Zehn
Xotichl und ich rücken näher heran und sitzen Ellbogen an Ellbogen da, während wir uns über den Folianten beugen. Seine pergamentenen Seiten aus dünner Rinderhaut weisen, obwohl sich das Buch über die Jahre hinweg gut erhalten hat, an den Rändern Zeichen von Alterung und Abnutzung auf, denn sie werden allmählich brüchig und wellen sich.
»Er ist illustriert !« Xotichl wendet sich zu Paloma, um es sich bestätigen zu lassen.
»Allerdings.« Paloma nickt. »Valentina war sowohl als Wahrsagerin als auch als Illustratorin überaus begabt.« Sie spricht von einer der allerersten Suchenden im Stammbaum der Familie Santos, die mir bei meiner Visionssuche erschienen ist – ebenso wie mein Vater Django, Alejandro, der Großvater, den ich nie kennengelernt habe, und eine ganze Reihe weiterer Santos-Vorfahren, im Verein mit ihren Geisttieren.
Ich beäuge den in komplizierter Schnörkelschrift verfassten Text, der mir auf den ersten Blick wie ein wirres Chaos aus Symbolen und Zahlen erscheint, verknüpft mit Wörtern, die derart archaisch und kryptisch sind, dass sie unmöglich zu entziffern sind.
»Das ist unlesbar.« Mit frustrierter Miene sehe ich Paloma an.
»So scheint es wohl.« Ihre Augen funkeln.
Xotichls Hände schweben über den Seiten, während sie konzentriert den Mund verzieht und einen Moment lang nachdenkt. »Es hat eine sehr reine Energie. Es spricht nur die Wahrheit.« Sie legt die Hände auf den Schoß und lehnt sich zurück. »Aber das hatte einen hohen Preis. Ein Opfer war nötig.«
Paloma streckt die Hand nach Xotichl aus, während ihre Augen vor Stolz leuchten. »Du machst solche Fortschritte !«, ruft sie aus und zaust Xotichl das Haar, bis diese ihre Hand festhält.
»Schon, aber es gibt noch so viel zu lernen.« Xotichl grinst.
Ich mustere die beiden zusammen – die Lehrerin und die Schülerin. Und doch sind sie so viel mehr als das. Sie sind Familie. Meine Familie. Die Erkenntnis erfüllt mich mit einer unerwarteten Wärme. Nachdem Dace beschlossen hat, mir aus dem Weg zu gehen, um mich zu schützen, ist es gut zu wissen, dass ich die Sache nicht allein durchstehen muss.
»Valentina war das Opfer«, erzählt Paloma. »Sie hat enorme Qualen durchgestanden, um dieses Wissen anzusammeln, doch sie hat es freiwillig getan. Als eine der Ersten, die sich den Richters gestellt hat, wusste sie, dass der Kampf weitergehen würde – dass ihr Kind kaum eine andere Wahl haben würde, als dort anzusetzen, wo sie aufgehört hat. Sie wollte unbedingt eine Art Orientierungshilfe hinterlassen. Dieses Buch ist das Ergebnis.«
»Haben sie eine besondere Sprache gesprochen, die nur sie selbst konnten ?« Ich spähe auf die Buchstaben, die seltsamen Symbole und kann nach wie vor kein Wort entziffern.
»Valentina hat extra dafür gesorgt, dass der Text nicht in die falschen Hände fällt. Da sie nur allzu gut wusste, dass sich ein Leck dieser Art für uns katastrophal ausgewirkt hätte, hat sie einen komplizierten Code ersonnen, der nicht leicht zu entziffern ist. Seit es dieses Buch gibt, wurde es zusammen mit dem geheimen Schlüssel für seine Lektüre von einem Suchenden an sein Kind weitergegeben. Ich habe Django das Buch an seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt, wie es der Brauch ist. Aber wie du ja bereits weißt, wollte er mit der Seeker-Tradition nichts zu tun haben. Nachdem nun allerdings du deine Berufung akzeptiert hast, nieta, ist es an der Zeit, es an dich weiterzureichen.«
Xotichl neigt den Kopf und seufzt. »Na, dann hast du ja in den Winterferien eine harte Lektüre vor dir.« Sie lacht, entschlossen, eine schwierige Situation zu entkrampfen.
»O nein.« Ich fasse das Buch an den Kanten und ziehe es zu mir her. »Ich habe nicht die Absicht zu warten. Ich fange sofort an. Das heißt, falls Paloma bereit ist, mir beizubringen, wie man dieses Teil liest.«
Ich sehe Paloma nach, die in der Küche verschwindet und kurz darauf mit einem Teller selbst gebackener Plätzchen und frisch gebrühtem Tee zurückkehrt. Nachdem sie jeder von uns einen Becher voll eingeschenkt hat, wenden wir uns dem Buch zu – und bleiben bis zum späten Abend dabei.
Am nächsten Morgen warte ich schon lange, ehe Dace eintreffen soll, vor dem blauen Tor. Mein Schmerz vom Abend zuvor wurde durch das, was ich jetzt weiß, gedämpft.
Es ist, wie Paloma gesagt hat, Prophezeiungen können trügerisch sein. Sie lassen sich auf verschiedene Arten interpretieren. Und jetzt, nachdem ich es selbst schwarz auf weiß in dem Buch habe lesen können, ist meine Mission klar.
Einer muss sterben. Daran führt kein Weg vorbei.
Doch das werde nicht ich sein.
Und Dace wird es auch nicht sein. Ich werde alles Nötige tun, um ihn am Leben zu halten. Selbst wenn das bedeutet, eine vor langer Zeit getroffene Vorhersage zu durchkreuzen.
Obwohl Paloma mir erklärt hat, dass Töten nicht gern gesehen wird, begreift sie nicht, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Jetzt, wo ich weiß, was ich weiß, und gesehen habe, was ich gesehen habe, steht fest, dass Cade Richter eliminiert werden muss.
Er mag ein Mensch sein, doch er ist kein normaler Mensch. Und sobald ich mit ihm fertig bin, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich diese untoten Richters aufgespürt habe, denn sie sind nur so gut wie die Orientierung, die er ihnen liefert. Wenn sie weg sind, kann die Unterwelt wieder genesen und gedeihen, das Gleichgewicht wird wiederhergestellt, und nichts oder niemand wird Dace und mir im Weg stehen. Dann steht es uns frei, uns so lange zu lieben, wie wir wollen.
Ich muss nur die Welt von seinem Bruder befreien.
Der Gedanke liefert mir den dringend benötigten Anstoß für das, was ich als Nächstes zu tun habe.
Als Dace schließlich seinen Pick-up vor mir zum Stehen bringt und auf seiner Seite herausspringt, um mir die Tür aufzumachen, bleibe ich wie angewurzelt stehen und sehe ihn fest an. »Danke fürs Kommen«, sage ich. »Aber ich werde heute von Auden und Xotichl mitgenommen.«
Er mustert mich aus Augen, die sogar noch müder und geröteter sind, als sie es bei unserem Abschied waren. Meinen Namen spricht er mit so heiserer Stimme aus, dass es meiner ganzen Willenskraft bedarf, um mich nicht in seine Arme zu werfen und ihn zu bitten zu vergessen, was ich gesagt habe. Zu vergessen, was er gesagt hat. Alles zu vergessen und einfach nur wieder mit mir zusammen zu sein.
Er greift nach mir, streckt seine Finger nach meinen aus, doch ich entziehe mich rasch. Ich kann mir den Kontakt nicht leisten. Kann es mir nicht leisten, von seiner verführerischen Berührung ins Wanken gebracht zu werden. Wenn ich seinen Zwilling töten soll, darf ich nichts tun, was es Cade ermöglicht, ein noch stärkerer Gegner zu werden, als er es bereits ist.
Ich muss Geduld haben.
Muss tief in meinem Herzen daran glauben, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Dace und ich zusammen sein können.
Ich muss es glauben, es mir ausmalen und alles vom Ende her denken.
Ich mache eine abwehrende Geste und hoffe, dass er nicht merkt, wie meine Finger zittern und meine Stimme brüchig wird, als ich sage: »Wir sind miteinander im Reinen, ja ? Wirklich. Ich verstehe, warum du das tun musst. Ganz ehrlich.« Ich schlucke das Schluchzen hinunter, das sich in meiner Kehle ballt, und wende den Blick ab, damit ich seine schmerzerfüllte Miene nicht sehen muss.
Gerade will er noch etwas sagen, da kommen Auden und Xotichl vorgefahren. Auden reißt fragend die Augen auf, und Xotichl legt den Kopf schief, als sie mich im Gespräch mit Dace vor dem Haus antreffen.
Ich signalisiere ihnen durch eine Geste, dass sie kurz warten sollen, und will mich gerade von Dace verabschieden, als er nach meinem Arm greift. Er hält mein Handgelenk fest, beäugt meinen Finger und sagt: »Er ist wieder heil.«
»Offenbar hat Paloma mal wieder ein Wunder vollbracht.« Ich gestatte mir ein kurzes Grinsen, ehe ich mich aus seinem Griff winde, was mich wesentlich mehr kostet, als es den Anschein hat. Allein das löst eine Lawine von Schmerz in mir aus. »Und du ?«
Ich spähe auf das Stück seines Verbands, das unter dem Ärmel hervorlugt und die Stelle markiert, an der sich Kojote an seinem Fleisch gütlich getan hat. Unsanft zieht er an seinem Ärmel und zerrt ihn über die Wunde. »Ein Wunder ist unnötig. Mir geht’s gut, keine Sorge.«
Ich glaube ihm nicht ganz, hake aber nicht nach. Wider besseres Wissen gestatte ich mir, seinen Blick wesentlich länger zu erwidern, als mir guttut. Innerlich feilsche ich darum, ein paar weitere Sekunden in die Geborgenheit seiner Anwesenheit gehüllt zu sein – und sage mir, dass ich alles Menschenmögliche tun werde, um ihn für sämtliche drohenden Folgeschäden zu entschädigen.
Es kostet mich die letzte Kraft, mich von ihm zu lösen, doch ich tue es. Schließlich gehe ich auf Auden und Xotichl zu, ohne mich noch einmal umzudrehen.
»Hast du überhaupt geschlafen ?«, fragt Xotichl, als ich auf die Rückbank rutsche.
»Nicht richtig«, antworte ich. »Aber seltsamerweise bin ich gar nicht müde.« Entschlossen, aber nicht müde.
»Ich auch nicht«, sagt Xotichl, als Auden losfährt und vorsichtig einen Bogen um Dace und dessen Pick-up beschreibt.
»Also ich schon«, wirft Auden ein. »Es gibt einfach nicht genug Energydrinks auf der Welt.«
Seine Worte veranlassen Xotichl, auf ihre ureigene, hinreißende Art zu lachen. Sie drückt ihre Schulter gegen seine und schmiegt sich an ihn. »Epitaph haben gestern Abend in Albuquerque gespielt«, erklärt sie. »Das Publikum hat sie so geliebt, dass sie sieben Zugaben geben mussten !«
»Zwei.« Auden lacht und zieht Xotichl liebevoll an ihrem Pferdeschwanz. »Aber wer zählt schon so genau mit ?«
»Ich weiß nur, dass er den ganzen Weg zurück nach Enchantment gefahren ist, statt mit den anderen von der Band dort zu übernachten, nur damit er uns zur Schule bringen kann. Ist das nicht nett ?« Sie neigt den Kopf in meine Richtung, während ich den heftigen Anflug von Neid unterdrücken muss, als sie ihre Liebe zueinander so offen und locker zeigen. Ich zwinge mich zu bestätigen, dass das tatsächlich nett von ihm war.
»Ja, ich bin nett.« Auden grinst. »Und sowie ich euch abgesetzt habe, werde ich mich postwendend aufs Ohr hauen, bis es an der Zeit ist, euch wieder abzuholen.«
»Ich brauche niemanden, der mich nach Hause fährt.« Ich starre aus dem Fenster und mustere diese Müllhalde von einer Stadt mit ihren verrosteten Autos, den durchhängenden Wäscheleinen und den baufälligen Häusern.
Eine kurze Zeit lang habe ich mir selbst eingeredet, sie wandele sich zum Besseren – habe mir eingeredet, ich sei der Grund dafür. Doch jetzt, wo ich sie mit unverstelltem Blick sehe, lässt sich nicht leugnen, dass diese Stadt eine totale Sackgasse ist. Rein gar nichts spricht für Palomas Behauptung, dass sie ihrem Namen einst alle Ehre gemacht hat. Ich kann nur hoffen, dass die Stadt, wenn ich Cade Richter unschädlich gemacht habe, wirklich wieder wie verzaubert sein wird.
»Wie kommst du dann nach Hause ?« Ich höre Xotichl ihren Argwohn deutlich an.
»Ich finde schon jemanden.« Ich mache den Sicherheitsgurt los und schnappe mir meine Tasche. »Du kannst mich übrigens gleich hier rauslassen.«
»Schwänzt du die Schule ?«, fragt Auden.
»Hm«, brumme ich, bereits abgelenkt von dem, was ich jetzt tun muss.
»Schon wieder ?« Xotichl dreht sich auf dem Sitz herum, bis ihr Gesicht halb zu mir zeigt.
Ihre Stimme geht in Audens Worten unter. »Ich soll also allen Ernstes hier anhalten ?«, stößt er hervor und sieht mich im Rückspiegel fragend an. »Mitten auf der Straße ?«, fügt er hinzu und kneift die Augen zusammen.
Ich nicke und öffne bereits die Tür, um auszusteigen.
»Was hast du vor, Daire ?« Xotichls Miene verfinstert sich in einem Maße, wie ich es noch nie gesehen habe.
Da es keinen Sinn hat, sie anzulügen, versuche ich es gar nicht erst. Ich schaue zwischen den beiden hin und her und sage: »Etwas, was schon längst hätte getan werden müssen.«
Dann schlage ich die Tür zu und gehe zu Gifford’s Gift Shop, zugleich Notariat und Postamt. Dort werde ich mir einen Becher von dem frisch gebrühten Kaffee gönnen, für den sie im Schaufenster werben, während ich darauf warte, dass das Rabbit Hole aufmacht.