Reden hilft Denken
Heinrich von Kleist, vermutlich verwandt mit meinem Lieblingshauptkommissar, hat ein Traktat Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden geschrieben. Und zwar vor über zweihundert Jahren. Kleist behauptete, wenn der Sprechende seine Gedanken ordnet, um seine Sichtweise dem Hörenden zu erläutern, wird er sich der Dinge bewusster und gelangt dadurch zu einer tieferen Einsicht in die von ihm angesprochenen schwierigen Sachverhalte. Wir würden heute sagen: Darüber reden ist hilfreich.
In der Bäckerei und während meiner Gespräche mit Anneliese Schmitz waren mir schon häufiger ganze Kronleuchter aufgegangen. Nicht, dass ich es darauf angelegt hätte – im Gegenteil. Oft wollte ich gar nicht reden, doch Frau Schmitz konnte sehr stur sein und hörte nicht auf, Fragen zu stellen. So verhalf sie mir regelmäßig zur kleistschen tieferen Einsicht.
»Hallo, Frau Grappa«, begrüßte sie mich. »Auch mal wieder da. Wie isses?«
»Hallo, Frau Schmitz. Schön, dich zu sehen. Mir isses gut. Und selbst?«
»Muss«, meinte sie. »Gehst du durch? Soll ich was machen?«
»Eine Kleinigkeit wäre nicht schlecht.«
»Brötchen mit Schinken und Käse?«, schlug sie vor.
»Gute Idee.«
»Kommt noch wer?« Sie hatte Neugier im Blick.
»Ich glaub nicht«, enttäuschte ich sie.
Ich begab mich ins Bistro. Es war noch ziemlich leer und ich konnte meinen Stammplatz einnehmen – hinten rechts und von der Straße aus nicht einsehbar.
Ich griff nach einem lokalen Frauenmagazin, das die In-Läden in Bierstadt vorstellte: Bars, Clubs, Sonnenstudios, Wellness-Schuppen und Klamottenläden. Nichts davon interessierte mich. Ich würde lieber durch den Gaza-Streifen laufen als durch Boutiquen. Immerhin fiel mir wieder das Glencheckkaro ins Auge. Es zierte einige der abgebildeten Klamotten und meine Gedanken waren prompt bei Klara Billerbeck.
Frau Schmitz brachte das Brötchen.
»Was würdest du machen, wenn man dir deine Kinder wegnimmt?«, fragte ich.
»Wie kommst du denn auf so ’ne Frage, Frau Grappa?«
»Das beschäftigt mich. Ich kenne jemanden, dem es so ergangen ist. Und jetzt sind die Kinder weit weg und dieser Jemand sieht sie nicht mehr.«
»Die Frage ist doch, warum man mir die Kinder weggenommen hat«, meinte Frau Schmitz. »Weil ich eine schlechte Mutter war?«
»So in etwa. Du hast vielleicht ein paar seelische Probleme wegen der Scheidung und so. Und du hast keinen Job, um die Kinder durchzubringen.«
»Das ist hart.«
»Was würdest du also machen?«, wiederholte ich die Frage.
»Ich würde versuchen, mich zu bekrabbeln, und dann die Blagen zu mir zurückholen.«
»Aber das Gericht hat dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen.«
»Hat der Vater denn eine neue Frau?«, wollte sie wissen.
»Keine Ahnung. Wäre aber vorstellbar.«
»Dieser Krieg zwischen Eltern um die Kinder ist voll daneben«, stellte die Bäckerin fest. »Gestern war so ein Drama im Fernsehen. Da ging es auch um so was. Warte mal eben, Frau Grappa, ich muss nach vorn. Kundschaft!«
Sie entschwand. Ich griff nach dem Tageblatt von gestern und schlug die Fernsehseite auf:
Bis nichts mehr bleibt – der Film erzählt die Geschichte einer Familie, die zerrissen wird von einer Sekte mit dem Namen Kirche der Erleuchteten. Der Vater, der aus der Sekte aussteigt, verliert in einem Sorgerechtsstreit seine beiden Kinder.
Es ist ein spannender Film mit einem starken Ensemble. Und es ist eine Premiere. Bisher hat kein deutscher Fernsehsender dieses heikle Thema zu einem fiktionalen Stoff verarbeitet. Gedreht wurde an Originalschauplätzen, so auch vor der Europazentrale der Sekte in Kopenhagen.
»Ich bin dann mal weg«, sagte ich zu der Bäckerin und legte einen Schein auf die Theke. »Bis demnächst, Frau Schmitz.«
Vielleicht lag ich falsch mit der Annahme, dass Klara Billerbeck etwas mit der Entführung von Brett zu tun hatte. Aber vielleicht mit dem Mord an Fuchs. Sie hatte bei Annabell Stickels Firma als Kellnerin angeheuert. Was also, wenn Klara nicht an Brett, sondern an Fuchs interessiert gewesen war? Aber welches Motiv konnte dahinterstecken? Hatte Fuchs etwas getan, für das Klara Rache ausübte? Oder hatte sie auch vielleicht einfach nur Annabell Stickel geholfen, sich des ungetreuen Ehemanns zu entledigen?
Ich ging mir selbst auf die Nerven. Warum wollte ich nur unbedingt, dass Klara in ein Verbrechen verwickelt war?