Fünfunddreißig
Dace
Ich erwache und habe keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war.
Ich weiß nur, dass es schlimm gewesen sein muss, falls ich aus dem schweren Dunst aus Räucherwerk und Kerzen irgendetwas schließen darf.
Chepi ist als Erste bei mir. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass sie die ganze Zeit da gewesen ist. Nie wirklich weg war. Ihr verhärmtes, tränenüberströmtes Gesicht schwebt über meinem, während sie mir mit der einen Hand das Haar aus der Stirn streicht und mit der anderen ein durchweichtes Taschentuch umklammert, das sie sich fest an die Brust presst. Leise murmelt sie Worte des Dankes und der Erleichterung – ich soll wissen, wie sehr sie mich liebt, wie sehr sie für mich gebetet hat, dass Jolons Geist mir beigestanden hat –, bis Leftfoot sie beiseiteschiebt und an ihre Stelle tritt.
Seine eigenen Dienste sind nicht annähernd so liebevoll. »Ich dachte wirklich, du seist tot, als du hier angekommen bist«, sagt er barsch.
Ich will etwas erwidern, doch mein Mund ist so trocken, dass ich die Zunge nur gewaltsam von den Zähnen lösen kann. »Sind das dann also Totenkerzen ?«, krächze ich mit heiserer Stimme.
»Du kannst es dir nicht leisten, Witze zu machen.« Er runzelt die Stirn. »Du hast keine Ahnung, wie schlecht es dir geht. Aber die Heilkräuter, die ich dir gegeben habe, lassen schon bald in ihrer Wirkung nach, dann wirst du es schlagartig begreifen.«
Ich schließe die Augen und versuche mühsam, mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Mein Verstand braucht ein paar Sekunden zum Warmlaufen, zum Wachwerden und dazu, die nebulösen Reste einer entfernten Erinnerung auszugraben. Einen Augenblick später, als mich die Szene in all ihrer schaurigen Detailfülle überfällt, wünsche ich nur noch, ich wäre klug genug gewesen, alles im Dunkeln zu lassen.
Die höllische Begegnung entfaltet sich munter in meinem Kopf, schwelgt in der Szene, als mich Daire regelrecht aus der Unterwelt herauszerren musste. Gnadenlos läuft sie wieder und wieder ab, wenn auch nur, um mich zu quälen.
Gedemütigt ist gar kein Ausdruck dafür.
Erniedrigt trifft es auch nicht.
Es gibt kein Wort, das angemessen beschreiben würde, wie ich mich fühle.
Doch eine Frage bleibt bestehen: Ist sie hier ?
Ich versuche mich aufzusetzen, da ich sie unbedingt sehen will. Werde aufgehalten von dem stechenden Schmerz in meiner Seite und Leftfoots Hand, die mich auf die Matratze zurückstößt.
»Wo ist sie ?« Ich presse die Frage zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Leftfoot hatte recht – die Wirkung der Kräuter lässt allmählich nach.
Im nächsten Moment steht Daire neben mir. Ihre Haare sind vom Wind zerzaust, ihre Kleider verschmiert und blutbefleckt. Trotzdem sind ihre Wangen unter der Schmutzschicht rosig angelaufen, in ihren Augen leuchtet die Hoffnung, und für mich war sie nie schöner. Nie war ich glücklicher, sie zu sehen.
»Ich bin da – ich bin immer da«, flüstert sie, wobei ihre Worte nur für meine Ohren bestimmt sind.
Doch als sie sich auf die Lippen beißt und mir vorsichtig über die Wange streicht, muss ich schnell die Augen schließen und mich abwenden. Dabei denke ich, wie abstoßend ich auf sie wirken muss.
Geschlagen.
Gebrochen.
Besiegt und schwach.
Jemand, den sie retten musste.
Weit weg von dem Helden, der ich sein wollte.
Und Leftfoot ist nicht gerade daran interessiert, mein Ego zu schonen. Er hat mehr als deutlich gesagt, was er von meinem Stolz hält.
»Wie oft muss ich dich wohl noch zusammenflicken, bis es nichts mehr zu flicken gibt ?« Er murrt weiter vor sich hin, während er Chay bedeutet, ihm dabei zu helfen, mich aufzusetzen.
Ich wappne mich gegen den Schmerz, aber vor allem ist es mir peinlich, dass Daire mich so sieht.
»Wir müssen dir das Hemd ausziehen«, befiehlt Leftfoot. »Oder vielmehr das, was noch davon übrig ist. Du warst in derart schlechter Verfassung, als sie dich hergebracht hat, dass ich dich nur notdürftig verarzten konnte. Ich hatte Angst, jeder weitere Eingriff würde dir den Rest geben. Aber jetzt, wo es wieder bergauf geht, ist es an der Zeit, dich zu behandeln.« Mein Zögern und der verstohlene Blick, den ich Daire zuwerfe, bleiben ihm nicht verborgen. »Sie ist die ganze Zeit dabei gewesen«, sagt er. »Es gibt nichts, was sie nicht schon gesehen hätte.«
Daire läuft rot an und wendet den Blick ab, während Leftfoot ein rotes Tuch aus der Schublade zieht, es mir hinhält und sagt: »Hier, beiß da drauf. Du wirst es brauchen.«
Ich wende ablehnend den Kopf zur Seite. Mein Blick wandert von Chay zu Chepi, zu Daires Hinterkopf und wieder zurück zu Leftfoot. Es gibt nichts Entmannenderes als ein Zimmer voller Stammesältester, die mich vor meiner Freundin aburteilen. Da muss ich mich wenigstens hart im Nehmen zeigen und den Schnuller zurückweisen.
»Ist deine Sache«, sagt Leftfoot, der mich nie zu etwas zwingen würde, auch wenn er mein Benehmen noch so idiotisch findet. »Du kannst von Glück sagen, dass er nur ausgekugelt ist und nicht gebrochen. Brüche brauchen länger zum Heilen.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und packt mit der anderen meinen Arm. Leise singt er einen seiner Heilgesänge, zieht mit enormer Kraft an meinem Arm und bringt das Gelenk wieder in die richtige Position.
Das ruckartige Aufeinandertreffen von Knochen auf Knochen löst einen derartigen Schmerz aus, dass ich mich krampfhaft auf die Nische voller hölzerner Santos auf der anderen Seite konzentrieren muss. Ich ringe den Schrei nieder, der in meiner Kehle aufwallt, und kämpfe wie ein Berserker, um ihn nicht herauszulassen.
Nicht so.
Nicht vor Daire.
Allerdings kann ich nichts gegen die Sterne tun, die grell blitzend vor mir herumwirbeln.
»Komisch, ich fühle mich gar nicht wie ein solcher Glückspilz«, presse ich zwischen den Zähnen hervor, während ich darum ringe, gleichmäßig zu atmen und mich unter Kontrolle zu bringen.
»Und jetzt … die Wunden.« Leftfoot zieht mir den blutverkrusteten Schlüssel von der Brust. Er inspiziert ihn gründlich und wirft Daire einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann löst er den Verbandmull mitsamt der Kompresse, die mich zusammengehalten haben wie eine Mumie, damit er mein zerfetztes und zerbissenes Fleisch besser untersuchen kann.
Beim Anblick meiner Wunden beginnt Chepi sofort, in ihr bereits völlig durchweichtes Taschentuch zu schluchzen, während Daire mit schuldbewusster Miene zusieht.
Es ist ein Blick, den ich nicht ertrage.
Ein Blick, der beweist, wie sehr ich sie im Stich gelassen habe.
»Es war ein Glück, dass Chay euch gefunden hat«, sagt Leftfoot.
»Wie hast du uns denn gefunden ? Woher hast du gewusst, wo du suchen musst ?«, frage ich, da ich mich nicht an Einzelheiten erinnern kann.
»Intuition.« Chay richtet seine Worte direkt an mich, doch sein Blick bleibt weiter an Leftfoot haften. »Ich war reiten, als wir ein kleines Erdbeben hatten, und da hab ich mich instinktiv zum Portal aufgemacht, weil ich gespürt habe, dass das keine normalen Erdbewegungen sind. Ich bin erst ein paar Minuten dort gewesen, als ihr beiden aufgetaucht seid.«
»Was habt ihr denn dort gewollt ?«, fragt Chepi.
Daire und ich wechseln einen Blick. Ich habe keine Ahnung, was sie den anderen erzählt hat, also umgehe ich die Frage und berichte ihnen stattdessen von der Mine. Erkläre deren Verbindung mit den vielen verschwundenen Personen, von denen mir Leftfoot berichtet hat.
Ich bin froh, mich auf etwas anderes konzentrieren zu können als auf das heftige Brennen der Tinkturen, mit denen Leftfoot meine Wunden sterilisiert, ehe er sie näht und mich mit mehreren Lagen Verbandmull und Kräutern erneut in eine Mumie verwandelt.
Als er fertig ist, wirft er mir ein sauberes Hemd zu, weist mich an, mich anzuziehen, und muss mir auch noch dabei helfen. Als wäre ich für einen Tag nicht schon genug entmannt worden.
Dann wendet er sich an Chepi. »Bring ihn nach Hause. Damit er gesund wird, muss er strenge Bettruhe halten.« Seine nächsten Worte gelten Daire. »Chay kann dich bei Paloma absetzen. Höchste Zeit, dass ihr zwei euch voneinander fernhaltet. Und zwar endgültig. Ich garantiere euch, beim nächsten Mal kommt ihr nicht mehr so glimpflich davon.«