Die »ackrobatin« an der Stange
Der Sender hatte seinen Hauptsitz in Köln, doch für die Dauer der Show war eine Dependance in einem Bierstädter Hotel eingerichtet. Da saßen wir nun in einer Lobby, die mit den Logos der Show dekoriert worden war.
Die Pressesprecherin war eine total gut gelaunte Quietschemaus namens Jessica von Neuenfels mit Bauchnabelpiercing und Tattoo auf der Schulter.
»Haben Sie keine Angst um Ihren Jurychef?«, fragte ich, nachdem wir einen Zeitplan und Fototermine abgesprochen hatten.
»Solche Drohungen gibt es immer wieder«, erwiderte Jessica. »Pitt Brett dividiert die Menschen eben auseinander. Das ist das Konzept der Sendung. Ich gebe ja zu, dass man über seine Sprüche zu den Leistungen der Kandidaten geteilter Meinung sein kann – aber die Zuschauer lieben genau das!«
»Ja, manche freuen sich, wenn andere richtig eins in die Fresse kriegen«, stimmte ich zu. »Schadenfreude und das Gefühl, dass andere noch unter einem stehen. Sozialhygienetechnisch hat das sicherlich seine Berechtigung.«
»Genau!« Jessica von Neuenfels kaute heftig auf ihrem Kaugummi herum. »Im alten Rom hat man die Gladiatoren in die Arena geschickt. Unsere Kandidaten überleben das Spektakel zumindest.«
Huch, woher kannte Jessica die Sitten und Gebräuche im alten Rom? Ich hatte sie wohl unterschätzt.
»Pitt Brett ist übrigens ein sehr angenehmer Kollege«, teilte sie mir mit. »Die Rolle des Vernichters spielt er nur, mehr nicht.«
»Ich werde ihn ja wohl kennenlernen«, stellte ich ohne Enthusiasmus fest.
Wieder zurück in der Redaktion setzte ich mich immer noch ohne Enthusiasmus an meinen ersten Artikel zum Thema Castingshow.
Um mich einzustimmen, schaute ich mir die Homepage von Pitt Brett an. Sie war gut gemacht, weil sie sehr publikumsnah wirkte. Ich las:
Du denkst also, du hast das Talent zum Singen. Wenn du das genau wissen willst, dann trau dich. Stell dich vor eine Kamera und sing. Und tanz dabei. Vielleicht bekommst du dann eine Einladung in meine Show. Das wäre der günstigste Fall. Wir stellen aber auch die Talentfreien vor. Vielleicht gehörst du ja zu denen. Dann werden die anderen einen Höllenspaß haben, dich zu sehen. Und auch das siehst du dann hier auf der Seite. Im Gästebuch des Musikproduzenten hatten sich über dreißigtausend Fans und Kritiker verewigt.
Nach zehn Minuten Lektüre kopierte ich zwei Einträge heraus. Der erste bestach durch seine konsequent falsche Rechtschreibung:
Superstahr war ja wieder irre, es hatt mir ganz dolle Die Tenzer Gruppe, bei dem einen Senger gefallen, wo Die ackrobatin an der Stange, bzw die beiden frauen die auch Ackrobat ische sachen gezeigt haben am besten gefallen. Viele Liebe grüße von Kimberley Schulze aus Magdeburg
Aber auch heftige Schläge musste der Pop-Titan, wie er sich gerne nennen ließ, einstecken:
Herr Brett, ich habe heute Morgen durch Zufall einen Titel von Ihnen im TV gesehen. Dort geben Sie sich ja große Mühe mit der Lippenbewegung, als ob Sie den Titel singen und auch auf der Gitarre spielen. In Wirklichkeit waren Sie damals, sind es heute und werden es auch in der Zukunft sein, ein Blender und Schauspieler. Sie können weder singen noch Gitarre spielen!!! Was Sie können, und das möchte ich Ihnen nicht absprechen, ist provozieren und Menschen mit Ihren geistlosen Sprüchen volllabern. Ansonsten sind Sie für mich der größte Spinner im deutschen Fernsehen!!!
Ich klickte in die Navigationsleiste auf den Button Aktuelles. Die neueste Eintragung war von gestern.
Fickt euch ins erleuchtete Knie! – war unter einem mächtigen Stinkefinger zu lesen, auf dem das achtendige Symbol der Kirche abgebildet war. Ganz schön mutig, dachte ich.
Seit geraumer Zeit erhalte ich Drohungen von einer Gurkentruppe, die sich Kirche der Erleuchteten nennt. Diese Heinis glauben, dass ich nichts Besseres zu tun habe, als meine hart verdiente Kohle in sinnentleerte Kurse und Seminare zu stecken, die meine Seele befreien sollen. Ich sag euch eins, Leute: Ich mach den Scheiß hier nur so gut, weil ich schon befreit bin! Und nun zieht anderen das Geld aus der Tasche. Deppen gibt es ja genug. Und wenn es einen Gott gibt, dann ist das der gute alte Mann mit Bart da oben, der aussieht wie Dan Kelly, und nicht der abgewichste kleinkriminelle Bigamist aus den Staaten, den ihr für euern Heiland haltet.
Ich musste lachen. Brett langte ordentlich zu. Sein Streit mit der Kirche der Erleuchteten schien nicht neu zu sein.
Tatsächlich fand ich einige ältere Zeitungsartikel, die sich mit den Auseinandersetzungen zwischen Brett und der Kirche befassten – darunter auch sehr seriöse Blätter.
Brett war politisch völlig inkorrekt, oft richtig frauen- und migrantenfeindlich. Im Netz gab es einige Foren, die die Brett-Sprüche sammelten und sogar nach Themen ordneten.
Zu einer angejahrten und talentfreien Blondine hatte er mal gesagt: Wenn man dich als Vogelscheuche aufstellt, bringen die Vögel die Kirschen vom Vorjahr zurück …
Zu einem mit Akne verzierten Bengel mit arabischem Namen: Dein Gesicht gehört auf ein Poster für Empfängnisverhütung …
Und ein Pummelchen, das keinen Ton traf, hatte sich Folgendes anhören müssen: Du, der Zoo hat gerade angerufen! Die möchten dich wiederhaben!
Ich amüsierte mich köstlich. Der Mann war ein verbaler Randalierer. Niemand war vor ihm sicher. Er erlaubte sich alles. Darum nahmen ihm viele nichts übel.
Ich beschloss, ihn gleich in der Überschrift meines Artikels zu zitieren:
VOR DER WSDS-CASTINGSHOW –
POP-TITAN PITT
BRETT LEGT SICH MIT AGGRESSIVER SEKTE AN:
»IHR SEID EINE GURKENTRUPPE!
«Pitt
Brett, der umstrittene Jurychef, der immer wieder im Fokus von
Medienwächtern und Jugendschützern steht, bekommt neuen Ärger:
Diesmal hat er sich mit der Kirche der Erleuchteten angelegt. Auf
seiner Homepage bezeichnet der Musikproduzent den Sektengründer
Ronny Hovart als – so wörtlich – »abgewichsten kleinkriminellen
Bigamisten aus den Staaten«.
Sektenvertreter verteilen im Vorfeld der Castingshow in
Bierstadt Flugblätter, in denen Brett als »unterdrückerische
Person« bezeichnet wird.
Das Papier ruft zum Boykott der Show auf. Brett behauptet,
von der Sekte seit längerer Zeit bedroht zu werden. Der
Privatsender, der WSDS produziert, hat den Personenschutz für den
Jurychef erweitert.
Schnack hielt sich nicht mehr in den Redaktionsräumen auf – er machte sich bestimmt schon chic für das Date mit Bärchen im Cinderella. Also konnte er meinen Artikel nicht gegenlesen. Was sollte es. Ich hatte ja nichts Anstößiges geschrieben.
Ich rief Friedemann Kleist auf dem Handy an. »Hast du Lust, dir mal meinen neuen Chef anzusehen?«, fragte ich.
»Den kenne ich schon«, entgegnete er. »Er hat seine Tour de raison im Präsidium schon hinter sich. Der Präsident hatte alle Abteilungsleiter dazugebeten.«
»Und? Welchen Eindruck hast du?«
Kleist lachte. »Es wird nicht leicht für ihn.«
»Wie meinst du das?«
Wieder Lachen. »Ich will es mal so ausdrücken, Maria. Ich beneide ihn nicht. Unter dir Chef zu sein, ist bestimmt nicht einfach.«
»Komme ich so dominant rüber?«, grummelte ich.
»Dominant ist nicht das richtige Wort«, erläuterte mein gelegentlicher Liebhaber. »Störrisch, rechthaberisch, trotzig – das sind die Adjektive, die mir eher zu dir einfallen.«
Ich schluckte und sagte nichts.
»Ich würde jetzt gern dein Gesicht sehen«, freute sich Kleist. »Flunsch und gekräuselte Stirn? Richtig?«
»Ich hab noch einen Termin«, wich ich aus. »Schönen Abend noch.«
»Wolltest du mich nicht eigentlich mitnehmen zu dem Termin?«, erinnerte er sich.
»Hast du denn Lust auf ein schnelles Bier im Cinderella? In einer halben Stunde?«