Vierundvierzig
Daire
Ich komme rollend zum Stillstand, nicht weit vom Bergwerk entfernt.
Es ist das erste Mal, dass ich eine solche Punktlandung schaffe.
Das erste Mal, dass ich es geschafft habe, einen Ankunftspunkt zu bestimmen und dann tatsächlich dort herauszukommen.
Zweifellos ein gutes Omen.
Ich hoffe, dass noch mehr in der Art folgt.
Geduckt halte ich mich zum Einsatz bereit. Ich brauche einen Moment, um mich an den Rhythmus der Erde anzupassen, die gefährlich unter mir schwankt – eine lange Reihe von rasch aufeinander folgenden Nachbeben. Doch zum Glück lässt ihre Intensität mit jedem davon nach.
Das zweite gute Omen ?
Ich nehme, was ich kriegen kann.
Ein Crescendo von Schreien dringt aus dem Bergwerk. Die Gefangenen, offenbar nicht mehr von den Richters eingelullt, versammeln sich am Ausgang des Schachts und versuchen freizukommen. Ihre Leiber drängen gegen das Heer untoter Wächter, die sich schwer gegen sie stemmen und sie wieder hineinpressen.
Mein Blick rast zwischen ihnen hin und her, auf der Suche nach Cade, doch als ich ihn nirgends entdecke, schiebe ich mir das Athame in die Faust und gehe weiter.
Obwohl alles gegen mich spricht – obwohl ich ganz allein bin und sie unzählige sind –, bin ich irgendwie in ein sonderbares Gefühl der Ruhe gehüllt, dem jeder Anflug von Furcht fernliegt.
Dies ist der Moment, in dem sich Theorie und Praxis endlich vereinigen, nachdem sie sich monatelang nur keusch getroffen haben.
Dies ist meine Chance, all die Fertigkeiten einzusetzen, die mich Paloma gelehrt hat.
Dies ist meine Chance, meine Bestimmung zu erfüllen.
Ich krieche mit so langsamen, so verstohlenen Bewegungen auf die Richters zu, dass sie von meiner Anwesenheit nichts mitbekommen. Dabei denke ich an das, was mir Paloma gesagt hat, dass der einzige Weg, die Welt von ihnen zu befreien, sie in ihre Nachleben zurückzuschicken, darin besteht, ihnen entweder die Köpfe abzuschneiden oder sie sauber in zwei Hälften zu zerteilen.
Das klingt einfach in der Theorie, aber wenn man ihre schiere Anzahl in Betracht zieht, kann ich es wohl nur schaffen, wenn ich mich weniger auf die Tat an sich und mehr auf das Endergebnis konzentriere. Sie mir in kopflosen Häufen überall um mich herum vorstelle. Es so sehe, als wäre bereits alles erledigt.
Das Bild in meinem Kopf fest verankert, reibe ich die Lippen aneinander, umfasse das Messer fester und springe den ersten an. Verblüfft, wie leicht ich ihn zu fassen kriege.
Doch andererseits hat er mich nicht kommen sehen. Nicht gespürt, dass ich mich von hinten an ihn angeschlichen habe, das Messer griffbereit in der Hand.
Er begreift gar nicht, wie ihm geschieht, bis das rasiermesserscharfe Athame bis zum Heft in ihn eindringt. Und obwohl er sich zu wehren versucht, ist es zu spät. Ich greife ihm bereits an den Hals und mache mich daran, ihm den Kopf abzutrennen.
Er bricht zu meinen Füßen zusammen, und sein erbärmliches Röcheln verklingt unter dem Lärm und dem Chaos, sodass niemand etwas mitbekommt.
Blut gibt es erstaunlich wenig. Anscheinend war er einer der Älteren – nach dem Haufen Knochen und Staub zu urteilen, das von ihm übrig bleibt. Doch das kleine Stückchen Seele, das einst dazu diente, ihn wiederzubeleben, schwebt kurz über ihm, als probierte es die Grenzen seiner Freiheit aus, ehe es durch den Himmel saust.
Es ist ein sagenhafter Anblick, den ich mir jedoch nur kurz gönne. Rasch ziehe ich zum nächsten weiter. Erneut stelle ich mir die Tat als bereits vollzogen vor, ramme ihm die Klinge tief ins Rückgrat und säge in einer geraden Linie entlang. Obwohl sich dies als effektive Tötungsmethode erweist, hat Paloma leider zu erwähnen vergessen, dass es ihnen auch ermöglicht, zu schreien und zu brüllen und die anderen zu warnen.
Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal.
Enthauptung ist eindeutig der bessere Weg.
Unter den Augen zahlloser untoter Richters halte ich kurz inne, um zu lächeln und zu winken.
Obwohl es mir lieber gewesen wäre, ich hätte noch ein paar mehr gemeuchelt, bevor es so weit kommt, habe ich es doch geschafft, sie genau dorthin zu kriegen, wo ich sie haben will: auf mich fixiert statt auf das Bergwerk. Was es im Gegenzug einigen der gefangenen Arbeiter ermöglicht zu entweichen.
Die erste Reaktion der Richters besteht darin, einen wütenden Chor aus bedrohlichen Schreien und Knurrlauten anzustimmen. Doch trotz ihres zur Schau gestellten Wagemuts dauert es eine Weile, bis sie sich organisiert und an die schlagartig gewandelte Situation angepasst haben. Sie sind es derart gewohnt, Befehle von Cade zu befolgen, dass ihnen selbstständiges Handeln völlig fremd ist.
Egal. Ich halte mich im Hintergrund und bleibe, wo ich bin. Ich bin bereit, hier zu warten, bis sie sich wieder sortiert haben, da ich weiß, dass jede Sekunde der Verzögerung mehr Menschen die Flucht ermöglicht. Außerdem ist es nicht nötig, mich auf sie zu stürzen, da sie doch schon bald zu mir kommen werden.
Ich halte das Athame in einer Hand und reibe mit der Klinge über mein Jeansbein, wobei ich unbeteiligt auf die dicke Schleimschicht blicke, die davon abfällt, während ich mit der anderen Hand meinen Beutel umfasst halte. Ich rufe die Elemente an, meine Ahnen und den letzten Rest an Güte, der noch in unseren Geisttieren enthalten ist, und erweise dem Wissen meiner Vorfahren, das tief in mir lebt und in meinen Adern pulsiert, die Reverenz.
Das Blut von Valentina, Esperanto, Piann, Mayra, Diego, Gabriela, Paloma, Alejandro und Django – all die Suchenden, die so große Opfer gebracht haben, damit ich hier sein kann. Die sich dem Antlitz des Bösen gestellt haben, damit andere ihr Leben in relativem Frieden führen konnten.
Wenn so viele auf mich zählen, kann ich sie nicht im Stich lassen.
Als der größte der Untoten auf mich losgeht, ist klar, dass er von nichts anderem als von rasender Wut angetrieben wird. Er erinnert mich daran, wie ich früher immer agiert habe, ehe Chay mich darauf aufmerksam machte, wie absolut idiotisch das war, und mich warnte, dass ungezügelte Emotionen ohne die Kraft, sie zu stützen, ein sicherer Weg sind, den Tod zu finden.
Zu meinem Glück habe ich auf ihn gehört. Ich bin nicht mehr das Mädchen von einst.
Zum Pech für den untoten Richter hat er Chay nie kennengelernt.
Er geht mit glühenden Augen und einem Kriegsschrei auf mich los – die Hände zu Fäusten geballt, die wild umherschwingen. Und obwohl es auf den ersten Blick ganz schön beeindruckend wirkt, habe ich ihn schon im nächsten Moment gepackt und ihm den Arm umgedreht, bis er bricht. Ohne zu zögern, ziehe ich ihm mein Athame sauber über den Hals und sehe zu, wie sein Körper getrennt vom Kopf zu Boden fällt.
Ich warte darauf, dass er zerfällt. Doch als er in einer dicken, schwarzen, zähflüssigen Masse, die ihm aus dem Halsstumpf sickert, ausblutet, nehme ich an, dass er erst seit viel kürzerer Zeit tot war als der letzte.
Ich trete ihn beiseite und warte auf den nächsten Ansturm. Bestimmt wird einer kommen. Sich zu ergeben ist das Letzte, was ihnen einfällt.
Die Gruppe ist schlauer und sammelt erst einmal Äxte und Pickel zusammen, um sich gegen mich zur Wehr zu setzen. Sie kommen nicht sehr weit, da ich ihnen alles wieder abnehme. Ich benutze meine Gabe der Telekinese und lasse mir von meinem Element Wind helfen, um sie zu entwaffnen – einen nach dem anderen metzele ich nieder. Zwischendurch werfe ich immer wieder einen Blick auf das Bergwerk und stelle erleichtert fest, dass es nach wie vor unbewacht ist. Die Gefangenen fliehen weiter, während ich einen Richter nach dem anderen töte.
Sowie diese Gruppe ausgelöscht ist, fallen die übrigen Richters in einem Schwall aus untotem Gestank, fauligem Atem, knirschenden Zähnen und tretenden Füßen über mich her. Und zu ihrer Überraschung wehre ich mich nicht.
Ich kämpfe nicht gegen sie an.
Ich stehe locker vor ihnen, den Kopf erhoben, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, und nehme an, was immer sie mir zufügen.
Lasse mich von ihnen auf die Knie zwingen. Mir das Gesicht in den Staub drücken. Ich bekomme Stücke verbrannter Erde in die Nase, als sie mich beißen, boxen, brutal über mich herfallen – während ich mir sage, dass ich es verdient habe.
Dass es das ist, was ich für die zahlreichen Versäumnisse bekomme, die zu so viel Elend und Zerstörung geführt haben.
Diese Faust in meinem Magen ist für all jene, die sinnlos im Bergwerk umgekommen sind.
Diese Klauen, die an meinem Skalp reißen, sind für jene, die gelitten haben, weil ich nicht dazu imstande war, Palomas Seele zu opfern.
Während der Fuß, der mich immer wieder in den Rücken tritt, meinem Versäumnis gilt, meine Liebe zu Dace aufzugeben.
Meine Haut platzt auf, lässt Ströme von Blut aus meinen Wunden fließen, während mein Inneres klappert und knirscht und meine Augen von Tränen überquellen – doch die Tränen sind nicht für mich. Sie sind für alle, die ich im Stich gelassen habe, indem ich mich von der Liebe habe beherrschen lassen.
Das Problem ist – der Schmerz und die Bestrafung, die ich suche, treffen nie ein.
Die Erleichterung, die ich mit jedem Schlag zu spüren erwartet habe, bleibt ebenso aus.
Trotz des Sperrfeuers aus Fäusten, das auf mich herabregnet, empfinde ich kaum etwas.
Du kannst nie zu krank, zu arm oder zu geschlagen sein, um jenen zu helfen, denen es schlechter geht als dir. Der einzige Weg, anderen mehr Macht zu verschaffen, ist, dir selbst mehr Macht zu verschaffen. Entschuldige dich nie für die Gaben, die dir geschenkt wurden. Bestraf dich nie für deine Fähigkeit zu lieben. Liebe ist nie ein Fehler – sie ist der Inbegriff der Gnade – der höchsten Macht von allen. Sie ist das Einzige, was uns aus der Finsternis heraus und ins Licht führen wird …
Die Stimme gehört Valentina. Und obwohl ich eigentlich vorhatte, mich noch ein bisschen länger von ihnen schlagen zu lassen, ehe ich ihnen wieder die Köpfe abschneide und sie in Stücke reiße, begreife ich, dass sie recht hat.
Erlösung kann nie auf diese Art errungen werden.
Der beste Weg, meine Versäumnisse wiedergutzumachen, besteht darin, die Welt von diesen übel riechenden, hasserfüllten, bösartigen Richters zu befreien.
Und dann erhebe ich mich.
Ich schwinge das Athame vor mir, als dirigierte ich eine herrliche Symphonie, die nur ich hören kann. Ich trenne einen Kopf nach dem anderen ab, ramme die Knöchel immer wieder in totes, verdorbenes Fleisch, während die Leichen links und rechts von mir zu Boden gehen. Ich bin so versunken in die Melodie, dass ich es kaum bemerke, als die Musik verstummt und kein einziger Tanzpartner mehr übrig ist.
Ich dresche weiter auf die Leichen ein, zertrümmere die Skelette in winzig kleine Teilchen. Mache es ihnen unmöglich, jemals wieder zum Leben erweckt zu werden, indem ich dafür sorge, dass ihre Überreste an einen Ort zurückkehren, den sie nie hätten verlassen sollen.
Als es vorbei ist, stecke ich mein Athame weg, wische mir die Stirn und hebe den Blick zum Himmel, wo ich verblüfft die Konstellation hell leuchtender Seelen über mir glitzern sehe. Sie blinken, kreisen, blitzen und wirbeln rasant umher – losgelöst und frei. Kurz schweben sie über mir, damit ich sie sehe, sie würdige, ehe sie außer Sichtweite verschwinden und nach Hause fliegen.
Dann senke ich den Blick zu dem Haufen von Überresten zu meinen Füßen und staune darüber, dass alles genauso aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Und während ich mir den Weg durch sie hindurchbahne, stelle ich verblüfft fest, dass ich mehr Wandel herbeigeführt habe, als ich je für möglich gehalten hätte.
Mit jedem gefällten Richter, mit jeder befreiten Seele hat die Unterwelt einen gigantischen Sprung hin zu ihrer eigenen Heilung getan. Stellen mit ehedem abgestorbenem Gras sprießen jetzt zu üppigen, samtigen Wiesen, während die ausgehöhlten Bäume, einst gebeugt wie alte Tattergreise, sich nach und nach recken und aufrichten, als wollten sie ihre Äste ermuntern, einen langen, kräftezehrenden Winter abzuschütteln.
Und es dauert nicht lange, da wagen sich auch die Tiere wieder aus ihren Verstecken. Waschbär, Rotfuchs, Polarwolf, Wildkatze, Affe, Eichhörnchen, Jaguar, Bär, Löwe, Fledermaus, Opossum, Kolibri, Adler – ja, selbst Pferd und Rabe kommen heraus, um mich zu begrüßen.
Ihre glücklich leuchtenden Augen liefern mir den schlagenden Beweis dafür, dass mit der endgültigen Vertreibung der Richters der Fluch aufgehoben ist.
Die Unterwelt blüht wieder auf.
Ich halte auf die Mine zu und vergewissere mich, dass sie geräumt ist, bevor ich mich nach den Verletzten umsehe und feststelle, dass die Lage zwar nicht annähernd so schlimm ist, wie ich fürchtete, aber auch noch lange nicht gut.
Außerstande, mich um sie alle zu kümmern, wende ich mich Hilfe suchend an die Tiere. Ich geselle diejenigen, die nicht gehen können, zu den größeren, stärkeren wie Pferd, Bär und Jaguar, während der Rest dem von Adler und Fledermaus, die über uns fliegen, vorgegebenen Weg folgt.
Indem ich darauf vertraue, dass die Stammesältesten ihren Anteil übernehmen, ihre Magie einsetzen werden und dabei wachsam für die Signale bleiben, die sie zu der Menge führen, die schon bald am Portal der verkrümmten Wacholderbäume eintreffen wird, verabschiede ich mich. Geleitet von Rabe, der vor mir herfliegt, und dem Flüstern des Windes, der mir wie eine Feder über die Haut wirbelt, mache ich mich auf die Suche nach Cade.