Nachruf auf Grappa

Es dauerte noch zwei weitere Tage, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte. Die Erinnerungslücken blieben. Ich sollte mich daheim schonen, doch mir wurde bald langweilig. Die Polizei hatte Klara Billerbeck und Annabell Stickel nicht finden können. Die Fahndung lief.

Ich bat Pöppelbaum um einen Hausbesuch. Er brachte ein Tageblatt mit, das er mir grinsend auf den Tisch legte.

»Lies mal, wie lieb wir dich alle haben.«

Schnack hatte tatsächlich einen Artikel über mein Verschwinden geschrieben – und zwar in einem Ton, als sei ich seine wertvollste Mitarbeiterin.

 

TAGEBLATT-REPORTERIN VERSCHWUNDEN – WO IST MARIA GRAPPA?

Sie recherchierte die heißesten Storys, hatte vor nichts und niemandem Angst und arbeitete für unsere Zeitung wieder an zwei wichtigen Fällen: der Entführung von Pitt Brett, dem Pop-Titanen, und dem Mord an Robert Fuchs, dem Thetanen der Kirche der Erleuchteten. Keinen der beiden Fälle konnte die Polizei bisher zur Aufklärung bringen. Jetzt fragen wir uns: War Maria Grappa näher an der Auflösung der Fälle als die Polizei? Ist sie deshalb verschwunden? Hat man die emsige Reporterin schachmatt gesetzt? Die Kollegen der Redaktion sind voller Sorge: Wann kommst du wieder, Maria Grappa?

 

»Früher, als ihm lieb ist«, grinste ich.

»Er hat dich als emsige Reporterin bezeichnet«, frotzelte Wayne. »Ist das ein Kompliment oder ironisch gemeint?«

»Ironie kann der Schnack nicht«, meinte ich.

»Wurbelchen ging übrigens schon davon aus, dass du den Löffel abgegeben hast«, berichtete der Bluthund weiter. »Und Bärchen Biber wollte bereits den Nachruf auf dich verfassen. Aber das hat Schnack abgebogen und zur Chefsache erklärt.«

»Spätestens bei Erscheinen eines Nachrufs wäre ich wieder lebendig geworden. Es ist sowieso wie bei Mark Twain: Die Nachricht von meinem Ableben ist eine grobe Übertreibung. Leider habe ich euch den Gefallen noch nicht getan.«

»Du warst ziemlich schräg drauf an dem Abend«, wechselte Wayne das Thema. »Ich hab dich ja noch angerufen.«

»Wann hast du mich angerufen?«

»Na, an dem Abend, an dem du verschwunden bist, Grappa. Du warst total albern und schienst dich köstlich zu amüsieren. Ich dachte, dein Lieblingsbulle kitzelt dich grad durch oder so.« Er lachte ziemlich frech.

»Wayne! Das waren die Drogen!«

»Heute weiß ich das auch, Grappa-Baby! Eins ist klar, oder? Die beiden Frauen hätten dich ganz leicht umbringen können. Die wollten nur Zeit gewinnen, um sich abzusetzen.«

Das Handy klingelte. Der neue OB von Bierstadt, mein Exchef Peter, war dran.

»Ich wusste, dass du wieder auftauchst, Grappa. Das habe ich Dr. Schnack auch gesagt. Er hat mich angerufen.«

»Warum das? Hat er gedacht, ich hätte im OB-Büro Zuflucht gesucht?«

Jansen lachte. »Das nicht. Er brauchte Informationen über dich. Für den Nachruf. Und da ich dich besser kenne als er, hat er mich angesprochen.«

»Ich hoffe, du hast ihm nur Gutes über mich erzählt.«

»Klar, Grappa-Baby. Ich kenne dich ja nur von deiner Schokoladenseite. Deine liebenswerte Art, mit Chefs umzugehen, hat er inzwischen ja schon am eigenen Leib erlebt.«

Wir lachten.

»Du klingst schon wieder wie du selbst«, verabschiedete sich Jansen. »Schön, dass es dir wieder gut geht.«

Noch immer hörte ich die Geräusche leicht verfremdet – wie durch einen Wattevorhang.

»Ich kann nicht still hier rumsitzen und nichts tun«, sagte ich. »Ich hab eine Idee. Machst du mit, Wayne?«

»Kommt drauf an. Was hast du vor?«

»Ich will meine Erinnerung zurück«, erklärte ich.

»Wie soll das gehen?«

»Lass uns zu Stickels Wohnung fahren. Vielleicht fällt mir ein, was dort passiert ist.«

»Soll ich die Tür auftreten?«

»Ich weiß jemanden, der sie uns aufschließt«, lächelte ich.

 

Kleist stimmte dem Experiment zu und wir trafen uns vor dem Haus, in dem Stickel gewohnt hatte. »Ich hab Klara am Fenster gesehen, hab geklingelt und bin hoch. Mehr weiß ich nicht.«

Kleist schloss auf und wir betraten die Wohnung.

»Es ist noch alles so, wie wir es vorgefunden haben«, erklärte der Hauptkommissar. Einige Sachen lagen so herum, als sei die Wohnung überstürzt verlassen worden. »Erkennst du etwas wieder?«

»Nee. Ich muss das erst mal wirken lassen.«

Die Männer hielten sich im Hintergrund, während ich durch das Wohnzimmer streifte. Drei Gläser standen auf dem Couchtisch. Für Annabell, Klara und mich?

»Wir haben die Gläser untersucht«, meinte Kleist, der meinen Blick verfolgt hatte. »Ja, das sind eure Gläser. Wir haben sie zurückgestellt. Wegen der Rekonstruktion. Übrigens keine Spur von irgendwelchen Drogen – falls man Martini nicht als Droge bezeichnet.«

»Eher als Hustensaft«, nickte ich.

Pöppelbaum reichte Kleist einige bunte Prospekte. »Das sind ja Reiseprospekte, Ziel Florida. Clearwater.«

Hatten sich Stickel und Billerbeck in die Heimat der Erleuchteten abgesetzt? Ich machte eine mentale Notiz.

Zwischen den Gläsern lag eine Fernsehzeitschrift. Sie war aufgeschlagen und zeigte das Programm des Tages, an dem ich gekidnappt worden war. Ich nahm sie und überflog die Ankündigungen. »Hier!«, sagte ich. »Da ist etwas. Diese Musik hab ich gehört, als ich im Krankenhaus aufwachte.«

Ich deutete auf die Stelle in der Fernsehzeitschrift, die das ARTE-Programm zeigte. »Dido und Aeneas – eine Oper von Henry Purcell. Die Arie geht mir nicht mehr aus dem Kopf! Also muss ich in dieser Wohnung gewesen sein, während das im Fernsehen lief.«

»Maria – da ist noch was. Setz dich mal hin.« Kleist wurde plötzlich sehr ernst. »Der Hähnchenknochen ist keiner.«

Gespannt blickte ich ihn an.

Er fuhr fort: »Es ist der Mittelhandknochen eines Menschen. Ein Baby.«

Mir wurde schlecht. Gut, dass ich saß.

Kleist fuhr fort: »Es gab Anhaftungen an dem Knochen. Samenteile einer Orchidee namens Angraecum sesquipedale. Wir müssen jetzt deinen Traumgarten finden. Unbedingt. Vermutlich ein Garten mit tropischen Pflanzen. Oder ein Gewächshaus. Morgen nehmen wir den Erleuchteten die Bude auseinander. Ich will wissen, wo der Knochen herkommt.«