Vierunddreißig

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Daire

Das Erste, was ich sehe, als ich durch die Wand breche, ist der Dämon.

Oder vielmehr die Dämonen. Schließlich befindet sich hier eine ganze Armee davon.

Das Zweite, was mir auffällt, ist, dass niemand auch nur im Geringsten von den riesigen, bösartigen Wesen beunruhigt zu sein scheint, die sich um sie scharen. Kaum einer wirft einen Blick auf die verschiedenartigen Schweife, Hufe, Hörner und missgestalteten Köpfe. Ganz zu schweigen von den Gesichtern, die eine groteske Mischung aus Tier, Mensch und irgendeinem unidentifizierbaren Monster aus der tiefsten Finsternis darstellen.

Die Masse schlurft nur einfach benommen weiter. Als ich an ihnen vorbeikomme, dauert es trotz meiner enormen Anstrengungen, mich in die Gruppe einzufügen, nicht lange, ehe einer von ihnen mit seinen langen, schartigen Klauen nach mir greift und sein Gesicht vor meines hält. Seine dunklen Schlitzaugen sehen mich aus solcher Nähe durchdringend an, dass mir der Schweiß ausbricht.

Das darf nicht passieren.

Ich kann es mir nicht leisten, entlarvt zu werden.

Nicht jetzt.

Nicht, nachdem ich so weit gekommen bin.

Ich beruhige meinen Atem und starre stur geradeaus, während ich unbemerkt von den anderen das Päckchen Zigaretten vor ihm schwenke und ein stilles Gebet an meine Vorfahren sende, an die Elemente, meine Talismane und einfach alle, die bereit sind, mir Gehör zu schenken. Ich flehe darum, dass mein Tabakopfer ebenso gut funktioniert wie letztes Mal, als ich hier war, und atme erleichtert auf, als er das Bestechungsgeschenk annimmt und sich die Zigaretten mitsamt der ganzen Verpackung ins Maul stopft.

Wir durchqueren den Tunnel, der zur Höhle führt, dann schlüpfen wir durch den Eingang und in den Wohnraum. Weiter geht es durch den langen Korridor, wo wir uns unordentlich im Halbkreis aufstellen und einer – soweit ich es hören kann – Einführungsrede lauschen.

Dort, wo ich stehe, klingen die Worte ein bisschen dumpf, aber ich kann doch einzelne Satzfetzen verstehen: Große Gelegenheit … seltener blauer Turmalin … ein Vermögen zu verdienen … freie Kost und Logis. Wobei mir nichts davon mehr Klarheit verschafft, als ich bereits hatte.

Nur eines steht fest – das einzige Vermögen, das dabei zu verdienen ist, werden die Richters einsacken. Die Leute hier werden keinen Cent davon sehen.

Im nächsten Moment setzen wir uns erneut in Bewegung. Schieben uns durch die zweite Wand, die zu dem sandigen Tal führt, wo wir unseren Treck über das Wüstengelände beginnen.

Meine Wandergefährten sind so fügsam, dass ich mich frage, ob sie überhaupt wissen, was sie tun und wohin sie gehen. Es ist, als befänden sie sich in einer Trance, programmiert darauf, das zu tun, was man ihnen sagt, und auf Ungewöhnliches nicht zu reagieren.

Als wir an einen Punkt kommen, wo der Hügel einen Kamm bildet und der Grund nachgibt, achte ich darauf, mich vor der Masse stürzender, um sich schlagender Gliedmaßen zu schützen, während wir der Unterwelt entgegentaumeln, indem ich auf die Füße springe und hinter einen Mann krabbele, der doppelt so groß ist wie ich. Ich ziehe meine Kapuze zurecht, sodass sie den größeren Teil meines Gesichts bedeckt, und hoffe, dass ich unentdeckt bleibe, bis ich gesehen werden will.

»Willkommen !«, ruft Cade mit tiefer, selbstsicherer Stimme. »Es freut mich, dass ihr es alle geschafft habt. Dass ihr beschlossen habt, ein bisschen höher zu greifen und etwas Sinnvolleres mit eurem Leben anzufangen, als Tag für Tag an der Bar herumzuhängen und euch das Hirn zu begießen. Wir haben ein großes Ziel vor Augen, und ihr solltet stolz auf euren Anteil daran sein …« Er schwadroniert weiter und spult eine Rede ab, die völlig überflüssig ist. Diese Menschen sind Gefangene. Unter seinem Befehl. Es gibt keinen Grund, so zu sprechen, wie er es tut, abgesehen davon, dass er es liebt, sich selbst reden zu hören. Schließlich kommt er zum Ende. »Also, nun ist es an der Zeit zu beginnen. Ich sehe keinen Anlass, noch etwas zu verzögern. Aber zuerst – eure Uniformen.«

Er greift in eine große Pappschachtel, die ein untoter Richter an seine Seite gestellt hat, und wirft Berge von schwarzen, kurzärmeligen T-Shirts mit einem Bild von ihm darauf in die Menge, so wie er einst dem Heer untoter Richters Seelen zum Fraß vorgeworfen hat.

»Nehmt euch eines und gebt den Rest weiter«, bellt er. »Das ist dafür, dass ihr nie vergesst, wem ihr Gefolgschaft geschworen habt.« Sein Blick verfinstert sich, während er seine vor ihm versammelten Untertanen mustert.

Als mir der Typ vor mir ein T-Shirt reicht, betrachte ich es einen Augenblick lang. Mir fällt auf, dass das Grinsen auf Cades Abbild genau das gleiche ist, das er momentan aufgesetzt hat.

Falsch.

Leer.

Eine bedeutungslose Leere.

Es ist das Lächeln eines Psychopathen.

Eines egomanischen Monsters ohne Zugang zu menschlichen Emotionen, weshalb er diese bestenfalls imitieren kann.

Ich knülle das T-Shirt zusammen und werfe es zu Boden. Ich habe nicht vor, es zu tragen, habe nicht vor, für ihn zu arbeiten. Mein unmittelbares Ziel ist es herauszufinden, was er im Schilde führt. Und dann …

Und dann weiß ich nicht genau weiter.

Das war kein Teil des Plans.

»Ihr werdet nach Turmalin schürfen. Nach reinem, blauem Turmalin. Der, nur damit ihr es wisst, einer der wertvollsten, seltensten und daher teuersten Steine der Welt ist. Aber täuscht euch nicht – ihr werdet die ganze Arbeit haben und nichts von den Gewinnen. Und jeder von euch, der auch nur daran denkt, einen Stein einzustecken, von dem er glaubt, dass ihn niemand vermissen wird, sollte noch einmal nachdenken. Wir beobachten euch rund um die Uhr. Der Preis für einen solchen Verrat ist der sofortige Tod ohne irgendwelche Fragen. Und falls irgendeiner von euch jetzt kehrtmachen möchte – es ist zu spät. Es gibt kein Entkommen.«

Ein paar halbherzige Protestrufe ertönen aus der Menge, doch das stört Cade nicht. Er erwartet nicht weniger als ihre absolute Unterwerfung, und die wird er zweifellos bekommen.

Er dreht sich um die eigene Achse, gewiss, dass wir ihm folgen werden – was wir auch tun –, und führt uns über schwarz verbranntes Land zu einer gewaltigen Schürfanlage, die von einem Heer weiterer untoter Richters bewacht wird. Ihr Anblick macht mich fassungslos.

Ich bin hier fehl am Platze.

In einer ganz anderen Liga.

Das doppelschneidige Messer, das ich in meinem Jackenärmel verborgen habe, ist ein Witz, ganz egal, was Paloma behauptet.

Es sind viel zu viele Richters – viel zu viele Köpfe zu kappen –, und ich bin ganz allein.

Auch wenn das Athame die Macht besitzen mag, Cade zu töten, werde ich überhaupt nicht so weit kommen, ehe ich von den anderen überwältigt werde.

Ich habe mich komplett verkalkuliert.

Habe zugunsten von Wut und Rachegelüsten die Vernunft fahren lassen.

Trotz Valentinas Behauptung – deine Entschlusskraft stärkt deinen Willen, und dein Wille ist dein Weg – sehe ich nicht, wie eines von beidem mich zum Sieg führen soll, wenn ich einer solchen Überzahl gegenüberstehe.

Ich ducke mich hinter dem Mann vor mir und schiebe die Kapuze gerade weit genug zurück, um zu sehen, was für ein Chaos hier herrscht.

Die Mine ist die Ursache für diesen Umweltfrevel. Der Grund dafür, warum das Meer verseucht ist und alle Fische sterben. Doch das wird Cade nicht kümmern. Die Unterwelt zu verletzen garantiert ihm nicht nur Profite, sondern wird auch dafür sorgen, dass die Mittelwelt bald dem Ruin anheimfallen wird – wie er es geplant hat.

Als meine Leidensgenossen nach und nach in den Schacht drängen, löse ich mich aus ihren Reihen und verstecke mich hinter einem Wäldchen aus verbrannten Baumskeletten. Dann beobachte ich die Vorgänge und denke über meinen nächsten Schachzug nach.

Es besteht keine Veranlassung, irgendwelche Risiken einzugehen. Wenn ich mir Hoffnungen darauf machen will, diese Menschen zu retten – sie hier herauszuholen –, dann muss ich es zurück in die Mittelwelt schaffen, wo ich mich mit den Stammesältesten beraten und einen besseren Plan für den Umgang mit dieser Situation schmieden kann.

Als die gesamte Gruppe in der Mine verschwindet, sieht sich Cade mit einem gruseligen, selbstzufriedenen Lächeln um.

Einem gruseligen, selbstzufriedenen Lächeln, das augenblicklich schwindet, als er die Nase in die Luft reckt und meine Witterung aufnimmt. Er wirbelt zu mir herum und sieht mich aus seinen abgründigen Augen an. »Weißt du, was ich am faszinierendsten an Raben finde ?«, ruft er.

Ich schlucke schwer. Lasse das Athame in meine Hand gleiten. Sehe zu, wie er mit dem Finger schnippt, den Arm hebt und triumphierend grinst, als im nächsten Moment Rabe, mein Rabe, gehorsam auf seinem Finger landet.

»Sie lassen sich nicht nur darauf trainieren, auf Befehl herbeizukommen, sondern haben auch eine phänomenale Begabung für Mimikry. Sie können alle möglichen Laute und Sätze mit absolut perfektem Tonfall wiedergeben. Zum Beispiel«, er beäugt Rabe und gurrt ihm leise etwas zu, »komm schon, sag Santos, was du weißt.«

Auf Befehl beginnen Rabes Augen zu glitzern, während er loskrächzt. »Die Suchende liebt das Echo.« Seine Stimme klingt genau wie die von Cade.

Ich ziehe die Hülle von der Schneide und halte das Messer dicht am Körper.

»Putzig, was ?« Cade tätschelt Rabe liebevoll den Kopf. »Natürlich haben wir gerade erst angefangen und müssen noch viel üben.« Er lässt Rabe los und sieht ihm nach, wie er davonfliegt und sich auf einem nur wenige Meter entfernten Zweig niederlässt. Bei dem Anblick verzieht Cade angewidert das Gesicht. »Er ist so neugierig.« Er schüttelt den Kopf und wendet seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Wie hast du das nur ausgehalten ?«

Er schlendert auf mich zu, und ich umfasse das Heft fester, bereit, die Waffe bei der ersten Gelegenheit einzusetzen. Atme erst aus, als Cade wenige Schritte vor mir stehen bleibt.

»Aber du bist ja nicht hier, um dir alberne Haustierkunststückchen anzusehen, oder ? Und bestimmt suchst du keinen Job – oder zumindest hoffe ich das. Es ist eine geisttötende, seelenzerfressende Arbeit, bei der deine vielen Fähigkeiten und Begabungen nicht einmal ansatzweise zum Zuge kämen.« Er leckt sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Eine so penetrante, so obszöne Geste, dass ich mir eine Reaktion mit aller Kraft verkneifen muss. »Jedenfalls ist es nicht gerade das, was mir vorgeschwebt hat, als ich dich um Zusammenarbeit gebeten hatte. Also, warum gibst du’s nicht einfach zu, Santos, du bist gekommen, um mich zu sehen.«

Erneut grinst er mich selbstgefällig an, und jetzt kann ich mich nicht mehr beherrschen. »Du spinnst ja komplett !«, fauche ich ihn an und löse mich von dem Baum, da Verstecken jetzt, da meine Tarnung aufgeflogen ist, keinen Sinn mehr hat.

»Ja ?« Er mustert mich aufmerksam. »Trotzdem kannst du nicht aufhören, an mich zu denken. Was soll man davon halten ?«

Ich verdrehe die Augen. »Das kannst du nicht machen. Trotz all deiner Einbildung steht die Unterwelt nicht unter deiner Kontrolle.«

Er grinst höhnisch. Sieht sich in alle Richtungen um. Weist mit großer Geste auf die umgebende Landschaft, die offensichtlich etwas anderes belegt. »Vielleicht solltest du noch mal hinsehen«, sagt er, während er all den Schaden und die Zerstörung betrachtet, die er verursacht hat. Er ist eindeutig erfreut über das von ihm allein herbeigeführte trostlose Elend.

Ich mache den Dolch in meiner Hand bereit. Mit einem Auge fixiere ich das Heer von Richters, die mich genau im Blick behalten, mit dem anderen Cade.

»Ich nehme an, du bist hierhergekommen, um mich zu töten.« Er lächelt geduldig wie gegenüber einem ziemlich zurückgebliebenen Kind.

Ich presse die Lippen zusammen. Weigere mich, es zu bestätigen oder zu leugnen.

»Das ist der zweite Mordversuch an einem Tag.« Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar und schürzt die Lippen, als amüsierte ihn der Gedanke, während es mir damit ganz anders geht.

Falls meiner der zweite Versuch ist, dann hat Dace den ersten unternommen.

Und es heißt auch, dass er ihm misslungen ist.

Misslungen im Sinne der Prophezeiung ?

Mein Körper versteift sich. Mein Herzschlag setzt aus. Ich begreife, dass das Blatt sich soeben gewendet hat, und doch weigere ich mich, es zu glauben.

Wenn Dace etwas zugestoßen wäre, hätte ich es doch garantiert gespürt. Bestimmt hätte ich es irgendwie gefühlt.

Oder nicht ?

»Ich vergesse immer wieder, was für eine Anfängerin du bist.« Cade setzt eine Maske des Bedauerns auf. »Also lass dir von mir einen kleinen Ratschlag geben, der uns diese Art von Peinlichkeit vielleicht in der Zukunft erspart. Du wirst mich nicht umbringen, Santos. Und Dace auch nicht. Du kannst mir glauben, dass jeder Versuch, mein Leben zu beenden, für keinen von euch beiden gut ausgehen wird. Ganz zu schweigen davon, dass dein jämmerliches Hexen-Gärtnermesser dem Vorhaben kaum gewachsen ist.«

Ich schiebe mir das Messer hinters Bein, sodass es unsichtbar ist.

Cade lacht nur. »Was ? Bildest du dir etwa ein, ich sähe es nicht ?« Er mustert mich eingehend und spricht seufzend weiter. »Vielleicht habe ich dich überschätzt. Du lernst wesentlich langsamer, als ich dachte.« Sein Blick wandert an mir entlang und bleibt an all den falschen Stellen hängen. »Tu uns beiden einen Gefallen und verzieh dich, damit wir vergessen können, dass es je geschehen ist. Ich bin ein geduldiger Mensch, Daire. Und ich versuche ehrlich, hier mit dir zu arbeiten. Aber du musst auch mit mir arbeiten. Du musst akzeptieren, dass es sinnlos ist, mir nach dem Leben zu trachten. Du hast dich übernommen. Es ist meine Welt, Seeker – du kannst von Glück sagen, dass ich dir gestatte, darin zu leben.«

Trotz seiner Worte bleibe ich ungerührt stehen. Ich stelle mir vor, wie aufregend es wäre, auf ihn zuzustürmen, die Genugtuung, ihm die Klinge mitten ins Herz zu rammen. Vorausgesetzt, er hat eines.

»Falls du es nicht kapiert hast, das ist jetzt richtig selbstlos von mir. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. Und abgesehen von diesen kleinen Entgleisungen, auf die du anscheinend bestehst, freut es mich sehr, dass du dich als wesentlich bessere Geschäftspartnerin entpuppst, als ich je erwartet hätte. Anders ausgedrückt, ich bin momentan noch nicht bereit, dich zu töten. Aber glaub mir, du merkst es, wenn ich so weit bin.«

»Vielleicht bin ja ich bereit, dich zu töten.« Meine Stimme klingt erstaunlich fest, während ich auf ihn zugehe und registriere, dass er nicht einmal ansatzweise zusammenzuckt.

»Tja, dann würde ich sagen, du stehst vor einem massiven Dilemma.« Er grinst und reibt sich demonstrativ übers Kinn, so wie Dace es oft tut. Der Anblick ist so entwaffnend, dass ich mich zwingen muss, den nächsten Schritt zu tun. »Was würdest du lieber tun, Daire ? Mich töten – oder das Leben meines Zwillings retten ?«

Da uns lediglich ein paar Schritte trennen, könnte ich die Distanz zwischen uns mit einem einzigen Satz überwinden.

»Ist deine Entscheidung.« Sein Tonfall wirkt zunehmend gelangweilt, während er eine Stelle hinter meiner Schulter fixiert und mich damit lockt, es ihm nachzutun.

Zuerst weigere ich mich, da ich es für einen Trick halte.

Doch dann höre ich ein heiseres Stöhnen – Laute von jemandem, der Schmerzen hat –, gefolgt von einem Tröpfeln von Daces gewohntem Strom warmer, liebender Energie, und sofort hebe ich das Messer hoch über den Kopf, entschlossen, zur Tat zu schreiten – Cade zu erledigen, solange die Gelegenheit günstig ist.

Ebenso schnell gebe ich die Idee wieder auf.

Ich weiß instinktiv, dass die Energie von Dace nur deshalb so schwach ist, weil seine Lebenskraft rasch dahinschwindet, sodass ich mit der Zeit, die ich brauche, um Cade zu töten, ernsthaft das Risiko eingehe, auch Dace zu verlieren.

Ich laufe zu ihm hinüber. Stelle entsetzt fest, dass man ihn quasi hier zum Sterben abgelegt hat. Sein Oberkörper ist zerfetzt und blutüberströmt, seine Hände sind von Bisswunden übersät, und einer seiner Arme steht seltsam verdreht zur Seite ab.

Ich sinke auf die Knie und ziehe ihn an mich. Der dringende Wunsch, ihn zu retten, ist mein einziger Antrieb. Das Einzige, woran ich denken kann. Das Einzige, was ich sehe.

Meine Liebe zu ihm erfüllt mich ganz.

Leider erfüllt sie auch Cade.

Lässt ihn sich wandeln. Wachsen. Seine Kleider platzen an den Nähten, während sein Körper anschwillt und sich ausdehnt – eine Verwandlung vollzieht, die ebenso spektakulär wie gruselig ist. Und ihn zu einem schuppenhäutigen, schlangenzüngigen Monstrum von dreifacher Größe macht.

Als er sich umdreht, als er die Hände seitlich hebt und seine Aufmerksamkeit auf mich richtet, dröhnt ein schauriges Grollen durchs Land. Es veranlasst Rabe, sich krächzend zum Flug zu erheben, während das Erdreich sich zu lockern und zu verschieben beginnt und alles zu einem tosenden Beben anschwillt, durch das mir Dace entgleitet.

Der Boden spaltet sich zwischen uns und lässt jeden von uns auf seiner eigenen höllischen Insel stranden. Meine Panik wird untermalt von Cades fiesem Lachen. Er wirft den Kopf in den Nacken, reißt den Mund klaffend weit auf und lässt die seelenraubenden Schlangen frei, ehe er sich in seiner ganzen Dämonenherrlichkeit mir zuwendet.

Sein Mund ist ein schartiger, obszöner Schlund aus Schlangen und Zahnfleisch. »Ich dachte, ich schüttele das Ganze mal ein bisschen durch«, sagt er. »Lockere den Turmalin auf und mache die Steine leichter auffindbar. Dabei verlieren wir zwar vielleicht ein paar Grubenarbeiter, aber das ist der Preis des Geschäfts, nicht wahr, Partnerin

Ich schaue zur Mine hinüber und sehne mich danach, irgendwie zu helfen. Ich kann ihm das nicht durchgehen lassen. Kann diese armen Menschen nicht noch mehr leiden lassen, als sie bereits gelitten haben. Doch der Spalt im Boden wird immer breiter und trennt mich weiter von Dace.

»Tot nützt du ihnen gar nichts. Mir auch nicht. Rette dich, Santos. Solange du noch kannst. Und wo du schon dabei bist, rette auch meinen Bruder. Und wenn du nächstes Mal hierherkommst, um mich zu töten, denk daran, es liegt an dir, dass ich stärker bin als du.« Ein fieses Grinsen verzerrt seine dämonische Visage noch weiter. »Apropos, vermutlich sollte ich dir für die jüngste Kraftspritze danken. Dank dir bin ich stärker denn je. Ich kann nur darüber fantasieren, was für unanständige Sachen ihr zwei zusammen getrieben habt.«

Das Beben verstärkt sich. Die Erde wankt so heftig, dass die Bäume, hinter denen ich mich zuvor versteckt hatte, abbrechen und umfallen. Als einer von ihnen beinahe Dace erschlägt, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Sprung zu ihm zu riskieren.

Mit zusammengekniffenen Augen taumele ich durch die Luft. Stoße mich heftig mit den Beinen ab, als ich mit der Stiefelspitze festen Boden spüre, doch nur kurz, bevor das Erdreich unter mir erneut bröckelt und sich lockert. Schon befinde ich mich im freien Fall und stürze in einen finsteren Schlund, in dem es nichts gibt, woran ich mich festhalten könnte.

Der Sog der Schwerkraft zieht mich nach unten, bis die Erde sich erneut verschiebt und diesmal auf mich zukommt. Rasch greife ich nach einem harten Stück fest gepackter Erde, das in ein paar Felsbrocken übergeht. Und schon bin ich hektisch auf der Suche nach Haltepunkten für Hände und Füße und arbeite mich vorsichtig nach oben.

Als ich den Absatz überwunden habe, eile ich an die Stelle, wo Dace liegt. Nachdem ich mich als Erstes vergewissert habe, dass er noch atmet, lege ich mir seinen heilen Arm über die Schulter, hieve ihn in die Höhe und zerre ihn mit mir davon, auf der Suche nach einem Ausweg.

Gehetzt von einem immer breiter werdenden Spalt hinter uns und dem Gellen von Cades Hohngelächter. »Lauf, Santos«, ruft er in gehässigem Singsang. »Lauf !«