Zweiundzwanzig
Daire
Jennika erscheint am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe, angeblich um mit uns zu frühstücken, doch ich weiß es besser. Sie will sich vergewissern, dass ich angezogen und fertig für die Schule bin. Dass ich die Art von Leben führe, die ihr keinen Grund gibt, sich mehr zu sorgen, als sie es ohnehin schon tut.
Sie klopft an meiner Zimmertür und wartet kaum so lange, bis ich geantwortet habe, da platzt sie schon herein und lässt sich auf mein Bett fallen. Sofort spult sie eine Gardinenpredigt ab, die sie vermutlich im Lauf der Nacht eingeübt hat. Ihre Stimme wird lauter und leiser, während ich in verschiedenen Stadien des Angezogenseins zwischen Badezimmer und Schrank hin- und herrenne.
Es ist die gleiche Tirade, die ich schon zu hören bekam, als sie vor ein paar Monaten aus Enchantment abgereist ist. Weitere Warnungen über die Gefährlichkeit von Jungen – vor allem gut aussehenden wie Dace. In Jennikas Weltbild haben es solche Jungen nur darauf abgesehen, einem Mädchen mithilfe ihrer Süßholzraspelei an die Wäsche zu gehen und es dann postwendend sitzen zu lassen, wenn sie ihren Spaß gehabt haben.
So ähnlich, wie es ihr mit Django ergangen ist.
Nur dass Django sie nicht sitzen gelassen hat.
Er ist gestorben.
Und Jennika ist nie darüber hinweggekommen.
Und genau deshalb will sie mich unbedingt daran hindern, ihre Fehler zu wiederholen, indem ich mein Herz an jemanden hänge, der mir auch wegsterben könnte.
Doch dafür ist es zu spät. Ich habe mein Herz bereits an einen Jungen verloren, der in meinen Träumen gestorben ist, ganz zu schweigen von der Prophezeiung. Wenn ich allerdings irgendetwas dabei mitzureden habe, wird er im richtigen Leben nicht sterben – noch viele Jahre nicht.
»Was ist mit Vane ?« Ich stehe vor ihr, eine Hand auf meine jeansbekleidete Hüfte gestemmt, in der anderen die neuen Stiefel, die sie mir gekauft hat. Sie sieht mich verständnislos an. »Du weißt schon – Vane Wick ?«, fahre ich fort. »Der internationale Herzensbrecher – einer der jüngsten und heißesten Hollywood-Stars – der, den ich auf diesem Platz in Marokko angefallen habe ?«
»Was ist mit ihm ?« Sie zupft an ihren glitzerblauen Fingernägeln und zieht den Lack genau auf die Art ab, die sie mir immer verboten hat, da sie meint, es schade den Nägeln.
»Also, ich kann mich nicht erinnern, diesen Vortrag damals gehört zu haben.« Ich stecke meine Füße in die Stiefel und muss leise schmunzeln, als ich feststelle, dass sie perfekt passen.
»Weil ich wusste, dass du viel zu klug bist, um auf jemanden wie Vane hereinzufallen. Du warst nie beeindruckt von Stars, Daire. Dafür bist du viel zu clever. Ich wusste, dass du seine Show sofort durchschaut hast, und deshalb habe ich mir auch keine Sorgen gemacht, als du mit ihm herumgezogen bist.«
Ich wende mich zum Fenster und mustere den Traumfänger über dem Sims. Dabei muss ich an den Abend denken, als mich Vane in diese Gasse gelockt hat, an die erfahrene Art, wie er mich geküsst hat. Wie er mich beinahe dazu überredet hätte, die Dinge zu tun, vor denen mich Jennika immer warnt. Und wie mich nur die Visionen von den leuchtenden Gestalten davor bewahrt haben.
Doch das verrate ich ihr nicht.
Ich schüttele die Erinnerung ab und lausche geduldig, als sie weiterspricht. »Ich wusste im ersten Moment, als ich euch zusammen gesehen habe, dass es mit Dace anders ist«, sagt sie mit finsterer Miene. Wahrscheinlich denkt sie an den Abend, als sie uns in seinem Auto erwischt hat. Wir wollten uns gerade küssen, als sie uns aufgeschreckt und uns erfolgreich davon abgehalten hat. »Daire, Liebes.« Ihre grünen Augen blicken tief in meine. »Du weißt doch, dass ich dich nur davor bewahren will, die gleichen Fehler zu machen wie ich.«
»Ja, weiß ich.« Verdrossen stopfe ich einen Stapel Bücher in meine Tasche. »Und nur damit du es weißt, ich finde es einfach traumhaft, wenn du mich als einen Fehler bezeichnest. Ehrlich. Da krieg ich gleich ein ganz warmes und heimeliges Gefühl im Bauch.«
Sie schnaubt leise. Und obwohl ich ihr den Rücken zukehre, kenne ich sie gut genug, um zu wissen, dass sie die Augen geschlossen hat und leise bis zehn zählt. »Du weißt genau, was ich meine«, sagt sie, sobald sie es hinter sich gebracht hat.
Ich runzele die Stirn und will ihr schon eine gehässige Entgegnung an den Kopf werfen, als sie so klein und schutzlos auf mich wirkt, dass sich in mir etwas löst und ich weich werde.
Irgendwie kann ich fühlen, wie es für sie war, als sie mit sechzehn Jahren von einem Jungen schwanger wurde, der dann plötzlich umkam – und nur wenige Jahre später ihre Eltern zu verlieren.
Aus der Bahn geworfen.
In den Bauch getreten.
Atemlos nach Luft schnappend und darum ringend, sich ein neues Leben aufzubauen.
Ich greife nach einem Stuhl, umklammere mit beiden Händen die Lehne. Ich bin überwältigt von der Wucht dieses Eindrucks – davon, wie ich unwillkürlich in Jennikas inneres Erleben eingetaucht bin.
Es ist das gleiche Phänomen, von dem Paloma mir erzählt und das sie mir zu verfeinern empfohlen hat. Sie meinte, es werde mir helfen, die Wahrheit eines Menschen zu erkennen.
Zum ersten Mal habe ich es erlebt, als ich Dace und Chepi an der Tankstelle begegnet bin. Ohne mich auch nur darum bemüht zu haben, hatte ich mich augenblicklich auf die Wolke aus Traurigkeit und Kummer um Chepi herum und auf den Strom reiner, bedingungsloser Liebe eingestimmt, der von Dace zu mir geflossen kam.
Und jetzt passiert es wieder, ebenfalls ohne dass ich es angestrebt hätte, nur diesmal mit Jennika.
Nachdem ich ein paar Minuten hinter ihrer stählernen Fassade verbracht habe, kann ich ihr nicht mehr böse sein. Kann nicht mehr denselben schnippischen Ton anschlagen. Wie die meisten Menschen versucht sie einfach ihr Bestes zu tun.
»Komm schon.« Ich hebe das Kinn und schnuppere demonstrativ. »Es riecht, als würde Paloma ihre berühmten Blaumaispfannkuchen backen, und die willst du dir garantiert nicht entgehen lassen.«
Sosehr ich mir auch vorgenommen hatte, netter zu Jennika zu sein, als sie darauf besteht, mich zur Schule zu fahren, werfe ich Paloma sofort einen flehentlichen Blick zu und bitte sie auf diese Weise, irgendwie einzugreifen.
Ich muss mit ihr reden. Muss meine Ausbildung fortsetzen. Aber jetzt, mit Jennikas Überraschungsbesuch, habe ich keine Ahnung, wann wir das schaffen sollen. Als Jennika gestern Abend gegangen ist, war es zu spät und zu kalt, als dass Paloma mir noch hätte zeigen können, wie man das Feuerlied beschwört, also hatte ich gehofft, wir könnten es heute tun. Doch angesichts der Umstände kommt mir diese Aussicht eher fraglich vor.
Trotz meines flehenden Blicks wünscht mir Paloma lediglich einen schönen Tag und meint, dass wir uns ja abends wiedersehen. Und obwohl ein Hauch von Hintersinn in ihren Worten mitschwingt, zupft mich Jennika, noch ehe ich es durchschaut habe, am Ärmel und zieht mich hinaus zu ihrem Auto.
»Du musst wirklich mal fahren lernen.« Sie setzt sich hinters Lenkrad, während ich auf den Beifahrersitz rutsche.
»Ich weiß«, erwidere ich und hoffe, dass sie mir nicht anbietet, die Plätze zu tauschen und mich zu unterrichten. Dann kommen wir nur ins Streiten, und das möchte ich gerade jetzt unbedingt vermeiden.
»Nicht dass es hier irgendwelche besonders verlockenden Ziele gäbe, wenn du erst mal den Führerschein hast …«
Sie verzieht die Miene und teilt mir dadurch ein weiteres Mal mit, wie sehr sie diese Stadt verabscheut. Ganz leise zischt sie denselben abgegriffenen Monolog vor sich hin, dass ihr völlig unverständlich ist, warum ich lieber in diesem Kaff lebe als in der supercoolen Behausung, die sie gerade in L. A. bezogen hat. Schließlich seufzt sie, bauscht ihr Haar auf und wendet sich der Stereoanlage zu.
Als sie mich bittet, im Handschuhfach nach ihrer Hole-CD zu suchen, weiß ich, dass sie noch einmal von vorn anfangen und einen gemeinsamen Nenner finden will. Musik aus den Neunzigerjahren, der Zeit ihrer Jugend, ist immer der Rettungsanker, wenn ihr nach einem Abstecher in weniger schwere Zeiten zumute ist.
»Du siehst süß aus in dem Top«, sagt sie. Kaum hat Courtney Love die ersten Takte von Celebrity Skin gesungen, bessert sich ihre Laune schlagartig. »Und die Jeans passt dir wie angegossen – aber das hatte ich schon im Gefühl.« Sie wirft mir einen anerkennenden Blick zu, während ich nur achselzuckend ein Dankeschön murmele und aus dem Fenster schaue. Draußen durchwühlt ein räudiger Straßenköter den Inhalt einer umgekippten Mülltonne, während eine noch räudigere Katze zusieht und nur darauf lauert, sich bei der erstbesten Gelegenheit mit ins Geschehen zu stürzen.
»Dace Whitefeather wird es noch massiv bereuen, dass er dich sitzen gelassen hat«, sagt sie in einem irregeleiteten Versuch, mich aufzuheitern.
»Das will ich wirklich nicht hoffen.« Ich äuge zu ihr hinüber und registriere zufrieden, dass sich ein leichter Anflug von Erschrecken auf ihrer Miene abzeichnet.
Sie zieht die Brauen zusammen, sichtlich bemüht, aus meinen Worten – und aus mir – schlau zu werden. Sie versucht, irgendwo eine Spur ihrer Lehren zu finden, von den Werten, die sie mir mühsam einzubläuen versucht hat.
»Es ist besser, wenn er gar nicht an mich denkt.« Ich presse die Worte an dem Schluchzen vorbei, das mir im Hals steckt – dem Schluchzen, das sich seit jenem schrecklichen Abend in seiner Küche dauerhaft dort eingenistet hat. »Es ist besser, wenn er einfach sein Leben weiterführt.«
Sie mustert mich einen Moment lang, wobei sie den Kopf wiegt, als würde sie über meine Worte nachdenken. Schließlich lässt sie das Thema auf sich beruhen. »Wo hast du die her ?«, fragt sie und kneift in den Ärmel der schwarzen Daunenjacke, die ich anhabe. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist, Daire – die alte Armeejacke, die du immer getragen hast, oder das Teil hier.« Sie schüttelt den Kopf und empfindet mich sichtlich als ein Rätsel, das Entscheidungen trifft, die ihr immer unbegreiflich bleiben werden.
»Die ist von Django.«
Ihr bleibt der Mund offen stehen, und ihre Augen werden so groß, wie ich sie noch nie gesehen habe.
»Wo hast du sie gefunden ?« Sie umfasst das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß werden.
»In einer Kiste mit seinen Sachen. Schau sie doch auch mal durch, solange du hier bist. Das wäre sicher interessant für dich.«
»Nein. Vielleicht.« Sie reibt die Lippen aufeinander und sieht blinzelnd aus dem Fenster. »Ich weiß nicht. Mal sehen.« Sie seufzt und lässt ergeben die Schultern sinken, die in dieser Position verharren, ehe sie in den Parkplatz einbiegt. »Hey, sind das nicht deine Freundinnen ? Und ist das nicht dein Ex, der bei ihnen steht ?«
Ich wende mich dorthin um, wo Xotichl, Auden, Lita, Crickett, Jacy und ja, sogar Dace, miteinander reden und lachen. Ich lasse meinen Blick über sie schweifen, ehe ich ihn genauer mustere, aber nur einen Moment, dann zwinge ich mich wegzusehen. Ich kann es mir nicht leisten, ihn länger zu betrachten.
»Wow. Ich hätte eigentlich erwartet, dass sie auf deiner Seite stehen.« Sie schaut hastig zwischen ihnen und mir hin und her. »Wissen sie überhaupt von eurer Trennung ?«
»Wahrscheinlich nicht«, murmele ich. »Nachdem ich gestern nicht in der Schule war.« Ich verstumme, als ich sehe, wie ein neues Mädchen mit einer wilden Mähne aus dunklen Korkenzieherlocken, das ich noch nie gesehen habe, zögerlich auf das Grüppchen zugeht.
»Tja, er wird ihnen garantiert nicht auf die Nase binden, was für ein Blödmann er ist. Also musst du es tun.« Jennika schnaubt leise und blickt drein, als würde sie am liebsten zu ihnen rübermarschieren und es ihnen an meiner statt erzählen.
Doch ich kann nur dieses schlanke, exotisch wirkende Mädchen mit der dunklen Haarwolke, den mandelförmigen Augen, dem zierlichen Näschen und den vollen Lippen betrachten.
Sie sieht aus wie eine Tänzerin – sehnig, biegsam – der Inbegriff von Grazie.
In ihr scheinen sich mehrere Nationalitäten vermischt und beschlossen zu haben, ihre edelsten körperlichen Eigenschaften in einer Person zu vereinen.
»Wer ist das da bei ihnen ?« Jennika stupst mich am Arm. »Die neben Jacy ?«
Ich kann den Blick nicht abwenden, während ich mich frage, warum alle dieses Mädchen zu kennen scheinen – und warum sie ständig Dace anschaut. Und warum es Dace offenbar kaum über sich bringt, ihren Blick zu erwidern.
Gerade will ich tiefer bohren und mich um einen dieser Eindrücke bemühen, wenn auch nur, um aus der Situation schlau zu werden, als ich mich wieder fange. Mich im Zaum halte. Schließlich sollte ich ja eigentlich Mauern zwischen uns errichten, nicht sie einreißen.
Jennika redet monoton weiter und leiert eine lange Liste von Tipps herunter, wie ich gegenüber meinen Freunden mit dieser Trennung umgehen soll, um die Oberhand zu erringen. Sie hört erst auf, als ich ihr ins Wort falle. »Jennika …«
Sie sieht mich erwartungsvoll an.
Ich kaue an meiner Lippe und zwinge mich, die ärgerliche Entgegnung zu unterdrücken, die mir auf der Zunge liegt. Die, in der es um Grenzen geht – darum, mir die Freiheit zu lassen, meine eigenen Fehler auf meine eigene Art zu machen. Die Entgegnung, mit der ich sie daran erinnere, dass sie mich nicht vor allem beschützen kann, sosehr sie sich auch anstrengt. Stattdessen steige ich einfach aus dem Auto und winke ihr vom Randstein aus zu. Ich verfolge, wie sie den Parkplatz verlässt, ehe ich auf Chays alten Pick-up zuhalte, der neben dem Schulgebäude parkt, direkt unter der Comiczeichnung eines Zauberers, unseres Schulmaskottchens. Das war es, was Paloma gemeint hat.
Er beugt sich über den Sitz und macht mir die Tür auf. »Steig ein«, sagt er. »Paloma wartet schon. Du musst wohl noch ein bisschen trainieren.«
Ich steige neben ihm ein, und obwohl ich es besser weiß, kann ich mir einen letzten Blick auf Dace nicht verkneifen.
Kann mir nicht verkneifen zu registrieren, wie schnell er meinen Blick gespürt hat.
Wie schnell er sich umdreht, um mich anzusehen.
Ich lasse mich in den Moment hineinfallen und erlaube mir, seine Gegenwart zu genießen.
Bis ich erneut daran denken muss, welch hohen Preis es kostet, ihn zu lieben, und mich zwinge, den Blick abzuwenden.