Siebzehn
Dace
Ich presse Ober- und Unterkiefer aufeinander und bäume mich auf, als Leftfoot noch mehr von dieser widerlich stinkenden Flüssigkeit auf meine Wunde gießt. Das Zeug brennt wie die Hölle.
»Ich glaube, jetzt hast du alles erwischt.« Ich stoße die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Noch mehr davon, und ich muss vermuten, dass du mich foltern willst.«
»Wie ist das passiert ?« Er blinzelt und fädelt mühsam die Nadel ein, mit der er die Wunde nähen will.
»Hatte eine unangenehme Begegnung mit einem verrückten Kojoten.«
Er hält inne, mustert mich nachdenklich und rammt mir schließlich die Nadel ins Fleisch. »Entspann dich. Je mehr Widerstand du leistest, desto schlimmer wird es. Das gilt übrigens für alles im Leben, nicht nur fürs Nähen von Wunden.«
Ich knurre leise eine Reihe von Flüchen vor mich hin. Auch wenn es weiß Gott nicht das erste Mal ist, dass Leftfoot mich näht, geht diese Wunde doch tiefer als die meisten.
»Ich fürchte, es ist noch schlimmer, als du denkst.« Immer wieder zieht er Nadel und Faden durch meine Haut und wieder heraus.
Böse funkele ich die Verletzung an. Wenn dieser Kojote auch noch tollwütig war, bringe ich ihn um !
»Nein, das nicht.« Leftfoot hat meine Gedanken gelesen und reißt an dem Faden, ehe er ihn verknotet. »Die Mittelwelt leidet unter den Auswirkungen von Cades Taten.«
Ach. Das.
»Gestern ist ein Schwarm Raben vom Himmel gefallen. Als sie am Boden aufkamen, waren sie tot. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass das passiert ist.«
Raben. Natürlich. Wie poetisch.
Raben entsprechen Daire.
Und tote Raben entsprechen Cades Plan, Daires Seele zu rauben und sie als tot zurückzulassen – genau wie in dem prophetischen Traum, den ich hatte.
»Und nachdem es in Enchantment schon viele Jahre nicht mehr geschneit hat, schneit es jetzt auch in der Umgebung nicht mehr. Es ist kalt genug für Schnee. Es riecht nach Schnee. Aber aus irgendeinem Grund schneit es nicht. Schlechte Nachrichten für Angel Fire, Taos und all die anderen Skiorte. Aber noch schlechtere Nachrichten für uns, weil wir wissen, was dahintersteckt.« Er mustert mich eindringlich. »Und die Person, die uns retten soll, ist der Aufgabe nicht gewachsen. Daires Ausbildung wurde abgebrochen, als Paloma ihre Seele verloren hat. Jetzt machen sie einfach da weiter, wo sie aufgehört haben. Doch nachdem Paloma ihre Zauberkraft verloren hat, wird Daire die Sache allein durchstehen müssen. Und ich sage das zwar nicht gern, aber sie ist leider noch lange nicht bereit dafür.« Er greift nach einer Rolle Verbandsmull und wickelt ihn mir locker um den Arm.
»Ich helfe ihr ! Ich …« Schlagartig presse ich die Lippen aufeinander und starre aus dem Fenster.
Wie soll ich ihr helfen, wenn ich nicht einmal in ihre Nähe kommen darf ?
Ich darf ja nicht einmal an sie denken, ohne Cade zu stärken.
Der einzige Weg, ihr zu helfen, besteht darin, alle liebevollen Gedanken an sie durch Rachegedanken an Cade zu ersetzen. Meinen Hass auf ihn zu nähren, bis meine Seele dunkel genug geworden ist, um seine zu zermalmen.
»Du bist auch noch nicht so weit.« Leftfoots Stimme drängt sich in meine Gedanken. »Du bist zu lange behütet worden. Neben der Handvoll Taschenspielertricks, die wir dir als Kind beigebracht haben, musst du noch eine ganze Menge lernen.«
Ich beiße die Zähne zusammen. Das ist ja wohl kaum meine Schuld.
Er zupft an meinem Ärmel und rollt den Stoff herunter, bis er meine Wunde bedeckt. »Obwohl du trotz deiner mangelhaften Ausbildung niemals vergessen darfst, dass du einen ganz herausragenden Vorteil gegenüber Cade hast.«
Unsere Blicke begegnen sich. Ich habe keine Ahnung, was das wohl sein könnte.
»Während die Dunkelheit Leid und Chaos erzeugt, ist das Licht das Einzige, was das Dunkel hell genug erleuchten kann, um es aufzuhalten. Du musst nicht wie dein Bruder werden, um deinen Bruder zu bekämpfen. Verstanden ?«
Ich nicke. Doch in Wahrheit bin ich bereit, alles zu opfern und falls nötig mit unlauteren Methoden zu kämpfen, wenn ich Daire nur auf diese Weise retten kann. Jetzt, wo sie ein Teil meines Lebens ist, gibt es nichts, was ich nicht tun würde, um sie zu schützen.
Ich betrachte die handgeschnitzten Santos in den Nischen und die Sammlung von Federn, Kristallen und Kräutern auf den Regalen. Die Werkzeuge der Lichtarbeiter. Die Talismane, auf die Leftfoot schwört. Vielleicht ist das Zeug wirksam genug, um die einheimische Bevölkerung zu heilen, doch es ist kaum genug für meinen monströsen Bruder.
Ich wende mich zu Leftfoot um und ertappe ihn dabei, wie er mich eingehend mustert, als würde er meine Gedanken lesen. Schließlich holt er resigniert Luft und sagt: »Ich schätze, es ist an der Zeit, dass du ein paar neue Tricks lernst.«
»Es werden Leute vermisst.«
Ich konzentriere mich und weiß nicht, ob er das ernst meint oder ob er gezielt versucht, mich abzulenken, damit er mich noch einmal daran erinnern kann, wie wichtig die Entschlusskraft ist. Und dass sie der Hauptbestandteil der Magie ist. Die Kraft, die alles bewirkt.
Ich öffne die Hand und kämpfe gegen den Drang an, einen Triumphschrei auszustoßen, als der Rotschwanzbussard, den ich angepeilt habe, mitten auf meiner Handfläche landet. Seine scharfen Krallen bohren sich in mein Fleisch, als er sich für ein paar Augenblicke niederlässt und sich rasch umsieht, ehe er die Flügel ausspannt und sich wieder in die Lüfte erhebt.
»Wer wird vermisst ?«, frage ich und schlucke den Köder, nachdem ich die Aufgabe, mich mit der Natur zu verbinden und mit ihr zu verschmelzen, gemeistert habe. Ich habe es geschafft, den Bussard zumindest für ein paar kurze Augenblicke glauben zu machen, dass meine Hand ein sicherer Landeplatz sei. Hoffentlich stellt mich die nächste Lektion vor eine etwas größere Herausforderung. Die letzten waren zu einfach.
»Mike Miller, Randy Shultz, Tessa Harpy, Anthony Lopez, Carla Sanchez – sie sind alle weg. Spurlos verschwunden. Und das sind nur diejenigen, von denen ich weiß.«
Ich runzele die Stirn. Seine Worte erinnern mich schlagartig an das Gespräch zwischen ihm und Chepi, das ich unterbrochen habe, als ich vor ein paar Stunden in ihre Küche geplatzt bin.
»Wohin verschwunden ?«
Leftfoot zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Von hier ziehen nicht viele Leute weg, wie du weißt.«
»Manche schon.« Ich starre in die Ferne und muss daran denken, wie es Marliz geschafft hat, vor einer trostlosen Zukunft als Bedienung im Rabbit Hole und einer noch trostloseren Zukunft als Ehefrau meines gestörten Cousins Gabe zu fliehen, indem sie nach L. A. gezogen ist – mit ein wenig Unterstützung von Daires Mom Jennika. Und dann war da noch ein anderes Mädchen, das ich mal gekannt habe … eine, die ebenfalls den Absprung von hier geschafft hat und nie zurückgekehrt ist.
»Viele waren es nicht. Und noch nie fünf an einem Tag.«
»Haben ihre Angehörigen sie als vermisst gemeldet ?«
Leftfoot blinzelt. »Glaubst du, irgendjemanden von der Polizei kümmert das ? Die schreiben nicht mal ein Protokoll. Die ganze Stadt wird von den Richters kontrolliert. Wahrscheinlich stecken sie selbst dahinter.«
Ich reibe mir das Kinn. Scharre mit den Füßen über die Erde.
»Du bist ganz anders als sie«, sagt er.
Ich wende mich zu ihm um und stimme ihm weder zu noch widerspreche ich. Auf keinen Fall will ich etwas sagen, das dazu führen könnte, dass er meine Ausbildung abbricht. Ich muss noch so viel lernen, und er ist der Einzige, der bereit ist, mich zu unterrichten.
»Was kommt als Nächstes ? Du kannst es gern anspruchsvoller gestalten.«
»Du glaubst also, du bist bereit für mehr, was ?« Er betrachtet mich einen Moment lang, und sein Blick ist so tief und forschend, dass ich darum ringen muss, nicht darunter zusammenzuzucken. Der alte Medizinmann mag zwar nicht so legendär sein wie sein Bruder Jolon, aber er hat sich definitiv bewährt, und ich konnte ihn noch nie an der Nase herumführen. »Gut. Aber ich warne dich: Es wird bis spät in die Nacht dauern. Morgen kannst du dann wieder zu deinem Job im Rabbit Hole zurückkehren.«