Einundvierzig
Dace
Ich schaffe es kaum durch die Menge, als Phyre mich aufspürt. Als hätte sie eine Art unsichtbaren Radar, der darauf programmiert ist, nur mich zu orten.
Sie tritt aus dem Dunkel, baut sich vor mir auf und sagt: »Hey, Dace.« Ihre Stimme ist weich, ihr Lächeln hübsch.
Nicht die Hübschheit, die ich suche.
Ich nicke und mache Anstalten, mich zu entfernen. Werde davon aufgehalten, dass sie mir die Finger ums Handgelenk schlingt und mich zu sich zurückzieht.
»Kann ich mit dir reden ?«
Ich senke die Lider. Suche nach einem freundlichen Weg, ihr zu sagen, dass sie aufhören soll, an mich zu denken. Aufhören soll, mir nachzustellen. Die Vergangenheit dort zu lassen, wo sie hingehört – tot und vergraben.
Als ich die Augen wieder öffne, entdecke ich plötzlich Daire auf der anderen Seite des Lokals und will mich nur ungern von ihr abwenden, nachdem ich sie nun endlich gefunden habe.
»Du hast es immer so eilig. Nie hast du Zeit für mich.« Phyre zieht mich am Arm. Mit einem Fingernagel fährt sie über meine Haut, im verzweifelten Bemühen, meine Aufmerksamkeit zu erringen.
Widerwillig löse ich den Blick von Daire und richte ihn auf Phyre. »Es gibt nichts zu reden.« Ich befreie mich aus ihrem Griff.
»Das sagst du, aber wie kannst du da sicher sein ?« Sie neigt den Kopf, sodass ihr eine Lockenkaskade über die Wange fällt. Es ist eine gut einstudierte, überstrapazierte Geste. »Und überhaupt – bist du denn nicht neugierig, warum ich zurückgekommen bin ?«
Ich werfe ihr einen geduldigen Blick zu, in der Hoffnung, dass das die Sache beschleunigt.
»Es ist kein Zufall, weißt du.«
»Falls mich die Erinnerung nicht trügt – nichts, was du tust, ist ein Zufall«, erwidere ich und denke an die vielen Male, die sie ganz zufällig am selben Ort aufgetaucht ist wie ich. Daran, dass es eine Weile gedauert hat, bis ich begriffen hatte, dass daran rein gar nichts zufällig war. Was mir allerdings nichts ausmachte. Ich freute mich einfach, von einem weiblichen Wesen registriert zu werden, das nicht meine Mom war. Die Tatsache, dass Phyre so hübsch war, war ein weiterer Vorzug.
»Du warst immer so still, so nachdenklich. Es war nicht leicht, deine Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Du hast es aber trotzdem geschafft, oder ?« Mein Blick begegnet ihrem, und als sie zusammenzuckt, stelle ich erstaunt fest, dass ich es genieße, was ganz und gar nicht typisch für mich ist. Das muss das Stück von Cade sein, das seinen Einfluss geltend macht. Und mich damit daran erinnert, dass ich nicht mehr der Gleiche bin, der ich einmal war.
»Stimmt«, gesteht sie und zuckt die Achseln. »Was soll ich sagen ? Wenn ich mir etwas oder jemanden in den Kopf gesetzt habe, bekomme ich normalerweise – nein, falsch – bekomme ich immer, was ich will.«
Ihr Blick ist offen. Direkt. Eine Herausforderung, die ich entweder ablehnen oder annehmen kann. Doch stattdessen quittiere ich sie mit derart unbewegter Miene, dass man rein gar nichts herauslesen kann.
»Immerhin hab ich dich gekriegt, oder ?«
Ich lasse den Blick über Phyre wandern und versenke mich kurz in ein paar Szenen aus meiner Erinnerung.
Wie wir uns den neugierigen Blicken unserer Eltern entzogen haben, um ein paar berauschende Momente unter dem Sternenhimmel zu erleben. Einen ersten Kuss – ihre Lippen entschlossen und sicher, meine übereifrig und unerfahren. Eine erste Berührung – wobei sie meine Ungeschicklichkeit mit ihrer erstaunlichen Gewandtheit übertrumpfte. Dann noch ein anderes erstes Mal – auf dem sie bestand – was aber nicht heißen soll, dass ich nicht gewollt hätte. Und direkt danach waren sie verschwunden.
Ich stoppe den Film, der in meinem Kopf abläuft, und sage: »Vorübergehend. Eine Zeit lang wäre ich dir überallhin gefolgt.«
»Es mag kurz gewesen sein, aber für mich war es die Sache absolut wert. Andererseits war ich nur allzu bereit, nach jedem Krümel zu lechzen, den du mir hingeworfen hast.«
»Bist du dir da sicher ?« Ich fördere eine ganz andere Erinnerung zutage – eine, in der sie mich dazu manipuliert hat, sie zu begehren, sie zu brauchen – und dann, peng – ehe ich michs versehe, hat ihre Familie ihre Sachen gepackt und ist sang- und klanglos weggezogen. Das Einzige, was mich überraschte, war, wie schnell ich mich erholt habe. Ich dachte, es würde mehr wehtun. Ihr verdanke ich, dass ich Lust von Liebe unterscheiden kann. Kurz darauf traf ich eine Vereinbarung mit mir selbst, mich nie wieder mit weniger zufriedenzugeben.
»Es war nicht meine Schuld, dass wir umgezogen sind.« Sie versucht es mit einer lockeren Verteidigung. »Aber nur damit du es weißt, jetzt bin ich wieder da, und bin nicht bereit, mich erneut abspeisen zu lassen. Auch wenn es irgendwie peinlich ist, es zuzugeben, ich habe nie aufgehört, dich zu vermissen. Nie aufgehört, an dich zu denken.« Sie hält inne und leckt sich mit der Zunge über die Lippen, sodass sie feucht glänzen. »Ich habe dich nie aufgegeben.«
Ich beschließe, dass brutale Aufrichtigkeit der einzige Weg ist, das hier abzubiegen. »Phyre. Du warst jung und traurig. Du hattest gerade deine Mom verloren und hast nach einem Weg gesucht, dich besser zu fühlen, einem Weg, dich lebendig zu fühlen, und ich war eben zufällig gerade da. Das war alles. Bausch es nicht romantisch zu etwas auf, was es nie war.«
»Komisch, ich habe es ganz anders in Erinnerung.«
Ich schüttele den Kopf und will mich von ihr abwenden. Doch im nächsten Moment hat sie mich schon wieder am Handgelenk gepackt. Ihre Lippen teilen sich leicht und schweben nur wenige Zentimeter vor meinen. Ihre Entschlossenheit ist so unwiderruflich, dass sie kaum reagiert, als ich sage: »Tu das nicht.«
»Was ?« Ihre Finger schließen sich, und ihr Mund nähert sich meinem.
»Zwing mich nicht, Dinge zu sagen, die du nicht hören willst.«
Sie lockert ihren Griff und wirft einen Blick auf die andere Seite, wo Daire steht. »Was denn zum Beispiel ? Dass du in die Suchende verliebt bist ?«
Ich runzele die Stirn. Aus ihrem Mund klingt das nicht gut.
»Was ? Bildest du dir ein, ich wüsste nicht, wer sie ist ? Glaubst du, ich sähe die ganzen Anzeichen nicht ?«
Sie spricht mit leiser, kehliger Stimme weiter. »Du bist nicht der Einzige, der umgeben von Mystik aufgewachsen ist. Im Gegensatz zu den anderen Leuten hier waren meine Augen gegenüber der Wahrheit dieser Stadt nie verschlossen.«
»Was willst du ?« Meine Stimme klingt ungeduldig; ich bin dieses Spielchen leid. Sie hat es also definitiv nicht nur auf mich abgesehen. Bei Phyre steckt immer noch etwas anderes dahinter.
»Ich will das Gleiche wie du.« Sie hebt und senkt die Schultern und stoppt ihre unechten Flirtversuche.
»Unwahrscheinlich«, murmele ich und wende mich ab. Ich habe mehr als genug von ihren manipulativen Machenschaften über mich ergehen lassen.
»Heißt das, du wünschst dir Cades Tod nicht herbei ?« Sie sieht mich herausfordernd an.
Ich erwidere ihren Blick zu lang.
Auch wenn die Worte stimmen – die Energie ist falsch.
Ich erwäge einen Seelensprung. Verspreche mir selbst, dass er nur kurz sein wird. Doch ebenso schnell verwerfe ich die Idee wieder. Ich kann es mir nicht leisten, irgendetwas zu tun, das die Arbeit beeinträchtigen könnte, die ich bereits geleistet habe. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es nicht viel zu sehen gäbe. Sie hat offenbar Gerüchte gehört. Glaubt, wenn sie behauptet, meinen neu entdeckten Hass gegen Cade zu teilen, wäre das ein sicherer Weg zu mir.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, entgegne ich ihr, und diesmal gelingt es mir davonzugehen.
Kurz fange ich auf dem Weg zur Tür Daires Blick auf. Ein Fehler, den ich hätte vermeiden sollen. Durch das Wissen, dass ich nicht einfach zu ihr hinübergehen kann, fühle ich mich isolierter denn je.
Ich schiebe die Hände in die Taschen und verlasse den Club. Ducke mich vor dem unentwegten Nieselregen, während ich mich auf den Weg zu dem alten Maschendrahtzaun mache und Trost bei dem goldenen Schloss suche.
Ich muss nachsehen, ob das Symbol unserer Liebe noch dort ist, wo wir es zurückgelassen haben – stärker als die Mächte, die versessen darauf sind, sie zu zerstören.
Ich will eine letzte Erinnerung, ehe ich Cade aufspüre.