Blechbläser, Holzbläser und die große Kultur

»Die Luft ist raus aus WSDS«, teilte ich auf der Redaktionskonferenz am Montag mit. »Brett ist außer Gefecht und die Werbekunden des Senders wollen ihre Verträge nicht verlängern.«

»Gut, dass diese schreckliche Musikveranstaltung ausgesetzt wird.« Margarete Wurbel-Simonis hatte ihren Krankenschein abgefeiert und spielte sich mal wieder als Gralshüterin der bürgerlichen Hochkultur auf. »Und – wenn ich noch etwas anmerken darf – Frau Grappas Geschichten dienen nicht gerade dazu, dieser Zeitung ein erträgliches kulturelles Niveau zu geben.«

»Ihre Reportage über die Blechbläserfamilie auch nicht«, konterte ich. »Was ist daran kulturell, dass Papa Tuba, Mama Trompete, Tochter Nummer eins Saxofon und Tochter Nummer zwei Klarinette bläst? Es kommt doch wohl auf die Musik an.«

»Die Klarinette gehört zu den Holzbläsern, Frau Grappa!«, belehrte mich Wurbelchen.

»Na, und? Das Saxofon von Tochter Nummer eins auch, verehrte Kollegin.«

Wurbelchen war schlecht beraten. Sie ging in die Falle: »Saxofone werden sämtlich aus Blech gefertigt, Frau Grappa.«

Ich seufzte laut und machte auf Volkshochschule. »Frau Doktor Wurbel-Simonis, ein Holzblasinstrument kann aus jedem Material gebaut werden. Entscheidend ist, wie der Ton erzeugt wird. Bei Instrumenten mit Rohrblatt wie beim Saxofon oder Luftblatt wie bei Flöte und Orgel handelt es sich um Holzblasinstrumente. Es gibt sogar Blechblasinstrumente aus Holz, Alphorn und Zink zum Beispiel. Die haben ein Kesselmundstück wie die Trompete und sind daher hölzerne Blechblasinstrumente.«

Das Wurbelchen sagte nichts und wurde rot.

»Aber was soll’s?«, tröstete ich. »Blasen ist Blasen.«

»Diese Töchter würde ich jedenfalls gern mal kennenlernen«, kicherte Pöppelbaum. »Die haben es bestimmt drauf.«

»Und ich die Frau Mutter«, machte Harras mit. Die Männer lachten, die Frauen schwiegen.

»Ich muss doch sehr bitten«, polterte Schnack. »Zickenkrieg hat in dieser Konferenz nichts zu suchen – genauso wenig wie schlüpfrige Bemerkungen, meine Herren. Und jetzt wünsche ich Ihnen allen einen angenehmen Arbeitstag.«

 

Klara Billerbeck ging mir immer noch nicht aus dem Kopf. Hatte mir die Eifersucht einen falschen Weg gewiesen?

Ich druckte den Artikel aus, in dem die Düsseldorfer Lokalzeitung über Justin Billerbecks Darstellung des Waldgeistes geschwärmt hatte. Der Bericht war ein halbes Jahr alt. Die Figur entstammte dem Märchen Dornröschen und die Titelrolle hatte ein Mädchen gespielt, das Yvette Schneider hieß.

Ich rief in der Schule an und gab mich als Yvettes Mutter aus. »Justin hat sein Handy bei uns liegen lassen und meine Tochter hat nichts gesagt. Haben Sie seine Adresse, damit ich mich entschuldigen und es ihm zurückgeben kann?«

Zum Glück kannte die Schulsekretärin weder Justin noch Yvette.

»Ich schau eben im Computer nach«, meinte sie. »Da hab ich es. Justin Billerbeck … Ach, es gab auch noch einen Kevin Billerbeck.«

»Wieso gab?«

»Die beiden sind nicht mehr an unserer Schule.«

»Und wo sind die beiden jetzt? Ist die Familie umgezogen?«, fragte ich.

»Scheint so.«

»Ich hab so eine vage Erinnerung … Wohnt die Familie nicht mehr in der Bahnhofstraße?«, fragte ich auf gut Glück. Eine Bahnhofstraße gab es in jeder Stadt.

Pause. Ich hörte die Sekretärin tippen.

»Da haben die nie gewohnt, jedenfalls steht hier nichts. Zuletzt Landgrafenstraße 35. Hier steht, dass die beiden sich mit ihrem Vater in die Staaten abgemeldet haben. Vor vier Monaten. Eine Adresse ist aber nicht angegeben. Das Handy müssen Sie wohl entsorgen.«

Die Information verschlug mir fast die Sprache. Ich schaffte es gerade noch, mich zu bedanken.

Klara Billerbeck hatte skrupellos eine Menge Lügen verbreitet. Von wegen alleinerziehende Mutter. Unverzüglich rief ich Kleist an und erreichte ihn in der Rechtsmedizin.

»Wer ist denn jetzt schon wieder ermordet worden?«, fragte ich.

»Der neue Chef des rechtsmedizinischen Instituts gibt seinen Einstand«, erklärte er. »Im Moment ist der Sezierraum eine Partymeile.«

»Wie romantisch! Bier und Frikadellen neben den Skalpellen. Und die Toten liegen stumm in den Schubladen herum.«

»Das reimt sich ja, Maria«, staunte Kleist. »Ich mag poetische Frauen. Komm doch vorbei. Hier ist jede Menge Presse.«

»Stimmt, ich hatte auch eine Einladung, aber ich hab sie völlig vergessen. Ich möchte dich gern etwas fragen. Wo wohnt Klara jetzt?«

»Maria! Hört das denn nie auf?«

»Du irrst dich. Sie hat dich belogen. Ihre beiden Kinder sind in den USA. Sie ist keine alleinerziehende Mutter. Es gibt nur einen alleinerziehenden Vater.«

»Das wusste ich nicht«, räumte er ein. »Aber es kann doch einen ganz einfachen Grund geben, warum sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Vielleicht schämt sie sich.«

»Vor dir – einem guten alten Freund?«, zweifelte ich.

»Du verrennst dich in etwas.«

 

Landgrafenstraße 35. Es gab Adressbücher im Internet – auch ältere. Ich gab Namen und Straße ein und fand tatsächlich eine Telefonnummer, die dazu passte. Der zweite Schritt: Landgrafenstraße 35 und Düsseldorf. Ich hatte Glück. In dem Gebäude gab es eine Arztpraxis und das Sonnenstudio Sunny Side.

Bevor ich wieder in eine Rolle schlüpfte, brauchte ich einen Kaffee. In der Küche fand ich Bärchen Biber – auf dem einzigen Stuhl sitzend. Er hielt sich an einem Becher fest und hatte verweinte Augen. Mein erster Impuls war: Kaffee packen und nichts wie weg! Doch der Kaffee war alle und ich musste neuen aufsetzen. »Hallo, Herr Biber.«

Biber schnäuzte das Tempo voll. »Hallo, Frau Grappa.«

»Wie isses?«

»Muss«, meinte er. »Und selbst?«

»Geht so.«

Ich grinste innerlich. Fast hätte ich ihn nach Mandelhörnchen gefragt. »Ist was passiert?«

»Nein. Wie kommen Sie darauf?«, schluchzte er.

»Ihre Haare liegen nicht so wie sonst«, entgegnete ich.

Es dauerte nicht lange, bis der Kaffee durchgelaufen war. Ich verzog mich, bevor Muttergefühle von mir Besitz ergreifen konnten. Prompt fühlte ich mich schlecht. Für etwa zwei Minuten.

 

»Ich suche die Familie Billerbeck. Die wohnten in der Landgrafenstraße 35«, erzählte ich der Sprechstundenhilfe. »Ich bin eine alte Freundin von Klara Billerbeck.«

»Das ist ja hier im Haus. Der Name sagt mir aber nichts«, entgegnete die Frau. »Ich arbeite aber erst seit einem Monat hier. Moment.«

Eine andere Frau meldete sich. »Die Billerbecks wohnen nicht mehr oben. Aber eine Adresse hab ich nicht.«

»Schade. Ich bin extra aus den USA gekommen«, half ich ihrer Erinnerung auf die Sprünge.

Erfolgreich, denn sie meinte: »Aus den USA kommen Sie? Aber dahin ist der Vater mit den Jungs ja hin. Kalifornien oder Florida – ich verwechsel das immer.«

»Und Klara?«

»Weiß nicht. Es gab doch diesen Prozess vor Gericht. Um das Sorgerecht für die Kinder.«

Ich jubelte innerlich. Ein Sorgerechtsstreit! Das bedeutete, dass es Akten gab, Anwälte und weitere Quellen.

»Dann ist die Ehe ja wohl endgültig gescheitert«, meinte ich. »Die armen Kinder. Danke Ihnen sehr. Ich werde dann mal in Florida oder Kalifornien nachfragen.«