Schein und Sein
»Jetzt übertreibst du aber mal wieder«, meinte mein Hauptkommissar, als ich ihm abends die kühne These vorlegte. »Warum in aller Welt sollte Klara etwas mit dem Mord an Fuchs zu tun haben? Erst verdächtigst du sie, dass sie bei der Entführung mitgemacht hat, und nun das!«
»Was weißt du über Fuchs?«
»Er ist seit einem Jahr der hiesige Sektenchef, war vorher in den USA zur Thetanen-Ausbildung. Im Sektenhauptquartier der Illuminated Church in Florida.«
»Vater Billerbeck ist mit seinen Kindern nach Florida gezogen«, sagte ich. »Könnte aber auch Kalifornien sein. Ich muss das noch rauskriegen.«
»Aha. Dabei kann ich dir helfen. Ich weiß inzwischen seinen Vornamen. Er heißt Sven.«
»Sven Billerbeck also. Der müsste ja zu finden sein.«
»Ich habe ihn gefunden. Er lebt mit den beiden Söhnen in Florida.«
»In Clearwater?«
»Nein, in St. Petersburg«, antwortete Kleist. »Das ist aber nicht besonders weit von Clearwater entfernt. Er arbeitet dort im Sektenzentrum in der oberen Etage der Sektenhierarchie.«
»Das weiß du alles schon?«, fragte ich verdattert.
»Ich weiß noch mehr«, lächelte er. »Billerbeck hat eine neue Lebensgefährtin. Ihr Name ist Bettina Weber.«
»Die Schwester von Monika! Das ist ja ein Ding. Und warum unternimmst du nichts?«
»Was bitte, soll ich denn unternehmen? Soll ich etwa einen Auslieferungsantrag für Sven Billerbeck stellen, weil er einer Sekte anhängt, einen Sorgerechtsprozess gewonnen und eine Frau an seiner Seite hat, deren Schwester ermordet worden ist?«
»Nein, natürlich nicht«, gab ich kleinlaut zu. »Es geht ja weniger um Billerbeck, sondern eher um Klara. Und den Mord an Fuchs.«
»… den du nur zu gerne Klara anhängen willst. Was ich für völlig absurd halte.«
»Irgendjemand muss ihn doch erschossen haben. Und es war kein Fremder, sondern jemand, der sich im Sektenzentrum völlig ungehindert bewegen konnte. Sonst wäre der Täter aufgefallen.«
»Du hast recht, Maria«, stöhnte er. »Irgendjemand war es.«
»Ich kenne jemanden, der sich frei bewegen kann in der Kirche der Erleuchteten.«
»An wen denkst du?«
»Bettina Weber. Die gehört doch zu dem Laden.«
»Bettina ist aber nicht Klara.«
»Dann hat sich Klara eben als Bettina verkleidet«, trotzte ich.
»Nun lass doch mal die Hasskappe gegen Klara weg. Es gibt einige, die ein besseres Motiv hätten als ausgerechnet sie.«
»Ich weiß. Fuchs war ein unbeliebter Zeitgenosse. Arnold Weber hätte Grund gehabt, denn Fuchs hat den Mörder auf seine Tochter Monika gehetzt, Bettina Weber könnte aus demselben Grund die Täterin sein. Annabell ist die betrogene Ehefrau mit einem geradezu klassischen Motiv.«
»Na, siehst du«, meinte Kleist zufrieden. »Klara passt als Mörderin einfach nicht ins Bild.«
»Noch nicht«, entgegnete ich. »Wie hast du neulich noch so richtig formuliert? Manche Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Und manche scheinen so, wie sie nicht sind.«
Mir ging diese Formulierung nicht aus dem Kopf. Was war an der Beziehung Klaras zu Fuchs nicht so wie es schien? Um herauszubekommen, was die beiden miteinander verband, musste ich mit Klara reden. Aber wo war sie? Ich überlegte. Vielleicht wusste das ja Annabell Stickel – immerhin war sie Klaras Arbeitgeberin.
Nachdem Kleist gegangen war, suchte ich die Telefonnummer von Mystic Food heraus. Annabell Stickel hatte die Firma schon verlassen. Also ab ins Auto und zu ihrer Wohnung. Es war schon spät und meine Chance, sie bei sich zu Hause anzutreffen, war nicht schlecht.
Als ich vom Parkplatz aus auf das Haus zulief, guckte ich die Fassade hoch. Und ging im nächsten Moment hinter einem Baum in Deckung. In der zweiten Etage beugte sich eine Frau aus dem Fenster und schüttelte eine Decke aus: Klara Billerbeck. Na prima, dachte ich. Volltreffer!
Ich klingelte irgendwo – nur nicht bei Stickel. Der Summer zeigte an, dass jemand den Türöffner betätigt hatte. Ich nahm die Treppe nach oben.