, an dem ich seit Jahren herumbastele, ist der Auflösung wesentlich näher gekommen.«
Ich sehe ihn an, so verzweifelt, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll.
»Du bist die Suchende«, sagt er.
Ich schließe die Augen und wünschte, ich könnte mein Leben zurückspulen. Wäre nie hierher gefahren. Hätte es nie so weit kommen lassen. Dann wäre ich genauso geendet wie mein Dad – tot vor meiner Zeit. Um dem zu entgehen, habe ich beschlossen, mich meiner Bestimmung zu stellen, nur um zu erkennen, dass ich nicht mehr als ein kleines Zahnrädchen im Lauf der Dinge bin. Gesteuert von den Umständen, ohne selbst Einfluss nehmen zu können.
Ich bin so in Gedanken verloren, dass ich fast überhöre, was Dace als Nächstes sagt. »Und Cade ist ein Coyote – ein Mitglied des El-Coyote-Clans wie alle Richters.«
Ich lasse die Schultern sinken und wünschte, ich könnte verschwinden, mich einfach in Luft auflösen.
»Und ich bin das Echo von Coyote.«
Ich reibe die Lippen aneinander, fühle mich immer unwohler in meiner Haut und habe keine Ahnung, worauf er damit hinauswill, spüre aber, dass es noch schlimmer werden wird.
Er holt tief Luft und kratzt sich heftig das Kinn, ehe er mit frostiger Stimme zu flüstern beginnt: »Das nimmt kein gutes Ende.« Sein Blick wandert zu mir. »Jemand muss sterben. Ich hatte Träume – Träume, die ich jetzt als Prophezeiungen erkenne. Wir werden nicht alle überleben. Und auch wenn ich nicht aufhören kann, dich zu lieben, Daire – dafür ist es viel zu spät –, kann ich doch aufhören …« Er mahlt mit dem Kiefer und presst mühsam die Worte hervor. »Ich kann aufhören, unserer Liebe Nahrung zu geben. Jetzt, wo ich weiß, dass es ihn stärkt, bleibt mir keine andere Wahl. Es ist, wie er gesagt hat – er profitiert von jedem liebevollen Gedanken, den ich für dich hege. Und es lässt sich nicht leugnen, dass meine Liebe zu dir immer weiter wächst, je mehr ich mit dir zusammen bin. Aber nachdem wir jetzt wissen, was wir wissen, können wir es uns nicht leisten weiterzumachen – können uns nicht leisten zusammen zu sein. Wir müssen das Opfer bringen. Distanz zwischen uns schaffen. Wir haben keine andere Wahl.«
»Nein«, sage ich, das Wort so brüchig, dass ich es mit aller Kraft wiederhole, die mir zu Gebote steht. »Nein ! Kommt nicht infrage. Das lasse ich nicht zu. Dein Bruder ist ein Widerling – ein Monstrum ! Er ist eine machthungrige Bestie mit einem schwarzen Herzen und will ohne Rücksicht auf Verluste die ganze Welt beherrschen, und ich weigere mich, einfach beiseitezutreten und ihn siegen zu lassen. Ich weigere mich, nach seinen Regeln zu spielen. Außerdem, wie können wir sicher sein, dass es wahr ist ? Vielleicht ist es das gar nicht, was das Echo ist. Vielleicht bedeutet es etwas völlig anderes.« Ich bin den Tränen nahe, aber die Worte klingen selbst in meinen eigenen Ohren verzweifelt und unwahr.
»Hast du ihn denn nicht gesehen ?«, schreit Dace, seine Stimme ebenso ungläubig wie seine Miene. »Das war keine Illusion – das war nur allzu echt !«
Ich seufze und lenke unwillig ein. »Das war nicht das erste Mal. Ich habe es schon einmal erlebt.«
»Ich auch …« Seine Stimme versiegt, während er auf die abblätternde gelbe Wandfarbe starrt und in Gedanken längst ganz woanders ist. »Und das hat auch nicht gut geendet, zumindest nicht für uns. Allerdings hat er ganz zufrieden gewirkt …« Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu, doch er schüttelt nur den Kopf und greift nach den Autoschlüsseln. »Komm jetzt. Es wird spät. Ich fahre dich heim.«
Ich folge ihm hinaus zu seinem alten Pick-up und steige neben ihm ein, während er die Heizung aufdreht, um die Kälte zu vertreiben. Doch die heiße Luft aus den Düsen zeigt keinerlei Wirkung. Mein Körper ist so taub wie mein Herz, und eine erhöhte Raumtemperatur kann daran nichts ändern.
Er fährt schweigend den Feldweg entlang, bis er vor Palomas blauem Tor anhält und sich zu mir umwendet. »Das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Nichts könnte daran je etwas ändern.«
Ich schlucke schwer. Kehre seinen Worten den Rücken zu. Greife mit brennenden Augen und einer zum Antworten viel zu zugeschnürten Kehle nach dem Türgriff.
»Wenn du willst, fahre ich dich morgen zur Schule, aber danach solltest du dich vielleicht nach einer anderen Mitfahrgelegenheit umsehen. Wir müssen es uns nicht schwerer machen, als es ohnehin schon ist.«
Ich stoße die Tür auf und husche hinaus. Ich spüre das Gewicht seines Blicks auf mir, als ich langsam durch das blaue Tor trete. Sowie das Tor hinter mir ins Schloss fällt, stürme ich ins Haus, wo ich in Palomas Armen zusammenbreche und nur noch bitterlich weinen kann.