Dreiunddreißig

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Dace

Ich krieche durch die Höhle, erleichtert, dass sie frei von untoten Richters und Dämonen ist – wahrscheinlich wurden sie gebraucht, um die Jobmesse aufzubauen –, muss jedoch enttäuscht erkennen, dass ich nach wie vor in der Mittelwelt bin.

Einer anderen Dimension der Mittelwelt, jedoch immer noch weit entfernt von der Unterwelt, auf die ich gehofft hatte.

Aber bestimmt führt sie irgendwann dorthin.

Alles hier ist luxuriös. Vornehm. Die ausgesuchten antiken Möbel und die teuren Kunstwerke an den Wänden lassen darauf schließen, dass sie viel Zeit hier verbracht haben. Lauernd. Planend. Darauf wartend, dass sich der Zugang erneut weit auftut.

Die ganze Geschichte hindurch, immer wenn sie es geschafft haben, in die Unterwelt einzufallen, diente dieser Ort als ihr Hauptzugang. Einmal drinnen angelangt, machten sie sich unverzüglich daran, die Geisttiere zu korrumpieren, indem sie ihr Land verseuchten, ihnen ihre Kraft und ihr Licht nahmen und damit die Fähigkeit, ihre menschlichen Anhängsel zu leiten. Dieser Verlust führte zu entsetzlichen Episoden von Wahnsinn, Chaos und Krieg in der gesamten Mittelwelt – und zu ungeahnten Reichtümern für die Richters.

Zumindest ist es laut Leftfoot so gewesen.

Doch das ist nur ein weiterer Grund, warum ich Cade töten muss.

Und sobald das erledigt ist, kommt als Nächster Leandro dran.

Da er seinen Ehrgeiz in erster Linie darauf ausgerichtet hat, Enchantment zu beherrschen, und sich nicht besonders für Cades größeres Ziel der Weltherrschaft interessiert, ist er vielleicht nicht ganz so gefährlich, doch er muss trotzdem verschwinden. Wenn auch aus keinem anderen Grund, als dass ich seinen Anblick nicht mehr ertrage, seit ich weiß, was er meiner Mutter angetan hat. Trotz allem, was die Stammesältesten sagen, genügt es nicht, ihn im Gleichgewicht und im Zaum zu halten.

Nicht für mich.

Niemals.

Es ist an der Zeit, ein paar Dinge neu zu definieren.

Zeit, die Prophezeiung auf den Kopf zu stellen.

Zeit, dafür zu sorgen, dass sie alle sterben.

Es bedeutet so viel mehr als mein Zusammensein mit Daire.

Und obwohl ich weiß, dass es stimmt, kann ich die ganze Zeit nur an Daire denken, während ich mir den Weg durch diesen langen Hohlraum bahne, wo ich schließlich durch die gegenüberliegende Wand stoße und mich von Sand umgeben wiederfinde.

Ich halte inne. Sehe mich um. Denke an das, was mich Leftfoot gelehrt hat – die Wahrheit zu suchen, die hinter den sichtbaren Dingen liegt. Alles, was ich sehe, ebenso infrage zu stellen, wie ich alle Gedanken hinterfragen soll, die man mir eingetrichtert hat.

Es verbirgt sich wesentlich mehr hinter dieser Welt, als man auf den ersten Blick sieht. Eine ganz andere Wahrheit, die die Menschen am liebsten verdrängen. Sei nicht so blind wie sie. Blick tiefer. Denk tiefer. Werde ganz ruhig und still, damit sich dir die Wahrheit offenbaren kann.

Ich schließe die Augen und tue, wie er mich geheißen hat. Als ich sie wieder öffne, ist es, als wäre ein Weg vor mir angelegt worden. Er scheint auf dem Kamm einer riesigen Sanddüne zu enden, die von dort aus senkrecht in die Unterwelt abfällt.

Ich schlüpfe durchs Erdreich und lande schließlich unsanft auf der Seite. Rasch richte ich mich auf. Da ich seit meiner letzten Jagd mit Daire nicht mehr hier war, muss ich erschrocken feststellen, wie sehr die Gegend in nur wenigen Tagen verfallen ist. Die Geisttiere, früher froh und munter, sind nun antriebslos und können kaum noch ihre eigenen Grundbedürfnisse erfüllen. Und je weiter ich vordringe, desto schlimmer wird es. Jeder Schritt enthüllt weitere Verderbnis, Verkommenheit und Zersetzung. All das entfaltet sich in einer unheimlichen Stille, die schon bald vom beunruhigenden Geräusch knackender Äste, umstürzender Bäume und dem vielfach verstärkten Dröhnen eines animalischen Grunzens und Schnaubens widerhallt, das von allen Seiten zu kommen scheint.

Ich hechte im selben Moment hinter einen großen Felsen, als ein Blitz aus beigefarbenem Fell und rot glühenden Augen an die Stelle prescht, wo ich zuvor stand.

Kojote.

Zweifellos Cades Kojote.

Er kommt schlitternd zum Stehen, während er die Schnauze in die Luft reckt und meine Witterung aufnimmt. Im nächsten Moment kreuzt ein zweiter Kojote auf, dessen Reißzähne und Fell mit Blut und den schleimigen Überresten einer unglücklichen Beute beschmiert sind.

Sowie ich sie erblicke, weiß ich, dass Leftfoot recht hatte.

Auch wenn Cade vielleicht kein Hautwandler im traditionellen Sinne sein mag, so ist er doch imstande, andere Formen anzunehmen.

Ich schlängele meine Finger in die Jackentasche, auf der Suche nach dem Blasrohr, das mir Leftfoot einst gegeben hat und das er von Alejandro erhalten hat, einem brasilianischen Jaguarschamanen, der außerdem zugleich der Großvater ist, den Daire nie kennengelernt hat. Laut Leftfoot wurde die Waffe sorgfältig aus einem seltenen Holz geschnitzt, das man nur im Regenwald des Amazonas findet. Doch ehe er einwilligte, sie mir auszuhändigen, rang er mir das Versprechen ab, sie ausschließlich zur Selbstverteidigung zu benutzen.

Die Kojoten ducken sich dicht an dicht aneinander. Ihre Schnauzen zucken, die Augen schießen hin und her, und es ist nur eine Frage von Sekunden, wann sie mein Versteck ausfindig gemacht haben.

Warum soll ich es so weit kommen lassen ?

Warum soll ich warten, bis sie mich angreifen, nur damit ich Notwehr geltend machen kann, wo ich sie doch mühelos gleich ausschalten kann ?

Ich greife nach einem Pfeil und drücke seinen mit Rabenfedern besteckten Schaft zusammen, während ich ihn in das Blasrohr schiebe.

Dann kneife ich ein Auge zu, hebe das kleine Rohr an den Mund und ziele.

Kojote knurrt. Ein Wirbel aus glühenden Augen, gefletschten Zähnen und heißem, stinkendem Atem schnellt hart gegen meine Wange. Weit reißt er den Kiefer auf, bereit, ein weiteres Stück aus mir herauszubeißen …

Als er schwankt.

Stolpert.

Zusammenbricht und vor Schmerz aufjault.

Ich lächele triumphierend, doch das Grinsen vergeht mir schnell, als ich den Blick hebe und Cade nackt und blutbeschmiert vor mir stehen sehe, mit Fetzen von Tierfell am Körper.

Ich habe das falsche Ziel getroffen.

»Was zum Teufel treibst du da ?« Er lässt sich neben Kojote nieder und flucht herzhaft, während er an dem Pfeil zieht und sich die Spitze aus der Schulter reißt. Er weiß ganz genau, dass es damit noch nicht getan ist. Er senkt den Kopf an die Einschussstelle, schließt die Lippen darum und saugt das Gift aus, das ich auf die Pfeilspitze geträufelt habe, ehe er alles ausspuckt. »Du bist ein richtiger Idiot, weißt du das ?« Kopfschüttelnd funkelt er mich an und sieht zu, wie ich das Blasrohr neu lade und wieder auf ihn anlege. »Glaub mir, das willst du garantiert nicht tun.«

»Du hast keine Ahnung, was ich will.« Ich schließe die Lippen um das Blasrohr, hole tief und bewusst Atem und puste erneut.

Puste mit aller Kraft, die mir zu Gebote steht.

Und stoße meinerseits eine Kette von Flüchen aus, als Cade dem Pfeil aus der Bahn tänzelt und sich wieder in einen Kojoten verwandelt.

Der andere hat sich mittlerweile vollständig erholt, und nun stehen sie einträchtig vor mir – Schulter an Schulter.

Ihre Augen lodern vor Rachedurst, und sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie nach meinem Blut lechzen. Und noch ehe ich davonlaufen kann, ehe ich nachladen und zielen kann, stürzen sie sich in einem Taumel aus scharfen Klauen und spitzen Reißzähnen auf mich.