Sechzehn
Daire
Als die Fahrt sich immer länger hinzieht, als Chay einen unbekannten Feldweg nach dem anderen entlangtuckert und immer noch undurchsichtigere Abzweigungen nimmt, kann ich nicht mehr an mich halten. »Hast du nicht gesagt, Paloma würde uns erwarten ?«
Er sieht mich geduldig an. »Tut sie.«
»Und wo genau wartet sie ? Denn du bringst mich ja offenbar nicht nach Hause.«
»Wir fahren zu den Fällen«, erklärt er, als wäre das vollkommen einleuchtend, obwohl es mir gar nichts sagt.
»Kannst du mir vielleicht ein bisschen auf die Sprünge helfen ?« Ich versuche, meine wachsende Unruhe ebenso zu dämpfen wie das nervöse Frösteln, das mich befallen hat. Die Situation erinnert mich massiv an den Verlauf meiner Visionssuche. Und obwohl ich sie durchgestanden habe und erneuert daraus hervorgegangen bin, heißt das nicht, dass es mir Spaß gemacht hätte.
Chay streckt die Hand aus, an der sein Adlerring glitzert, und tätschelt mir das Knie. »Ich habe Paloma eine SMS geschickt, als ich dich bei Gifford’s gesehen habe. Sie hat mich gebeten, dich zu den Fällen zu bringen, und gemeint, sie würde dort auf uns warten.«
»Ihr simst euch ?« Ich wende mich zu ihm um. Ich weiß, das sollte nicht der Punkt sein, auf den ich mich konzentriere, aber das hätte ich einfach nie gedacht.
Chay lacht. »Ja, wir simsen. Wir sind auch auf Facebook. Bei Twitter ziehen wir allerdings die Grenze.«
Ich schüttele den Kopf und ringe darum, mich zu konzentrieren und meine Gedanken wieder auf Kurs zu bringen. »Und was machen wir, wenn wir an diesen Fällen angelangt sind ?«
Er sieht mich an. »Paloma erklärt es dir, wenn wir dort sind. Ich bin nur der Chauffeur.«
Seufzend lasse ich mich in den Sitz zurückfallen. Ich weiß genau, dass es sinnlos ist, mehr aus ihm herausquetschen zu wollen. Chay und Paloma stehen sich viel zu nahe, um sie gegeneinander auszuspielen.
Ein Band aus Landschaftsansichten läuft an meinem Fenster vorbei – eine unscharfe Abfolge von kargen Formationen und dunklen Beige- und Brauntönen, vor einem Himmel so weiß wie gebleichte Knochen. Trotz des kalten, trostlosen Wetters erscheint mir Xotichls Behauptung, dass es Weihnachten schneien wird, von Tag zu Tag unwahrscheinlicher.
Wir fahren Meilen und Abermeilen. Durchqueren unbekanntes Terrain, das immer unwegsamer zu werden scheint, je weiter wir kommen. Und als wir schließlich nur ein paar Meter vom Wasser entfernt haltmachen, sehe ich Palomas Jeep am Ufer stehen.
Ich lasse mich aus Chays Pick-up gleiten und verfolge, wie die beiden sich besprechen, die Köpfe zusammengesteckt wie Verschwörer. Jegliche Aussicht darauf, sie zu belauschen, wird von dem Wasserfall zunichtegemacht, der so laut rauscht, dass er alles andere übertönt.
»Bist du bereit ?« Paloma sieht mich mit undurchdringlicher Miene an.
Ich blicke mich in alle Richtungen um. Ich sehe einen tosenden Fluss und zwei Menschen, denen mein Wohl am Herzen liegen mag oder nicht.
»Bereit wofür ?«, frage ich, obwohl ich fürchte, dass ich es bereits weiß. Ich habe Paloma gebeten, meine Initiation als Suchende abzuschließen, mir so viel beizubringen, wie sie kann und so schnell sie kann, und das ist ihre Art, ihr Wort zu halten. »Du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich da reingehe ? Jetzt ?« Ich zeige auf den Fluss und schüttele den Kopf. »Du machst wohl Witze !« Ich verschränke die Arme. »Kommt nicht infrage, Paloma. Für den Fall, dass du es nicht bemerkt haben solltest, es ist eiskalt. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht gerade dafür angezogen bin.«
Mir kommt das wie eine gute Ausrede vor, doch Paloma beeindrucken meine Worte nicht. Ohne das geringste Zögern erwidert sie: »Ich habe dir Kleider zum Wechseln mitgebracht. Sobald du bereit bist, steigst du hier rein.« Sie streckt den Arm vor sich aus und zeigt mit dem Finger auf einen Punkt, wo das Wasser ans Ufer stößt. »Dann schwimmst du flussabwärts bis zum Wasserfall. Dort wirst du seine Sturzfluten ertragen, bis du mit seiner Kraft verschmilzt und er dir sein Lied anvertraut.«
Ich blinzele. Schüttele den Kopf. Blinzele noch einmal. Doch es hilft nichts. Jedes Mal, wenn ich die Augen öffne, sehe ich die beiden vor mir stehen und darauf warten, dass ich mit der Zeitverschwendung aufhöre und loslege.
»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Alles lebt, nieta. Die Elemente sind unsere Verbündeten, Freunde aller Suchenden. Sie alle haben uns etwas zu lehren, etwas zu offenbaren. Du hast bereits die Kraft von Wind und Erde kennengelernt, und jetzt musst du die Macht des Wassers erfahren. Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt: Die weichsten Dinge der Welt besiegen die härtesten Dinge der Welt, und Wasser ist ein gutes Beispiel dafür. Es ist seidig und flüssig, doch es hat auch die Felsen zu deinen Füßen geformt. Du musst dich bemühen, aufs Wasser zu horchen, zu ergründen, was es anzubieten hat, und sein Lied entschlüsseln. Falls nicht, fürchte ich, wirst du untergehen, und alles war vergebens.«
Ich schlucke schwer. Versuche zu erkennen, was schlimmer ist – wie mein Dad auf einer Stadtautobahn in L. A. geköpft zu werden oder in einem reißenden Fluss in New Mexico zu ertrinken, wie es mir ziemlich sicher bevorsteht.
»Eines der wichtigsten Dinge, die du als Suchende je tun wirst, abgesehen davon, das Gleichgewicht zwischen den Welten zu erhalten, ist, das Wetter zu regeln, indem du die Elemente beeinflusst. Doch bevor du den Umgang mit den Elementen beherrschst, musst du lernen, dich mit ihnen zu verbinden. Und jetzt ist es an der Zeit, dich mit dem Element Wasser zu verbinden. Viele Suchende vor dir haben sich diesen Prüfungen unterzogen, jetzt bist du an der Reihe.«
Sie reicht mir die Kleider, die sie mitgebracht hat, und weist mich an, mich im Jeep umzuziehen. Als ich herauskomme, breitet sie die Arme aus, als wollte sie mich umarmen. Und obwohl ich momentan nicht besonders scharf auf eine Umarmung von ihr bin, gebe ich nach.
Es könnte meine letzte Umarmung sein.
Sie könnte mir die Kraft geben, die ich brauche, um das hier durchzustehen.
Als mein Blick dem Chays begegnet und er aufmunternd nickt, straffe ich die Schultern, wende mich zum Fluss und wate hinein. Ich marschiere direkt in das eiskalte Wasser, das mich im Handumdrehen durchnässt hat und meinen Körper binnen weniger Sekunden an den Rand der Unterkühlung bringt. Ich sage mir, wenn es das ist, was getan werden muss, um Cade Richter zu töten, dann tue ich es eben.
Zuerst kämpfe ich gegen die Strömung an, beharre darauf, mein eigenes Tempo zu finden, meinen eigenen Weg. Doch schon bald bin ich von der Anstrengung erschöpft, sehe mich gezwungen, meine Glieder zu lockern und buchstäblich mit der Strömung zu schwimmen. Das Wildlederbeutelchen fest in einer Hand, tue ich mein Möglichstes, um meinen Kopf über Wasser zu halten, während ich flussabwärts getrieben werde.
Mit den Fingern taste ich nach den harten Kanten des steinernen Raben darin, nach dem Kiel der Feder und den Kurven von Djangos Bär. Mit klappernden Zähnen und bebenden Lippen presse ich den Beutel fest zwischen meine Hände und falte flehend die Finger. »Wenn in dir noch irgendetwas Gutes ist«, sage ich, »dann bitte führe mich durch das hier. Bitte hilf mir durchzuhalten. Lass mich nicht sterben. Nicht hier. Nicht so. Nicht ehe ich Gelegenheit bekomme, das zu tun, wofür ich geboren wurde.«