Jackos Schwester und ganz viele Pailletten

Das Casting wurde nicht live ausgestrahlt, sondern zeitnah zum Sendetermin aufgezeichnet. Klar, nicht alle Kandidaten konnten gezeigt werden – der Sender entschied sich für die ganz schlechten, die Fremdschämen und harte Sprüche von Pitt Brett garantierten, und die wenigen, die wenigstens so singen konnten, dass die Zuhörer nicht gleich ins Wachkoma fielen.

Die Jury bestand aus drei Experten. Pitt Brett war seit Beginn der Serie dabei, garniert von weniger bekannten Größen aus dem Showbusiness. Diesmal waren es eine brasilianische Sängerin, die aussah wie die Zwillingsschwester von Michael Jackson, und ein singender Schönling, der in einer Boygroup trällerte.

In der Halle war es wuselig. Die Kandidaten warteten in einem Vorraum, hermetisch abgetrennt von der Jury. Überall Kameraleute, Maskenbildnerinnen und Gott-weiß-was-noch-für-Personen.

Birsen wurde von ihrer Mutter begleitet – einer kleinen Person mit Kopftuch. Sie wirkte völlig verloren in dieser Hektik. Ihre Tochter übte Tanzschritte – oder das, was sie dafür hielt. Birsen hatte ihre natürliche Schönheit mit Pfunden von Schminke und Augen-Make-up verdeckt. Sie sah nicht mehr aus wie sechzehn, sondern wie dreißig. Ihre Brüste hatte sie nach oben geschnürt, das Paillettenkleid endete kurz unter der Scham und die Stilettos eigneten sich als Stichwaffen.

Birsens Mutter vermied den Blick auf ihre aufgemotzte Tochter.

Pöppelbaum sah mich an und verdrehte die Augen. Ich wusste, was er dachte.

»Da musst du durch«, sagte ich. »Knips alles, was sich bewegt …«

»… und das, was sich nicht mehr bewegt. Klar, Grappa!«, vollendete er den Satz. »Am besten, wenn der Brett was auf die Mappe kriegt wegen seiner frechen Schnauze.«

Birsen unterbrach ihre Tanzübungen und posierte für Wayne.

»Was wirst du singen, Birsen?«, erkundigte ich mich.

»Das von der Ballermann. Es tut ja so doll weh, wenn ich dich mal seh …«

»Kannst du nur dieses eine Lied?«, fragte ich. »Manchmal will Brett ja noch was Englisches hören.«

»Ich kann nur das. Was willst du überhaupt? Ich bin schon aufgeregt genug. Und jetzt muss ich mich konzentrieren, menno.«

Sie zappelte wieder los.

Frustriert suchte ich mir einen guten Platz vor dem Monitor, auf dem das übertragen wurde, was sich im Juryraum abspielte.

»Noch fünf Minuten bis zur Aufzeichnung«, meldete eine Mikrofonstimme. »Kandidat eins bitte fertig machen. Und los!«

Ein pickeliger Junge mit einer umgedrehten Baseballmütze auf dem Kopf tänzelte zur Tür, die in den Juryraum führte. Sein Hosenboden hing fast in den Kniekehlen. Wayne belehrte mich, dass die Kids die Jeans jetzt so trugen und das für megacool hielten.

Der riesige Monitor zeigte den Jungen vor der Jury. Pitt Brett trug einen weißen Anzug mit glitzernden Pailletten, die Brasilianerin war tief dekolletiert und der Boygroup-Sänger hatte seinen Body in ein grell bedrucktes T-Shirt gepresst.

Das alles interessierte mich nicht. Schnell rechnete ich nach, wie viele Jahre ich noch bis zur Rente hatte. Zu viele. Mein Frust nahm zu.

Der Bengel versuchte zu singen. Es hörte sich grauenhaft an.

Pitt Brett und die anderen Mitglieder der Jury schienen mindestens so frustriert zu sein wie ich.

»Dein Gesang hat die Intensität von einem Flohrülpser!«, polterte Brett. »Aber eins muss ich dir sagen … Du hast eine gute Treffsicherheit beim Danebensingen.«

»Wieso glaubst du, dass du singen kannst?«, fragte das weibliche Jurymitglied. »Schaust du nicht mal Videoclips an oder so?«

»Ich singe ja nicht für mich«, bekannte der Junge. »Sondern für meinen Papa.«

»Was ist mit deinem Vater?«

Wayne hatte sich neben mir niedergelassen. »Gleich kommt die Geschichte mit der Krebskrankheit, wetten?«, raunte er.

»Mein Vater ist unheilbar krebskrank«, schluchzte der Kandidat.

»Und deshalb legst du uns hier so ’ne Scheiße hin?«, polterte Brett. »Hat dein Vater dich denn schon mal singen gehört?«

Bubi nickte.

»Das solltest du ihm nicht antun«, meinte Brett. »Dein Gesang ist aktive Sterbehilfe. Von mir kriegst du ein fettes Nein. Aber so was von.«

Auch die beiden anderen Juroren hatten kein Ja zu verteilen. Der Kandidat zog davon wie ein geprügelter Hund.

Im Aufenthaltsraum schleppte sich der Junge auf ein Sofa und ließ sich fallen. Eine Reporterin, gefolgt von einem Kameramann, stürzte auf ihn zu: »Hat wohl nicht so gut geklappt, oder? Was hat Pitt gesagt?«

Der Kandidat begann zu schluchzen. Die Kamera fing alles ein.

»Was hat er denn gesagt?«, hakte die Reporterin nach.

»Der Pitt kann mich mal«, heulte Bubi. »Der kann ja selbst nicht singen. Aber ich werde nicht aufgeben, ich lebe für meine Musik.«

 

Nach weiteren fünf Kandidaten, von denen immerhin einer mit einem Schein für den sogenannten Recall bedacht wurde, war Birsen an der Reihe. Ich war mir nicht sicher, ob ich schönen Gesang noch erkennen würde – mein Gehör war schon eine Stunde lang aufs Übelste gequält worden. Würde ich je wieder Mahlers Sinfonie Nummer 2 oder die Neunte von Beethoven genießen können?

Durch das Kameraauge betrachtet sah Birsen süß aus, als sie vor der Jury stand.

»Woher kommst du?«, fragte Pitt.

»Ich bin die Birsen aus Bierstadt. Siebzehn Jahre alt.«

»Und was machst du so?«

»Ich hab meine Lehre abgebrochen, um nur noch Musik zu machen«, klimperte Birsen.

»Was war das denn für eine Lehre?«, fragte die Jurydame.

»Verkäuferin«, antwortete Birsen.

»Und was singst du für uns?«, wollte Brett wissen.

Er war überraschend freundlich. Vermutlich gefiel ihm, was er sah.

»Ich sing nur für dich, Pitt«, strahlte Birsen.

Brett grinste fett. Aua, dachte ich.

»Und was?« Er bleckte diabolisch die Zähne. Aua, dachte ich wieder.

»Das tut ja so doll weh«, antwortete das Mädchen. »Von Annette Ballermann.«

»Na, hoffentlich tust du uns nicht doll weh«, grinste Brett. »Dann fang mal an, Kleine.«

 

Das tut ja so doll weh, / wenn ich dich mal seh. / Du warst die große Liebe. / Hab wie sonst was geweint, / Fühl mich am Boden / Furchtbar allein. / Das kann doch nicht wirklich sein …

 

Sie brach ab.

»Was ist jetzt?«, fragte Brett. »Mir tut das jetzt auch ganz doll weh …«

»Ich hab den Text vergessen«, zirpte Birsen. »Darf ich auf den Zettel gucken?«

Brett nickte grinsend.

Das Mädchen zog einen Zettel aus dem Ausschnitt und half seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Sie streckte sich und sang:

 

Was zwischen uns gelaufen ist, / das war zu viel von Anfang an / Mehr als in tausend Jahren. / Das tut ja so doll weh, / wenn ich dich mal seh …

 

Es klang schrecklich piepsig.

Ich schloss die Augen und dachte an den Artikel, den ich würde schreiben müssen.

Birsen hatte zu Ende gepiepst und schaute erwartungsvoll zum Jurytrio.

»Also«, sagte Brett lächelnd. »Ich bin begeistert …«

Ich traute meinen Ohren nicht. Er lobte sie! Birsen strahlte.

»Echt«, fuhr der Pop-Titan fort. »Wirklich begeistert … von uns …, dass wir das so lange ausgehalten haben.«

Rums. Birsens Lächeln gefror.

»Ich geb dir mal einen guten Rat.« Brett lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Du willst singen. Kannst du aber nicht. Du wirst auch nie singen können. Du solltest bei den beiden anderen Beschäftigungen bleiben, die auch mit S anfangen. Und weißt du, wie die heißen?«

Birsen schüttelte das Köpfchen.

»Shoppen und Saubermachen«, gab Brett Auskunft. »Du gehörst zu diesen Kakerlaken-ins-Koma-Sängerinnen.«

»Du bist so gemein«, flüsterte Birsen.

»Gemein ist mein Beruf, Herzchen. Aber du siehst ja süß aus. Mach was draus. Und jetzt tschüss.«

Im Warteraum stürzte Birsen heulend in die Arme ihrer Mutter. Die führte sie nach draußen. Hinter der Glastür bemerkte ich einen Mann. Er nahm beide Frauen in Empfang und gestikulierte wütend. Birsens Vater?

»Die Jury macht jetzt eine Stunde Pause«, teilte die Mikrofonstimme ein paar Kandidaten später mit. »Haltet euch danach wieder bereit. Das Catering für die Medienvertreter ist im Saal nebenan. Bitte zeigen Sie Ihre Akkreditierung vor.«

Der Monitor wurde dunkel.