Siebenunddreißig

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Dace

Daires Besuch war genau das, was ich brauchte.

Dass sie mithilfe des Raben vor meinem Fenster aufgetaucht ist, war nicht nur absolut genial, sondern gab mir auch den Ansporn, den ich brauche, um mich aus dem Haus zu schleichen und meinen Plan zu vollenden.

Aber zuerst muss ich an Chepi vorbeikommen. Sie ist ein gewaltiges Hindernis – eine Wächterin mit Adleraugen. Und nachdem ich sie bereits so häufig wie nur möglich nach mehr zu essen und zu trinken geschickt habe, ohne ihren Verdacht zu erregen, bleibt mir als einzige List nur eine weitere Runde vorgetäuschter Schlaf. Da sie denken soll, ich hätte mich zur Nachtruhe begeben und würde mich bis zum nächsten Morgen nicht mehr regen, ziehe ich mir die Decke über den Kopf und versuche, möglichst langsam und regelmäßig zu atmen. So verharre ich, bis sie sich schließlich entspannt und aus dem Zimmer geht.

Sowie sie weg ist, werfe ich die Decken beiseite, spähe den Flur entlang, um mich zu vergewissern, dass die Luft rein ist, und haste zur Tür. Fast bin ich am Ziel, als sie von hinten angelaufen kommt, mich am Arm packt und mich anherrscht: »Wo willst du hin ?«

Ich schließe kurz die Augen. Bin voll der Reue über das, was ich als Nächstes tue. Wünschte, es müsste nicht so ablaufen. Doch Wünschen ist zwecklos. Taten sind das, was gebraucht wird. Und ganz egal, wie sehr sie mit mir ringt, sie kann mich nicht von dem abhalten, was ich am dringendsten tun muss.

Trotzdem spreche ich in extra sanftem Tonfall mit ihr. »Ich muss raus. Du hast mich zu lange im Haus festgehalten, und ich fühle mich allmählich eingeengt. Ich muss mal in meiner Wohnung vorbeischauen und ein paar Dinge erledigen.«

Ihre Miene verfinstert sich, sodass die Fältchen auf ihrer Stirn und um ihren Mund tiefer werden und sie binnen weniger Sekunden um zehn Jahre gealtert scheint.

»Komm schon, Ma, du weißt, dass du mich nicht für immer hier im Haus festhalten kannst.« Ich trete von einem Fuß auf den anderen.

»Du willst zu ihr«, sagt sie vorwurfsvoll und mit scharfem, wissendem Blick.

»Ich weiß nicht einmal, wo sie ist.« Ich fahre mir übers Kinn, um die Lüge zu vertuschen, die jetzt kommt. »Wir haben uns seit Tagen nicht gesprochen. Aber das weißt du ja. Dafür hast du gesorgt.« Ich schlucke schwer und zwinge mich, ihrem Blick nicht auszuweichen.

Ein flüchtiger Ausdruck wandert über ihr Gesicht – eine Mischung aus Traurigkeit und Bedauern, die im Handumdrehen wieder verschwunden ist. »Du bist noch nicht ganz genesen.« Sie greift nach meinem Arm und versucht, eine Wunde zu inspizieren, die bereits verblasst ist. »Ich kann dich nicht aus dem Haus lassen, bis du wieder gesund bist. Ich habe Leftfoot versprochen, dafür zu sorgen, dass du genügend Bettruhe bekommst.«

»Du kannst Leftfoot ausrichten, dass es mir gut geht und ich vollständig geheilt bin.« Ich zerre an meinem Hemdsaum und ziehe mir das Teil über den Oberkörper, damit sie sieht, dass nicht nur die Verbände weg sind, sondern dank einer dicken Schicht von Leftfoots Kräuterpackung und ein bisschen Magie, die ich selbst gewirkt habe – und die ich lieber verschweige –, auch lediglich kaum sichtbare Spuren der Narben zurückgeblieben sind, die weiter verblassen, wenn nicht gar ganz verschwinden werden.

Ich lasse das Hemd wieder fallen und frage mich, welches Argument sie wohl als nächstes bemühen wird. Sicher kommt eines.

Ihre Sorge um meine Gesundheit weicht dem Appell: »Aber es ist doch Weihnachten !« Sie steht vor mir und lässt meinen Ärmel einfach nicht los. Jetzt spielt sie die Mom-Karte und setzt auf mein Mitgefühl. Aber heute Abend klappt das nicht. Kann nicht klappen. Ich muss hier raus. Muss mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, und zwar auf meine Art.

»Morgen ist Weihnachten. Und dann bin ich wieder da und verbringe das Fest mit dir. Ich versprech’s.« Ich beuge mich zu ihr herab, drücke ihr einen sanften Kuss auf den Kopf und schlinge meine Finger um ihre. Dann drücke ich sie vielsagend und hoffe, ihr damit das zu vermitteln, was ich mit Worten nicht zu sagen vermochte. Schließlich befreie ich meinen Arm aus ihrem Griff und trete hinaus auf die Veranda. Sie ruft mir hinterher.

Ich drehe mich um. Versuche, meinen Ärger zu verbergen, indem ich mir einschärfe, dass ihre Absichten gut sind.

»Sei vorsichtig.« Sie kommt auf mich zu und mustert mich mit kritischer Miene, während sie die Hand zu meiner Wange hebt. »Gefährde deine eigene Sicherheit nicht durch deine Fürsorge für andere. Ich brauche dich hier.«

Ich schließe kurz die Augen und schicke ihr eine stille Entschuldigung für den Schmerz, den ich ihr vielleicht zufügen muss. Doch als mein Blick ihrem begegnet, sage ich nur: »Gute Nacht, Mutter.«

Es ist unnötig, sie noch mehr zu beunruhigen.

Unnötig, ihr mitzuteilen, dass ich mich in den letzten Tagen, die ich abgekapselt in meinem Zimmer verbracht habe, nicht ausschließlich auf meine Genesung konzentriert habe.

Sie steht auf der Schwelle, eine Hand aufs Herz gepresst. Das helle Licht aus der Lampe über ihr fällt sachte über sie und hüllt sie in einen schimmernden Schleier aus weißem Licht, der sie wie einen Engel oder eine Heilige erstrahlen lässt.

Ihre gequälte Miene ist das Letzte, was ich sehe, ehe ich in meinen Pick-up steige und langsam zur Straße hinausrolle. Bereit, meine frisch geschliffenen Fertigkeiten auf die Probe zu stellen.