Vierundzwanzig

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Daire

Einmal entfacht, prescht Feuer rasch voran und verzehrt augenblicklich alles auf seinem Weg. Es verbrennt, versengt und verwandelt, indem es die Struktur von allem verändert, was es berührt. Im Zaum gehalten, sorgt es für Behaglichkeit, Wärme und Licht. Außer Kontrolle geraten, hinterlässt es einen schrecklichen Pfad der Zerstörung.«

Paloma beugt sich über die Reihe handgezogener Kerzen, die sie auf den abgenutzten Holztisch in ihrem Büro gestellt hat. Ihre Dochte knistern und sprühen Funken, als sie mit dem brennenden Ende des langen Streichholzes in Kontakt kommen, das sie in der Hand hält.

»Feuer kann außerdem zum Auspendeln benutzt werden.« Sie sieht mich an, und ein Lächeln lässt ihre Augen aufleuchten. »Man kann fast jeden Gegenstand dafür verwenden, aber Feuer liefert eine gewisse Intensität, eine gewisse Lebhaftigkeit, die man bei einem Stein oder Kristall nicht so ohne Weiteres findet. Also, sag mal, nieta, wenn du in die Flamme schaust, was siehst du dann ?«

Ich schürze die Lippen und mustere die Kerzen vor mir. Ich versuche, die Übung ernst zu nehmen, da so viel auf dem Spiel steht, aber ich will nicht lügen. »Wahrscheinlich nicht das, was ich deinen Vorstellungen nach sehen sollte«, antworte ich schulterzuckend. »Da ist ein blauer Hintergrund, aus dem eine flackernde gelbweiße Spitze aufsteigt.«

»Gut.« Sie grinst. »Weiter solltest du auch gar nichts sehen. Oder zumindest nicht für den Moment. Ganz ähnlich wie du es bei dem Pendel gemacht hast, wirst du auch dem Feuer eine Frage stellen. Doch anstelle der Ja- oder Nein-Antwort des Pendels wird das Feuer dir Bilder zeigen, in denen die von dir gesuchte Information steckt.«

Ich ziehe eine Braue hoch und weiß genau, dass ich lieber nicht nachfrage. Auf jeden Fall werden diese Lektionen immer sonderbarer.

»Und genau wie beim Pendel musst du immer daran denken, dass das Feuer nur die Erkenntnisse liefert, die du tief in deinem Inneren trägst. Genauso ist es mit den Talismanen in deinem Beutelchen. Keiner dieser Gegenstände kann dir Fähigkeiten oder Antworten liefern, die du nicht bereits besitzt – sie bringen lediglich die Kräfte zum Vorschein, die tief in dir schlummern. Es wird einmal eine Zeit kommen, nieta, in der du so mit dir selbst und deiner Verbindung zu allen Lebewesen in Einklang stehen wirst, dass du gar nicht mehr auf diese Hilfsmittel zurückgreifen musst, es sei denn, du brauchst Klärung. Da du allerdings noch nicht ganz so weit bist, sollst du mehrere tiefe, reinigende Atemzüge nehmen. Befrei deinen Geist und zentrier dich. Wenn du dann bereit bist, möchte ich, dass du eine der Flammen wählst und deinen Blick auf sie richtest, bis sich deine Konzentration ganz natürlich einspielt. Und statt dem Feuer eine Frage zu stellen, sollst du das Feuer bitten, dir etwas zu offenbaren, was es dir zu zeigen bereit ist. Halt einfach deinen Geist offen. Lass die Information fließen. Kannst du das ?«

Ich nicke. Ich bin bereits dabei. Hole tief und beruhigend Luft. Spüre, wie meine Muskeln auf der Stelle locker und entspannt werden. Dabei beginnt sich mein Blickfeld zuerst zu weiten, ehe es sich auf einen einzigen Punkt verengt.

Ich konzentriere mich auf eine einzelne Flamme, die vor mir züngelt. Fühle mich zu ihrer Hitze, ihrem Wesen, ihrem beseelten Tanz hingezogen und bemühe mich, zu ihrem eigentlichen Kern Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu verschmelzen. Bis alles verblasst außer diesem einsamen Flackern.

Kaum habe ich meine stille, inständige Bitte darum, sein Wissen mit mir zu teilen, übermittelt, bildet sich ein Gesicht heraus. Ein dunkles, bekümmertes, schönes Gesicht mit intensiv leuchtenden Augen, die fest in meine blicken. Doch gerade als ich das Bild erfasst habe, verblasst das Gesicht und lässt nur noch die vagen Umrisse eines Waschbären zurück.

»Es ist Valentina !«, stoße ich atemlos hervor, während ich auf eine der ersten verbürgten Suchenden im Stammbaum der Familie Santos blicke. »Und Waschbär – ihr spirituelles Leittier.«

Palomas geflüsterte Ermunterung veranlasst mich, näher heranzugehen und zu versuchen, die Botschaft auszumachen – überzeugt davon, dass es eine gibt. Und als Valentinas Gesicht erneut vor mir erscheint, erklingt diesmal ihre Stimme in meinem Kopf.

Zuerst ist sie schwach und schwer zu verstehen. Doch schon bald gehen mir die Worte durch und durch.

Hör zu – du darfst keine Zeit verlieren ! Denk immer daran, dass deine Entschlusskraft deinen Willen stärkt, und dein Wille ist dein Weg. Du darfst nie zurückblicken. Du darfst nie bereuen. Ein neuer Tag ist angebrochen – die alten Regeln haben sich gewandelt. Beispiellose Taten werden nun von dir erwartet, und diese werden einen hohen Tribut fordern. Es ist der Glaube der Suchenden, und du musst geloben, ihn zu befolgen !

Ich nicke heftig und nehme mir jedes einzelne Wort zu Herzen.

Allmählich verblasst ihr Gesicht und lässt mich mit dem Satz zurück: Es ist deine Pflicht, sie zu beschützen – kümmere dich um sie !

Dabei blitzen Bilder von Xotichl, Auden und Lita vor mir auf, gefolgt von den Umrissen einer Fledermaus, eines Otters und eines Opossums.

Ihren Geisttieren. Das müssen sie sein. Jetzt, wo wir Freunde sind, jetzt, wo ich sie alle kenne, passen die Tiere, die sie leiten, perfekt dazu.

Wie Xotichl kann die Fledermaus im Dunkeln sehen.

Wie Auden ist Otter lustig und nett, mit klarer Entschlusskraft.

Wie Lita ist Opossum ein guter Schauspieler, der schnell lernt und anpassungsfähig ist.

Als die Bilder verblassen, schwingt nur noch die Flamme im Takt zum Lied des Feuers hin und her:

Nach der Laune des Windes

Kann ich glühen oder sengen

Tröste so leicht, wie ich verletze

Ein einziges Züngeln meiner Flamme bewirkt unwiderruflichen Wandel

Sei wie ich, wenn du Veränderung willst

Nach der dritten Wiederholung erlischt die Flamme einfach. Und ich kann nur noch ihren Geist anstarren – einen dünnen Rauchfinger, der sich vor mir schlängelt. »Gut gemacht, nieta«, flüstert mir Paloma ins Ohr. »Und jetzt lösch den Rest aus. Du weißt, was du tun musst.«

Ich strecke den Arm nach einer der Kerzen aus, hebe die Hand vor ihr und beobachte, wie sie sich schlagartig selbst löscht. Dann mache ich weiter mit der nächsten und kann sie ausmachen, indem ich nur mit den Augen blinzele und will, dass sie ausgeht. Als ich bei der letzten anlange, greife ich mir das zweischneidige Messer, das mir Paloma hingelegt hat. Fest umfasse ich seinen glatten Holzgriff und heilige das Athame, indem ich es einmal langsam durch die geheiligte Flamme der Kerze ziehe. Ich vernehme den Refrain – die herrliche Symphonie, die in meinem Kopf anschwillt –, während das Feuer die Klinge beim Durchziehen schwärzt, nur um sie glänzend wie neu wieder daraus hervorgehen zu lassen.

Als es vorüber ist, legt Paloma das Messer in seine Hülle zurück. Sie lässt die Finger auf dem abgenutzten Lederfutteral liegen und schweigt lange, ehe sie das Wort ergreift. »Du hattest recht«, sagt sie.

Ich beuge mich zu ihr, habe jedoch keine Ahnung, wovon sie spricht.

»Sosehr ich mir auch anderes erhofft habe, fürchte ich nun, dass sich Valentinas Warnung nicht bestreiten lässt. Ein neuer Tag ist angebrochen. Die alten Regeln sind jetzt hinfällig. Was bedeutet, dass Cade getötet werden muss. Und bedauerlicherweise bist du die Einzige, die das tun kann. Das Schicksal dieser Stadt – deiner Freunde – hängt davon ab, ob es dir gelingt, ihn zu töten.« Ihre Finger fahren an der Schneide entlang, während sich auf ihrem Gesicht ein widersprüchliches Mienenspiel abzeichnet. Als ihr Blick schließlich auf meinen trifft, ist er von einer unergründlichen Traurigkeit erfüllt, die nicht zu übersehen ist. »Wenn ich deinen Platz einnehmen und es dir abnehmen könnte, nieta, glaub mir, ich würde es tun. Aber meine Zeit als Suchende ist vorüber. Was ich noch an Kräften besessen habe, ist bereits auf dich übergegangen.«

Ich mustere sie mit starrem Blick und ohne zu atmen. Verblüfft von ihrem plötzlichen Sinneswandel – und von der Tragweite ihrer Worte.

Sie schiebt das Messer zu mir herüber und sieht mich unverwandt an. »Wenn du bereit bist, Cade zu töten, wirst du dieses Athame dazu benutzen. Du wirst es auch dazu benutzen, um die Unterwelt von untoten Richters zu befreien, entweder indem du ihnen die Köpfe abtrennst oder sie sauber in der Taille spaltest.«

Ihre Anweisungen lassen mich erstarren. Ich bin außerstande, mir eine solche Tat auszumalen.

»Ich weiß, dass die Vorstellung unangenehm ist«, fährt sie fort. »Leider wird es die Tat selbst auch sein. Doch diesmal wirst du im Gegensatz zum letzten Mal nicht auf die Hilfe der Knochenhüterin zählen können. Daher ist dies der einzige Weg, um die Seelen zu retten, die ihnen Kraft spenden. Der einzige Weg, um sie dorthin zurückzuschicken, wo sie hingehören.«

»Und Cade – ist das auch der einzige Weg, um ihn zu töten ?« Ich nehme das Messer aus seiner Hülle, betrachte es mit jetzt wissenderen Augen, wiege es in der Hand und fahre mit seiner glatten Schneide über meine Handfläche. Dabei versichere ich mir selbst, dass ich das schaffe – schließlich wurde ich dafür geboren. Ich muss sie nur finden, weiter nichts. Wenn die Zeit kommt, gibt es kein Zögern. Dann töte ich sie alle.

Es ist ein Versprechen, das ich mir selbst gebe und Paloma und den Leuten von Enchantment, die das Leid nicht verdient haben, das sie erdulden mussten.

Mit entschlossener Miene wende ich mich zu Paloma um. Sie soll wissen, dass ich mich der Aufgabe gewachsen fühle. Dass ich sie nicht enttäuschen werde. Ich werde diese Sache zu Ende bringen. Erst als sie mir mit einem sehr betrübten Blick in die Augen sieht, begreife ich, dass sie meine Frage unbeantwortet gelassen hat.

»Wird das Cade töten ?«, wiederhole ich, wobei meine Stimme viel zu hoch klingt.

Sie hält sich die Hände vor die Brust und presst die Finger aneinander. »Für mich ist das alles neu, nieta. Und es tut mir leid, dass ich das von dir verlange. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass das Messer jetzt mit Valentinas Essenz gestärkt ist. Ich zweifele nicht daran, dass sie sich als großartige Verbündete für dich erweisen wird. Von jetzt an wirst du das Athame zu jeder Zeit mit dir führen. Du schreitest zur Tat, wenn du dazu gerufen wirst. Du tust, was immer nötig ist, um Cade und seine Armee aus untoten Ahnen unschädlich zu machen, koste es, was es wolle.« Ihr Blick wird weicher, als sie weiterspricht. »Und jetzt wollen wir mal sehen, ob wir es nicht schneien lassen können.«