Wer kann sensibel?

Dr. Berthold Schnacks Wochenende war wohl entspannend gewesen, denn er wirkte gelöst. Neben ihm saß eine Frau mittleren Alters, die er uns als Frau Keucher-Blum vorstellte. Sie war nicht unattraktiv. Schlank, gute Haut und viel braunes Haar. Kluge Augen hinter einer randlosen Brille und ein leicht dominanter Zug um den Mund. Ihre Kleidung war von schlichter Eleganz und farblich zurückhaltend. Mir war sofort klar, warum die drei aus dem Großraum so kiebig geworden waren: Sie ahnten, dass sie Keucher-Blum nicht das Wasser reichen konnten. Der Ärger war vorprogrammiert und ich war froh, dass das Scharmützel nicht nur zwischen mir und Schnack stattfinden würde.

Er verteilte die Arbeit, dann berichtete ich von meinem Vorhaben, die Familie Aslan aufzusuchen.

»Erst mal ein Vorgespräch«, sagte ich. »Die Familienkonstellation scheint schwierig zu sein.«

»Gute Idee, Frau Grappa«, lobte Schnack. »Eine Protagonistin mit Migrationshintergrund ist immer sympathisch. Wir arbeiten gern integrativ.«

»Zu diesem Sing-Blödsinn gehen sowieso nur die Verlierer, und das sind doch meist die Türken«, meinte Margarete Wurbel-Simonis. »Erst eben kam über die Agentur ein Bericht zur neuen PISA-Studie. Die Migranten lassen das Bildungsniveau so schlecht aussehen, nicht die deutschen Schüler.«

»Könnten wir bitte beim Thema bleiben?«, fuhr ihr Schnack über den Mund. »Ich finde solche Wortmeldungen unangebracht. Wir müssen mit der Gesellschaft klarkommen, in der wir leben. Was haben Sie eigentlich zur morgigen Ausgabe des Tageblattes beizutragen, Frau Kollegin?«

Wurbelchen schlug ein einfühlsames Porträt des Konzertmeisters des Philharmonischen Orchesters vor.

»Ist der nicht Koreaner?«, fragte ich. »Voll der Migrationshintergrund. Hoffentlich finden Sie den richtigen Ton.«

»Er ist Japaner, Frau Grappa!«, entgegnete Wurbelchen. An ihrem Hals krochen hektische Flecken hoch.

»Japan – Korea? Hauptsache Italien«, verhunzte Harras den uralten Fußballwitz.

»Schluss jetzt!« Schnacks Stimme klang ärgerlich. »Herr Biber, für Sie habe ich einen besonderen Auftrag.«

Bärchen nahm Habachtstellung an.

»Heute früh gab es einen bedauerlichen Schulwegunfall. Ein achtjähriges Mädchen wurde von einem Auto überfahren. Einem Geländewagen. Die Fahrerin hat das Kind aufgrund der Bauweise des Autos übersehen. Sie steht unter Schock. Und es waren noch andere Kinder am Schauplatz, die den Unfall mit ansehen mussten. Die Schule befindet sich ganz in der Nähe. Notfallseelsorger sind eingeschaltet. Ich hätte gern eine einfühlsame Reportage über diese Schule im Ausnahmezustand. Und Sie, Herr Pöppelbaum, begleiten Herrn Biber. Versuchen Sie, das Entsetzen und die Verzweiflung der Schülerinnen und Schüler und ihrer Lehrer ins Bild zu setzen. Bitte möglichst sensibel.«

»Sensibel kann ich nicht«, brummte der Bluthund.

»Wir alle lernen noch dazu«, lächelte Schnack zuckersüß.

 

Robert Fuchs, Operierender Thetan. So stand es auf der Visitenkarte.

Was war ein Thetan? Ich wollte das genauer wissen. Mit Birsen wollte ich mich am Nachmittag treffen.

Auf der Seite der Kirche der Erleuchteten machte ich mich schlau:

 

Der Thetan ist das geistige Wesen, die Seele. Es setzt seinen Verstand als ein Kontrollsystem ein, das zwischen ihm und dem physikalischen Universum steht. Der Verstand ist nicht das Gehirn. Das Gehirn ist Teil des Körpers. Es lässt sich mit einer Schalttafel vergleichen. Es ist bloß eine Leitungsröhre, die wie ein Telefonkabel Nachrichten übermittelt. Die Person als Thetan – als unsterbliches geistiges Wesen – zu betrachten, ermöglicht es, Fähigkeiten und Bewusstsein zu erhöhen.

 

Nach der Sektenlehre lebt der Thetan seit ewigen Zeiten, hat den Urknall – die Entstehung des Universums – mehrfach erlebt, ist allwissend und unsterblich. Laut Hovart sind die Thetane der Menschen mindestens 350 Milliarden Jahre alt und existierten bereits vor der Schöpfung.

Hörte sich an wie eine Stelle aus einem Science-Fiction-Roman, was keine Überraschung war, da Hovart sich erfolglos am Schreiben solcher Bücher versucht hatte.

Jeder Thetan hatte in diesen 350 Milliarden Jahren viele Verletzungen durchlitten. Diese hatten sich als Traumata im Thetan abgelagert. Und die Sekte lehrte, dass man sich durch Dianetik von diesen Störungen lösen konnte. Das erste Hauptziel der Entwicklung der Person war, sich von allen negativen Einflüssen aus Vergangenheit und Gegenwart zu befreien. Wem das gelang, der errang den Status ›Clear‹.

Aber damit war es nicht zu Ende.

In acht Stufen kann sich ein Clear zum OT, also Operierenden Thetanen entwickeln. Und von den Operierenden Thetanen ging es dann weitere fünfzehn Stufen aufwärts. Auf der obersten Stufe war ein Thetan mit allen Merkmalen der Allmacht ausgestattet. Der Thetan befand sich dann nicht mehr in einem Körper, sondern konnte in völliger Freiheit Materie, Energie, Raum, Zeit und Denken beherrschen.

Komplizierte Sache, dachte ich. Da waren die Prämissen der christlichen Kirchen einfacher: Oben im Himmel saß der liebe Gott und passte auf seine Schäfchen auf. Oder auch nicht. Jedenfalls musste man nicht selbst Gott werden.

Wenn Robert Fuchs als Operierender Thetan Raum, Zeit und Materie beherrschte, dann stand mir ein interessantes Treffen bevor. Eine Zeitreise durch die Schöpfungsgeschichte würde mir gefallen. Allerdings mit Rückfahrtschein. Und vielleicht einem leckeren Essen. Ob er auch den Trick mit dem Tischleindeckdich konnte?

Ich recherchierte weiter, doch die vielen Fachausdrücke zu den verschiedenen Seelenzuständen verwirrten mich. Die Erleuchteten glaubten daran, auch völlig verstörte Menschen ›heilen‹ zu können, waren aber erklärte Gegner der traditionellen Psychoanalyse.

Mein Magen knurrte, längst war Mittagszeit. Auf dem Weg in die Kantine kam ich am Chefbüro vorbei. Die Tür stand offen. Frau Keucher-Blum thronte hinter ihrem Schreibtisch, Bärchen Biber lümmelte sich auf dem Besucherstuhl. Beide schienen beste Laune zu haben. Kaffee duftete. Mir schien, als ob sie sehr vertraut miteinander waren – ich hörte ihr Lachen noch, als ich schon längst an der Tür vorbei war.

In der Kantine saß Pöppelbaum. Er winkte mir heftig zu. »Grappa! Gut, dass du kommst. Ich hab eben was erlebt, das zieht sogar dir die Schuhe aus.«

»Ich bin gleich da. Erst mal Essen fassen.«

Nur Chili con Carne war noch übrig. Ich nahm den Teller und setzte mich zum Bluthund.

»Warst du nicht mit Bärchen unterwegs?«, fragte ich.

»Das ist es ja!«

»Erzähl!«

»Wir sollten doch die Geschichte über den Unfall machen. Das achtjährige Mädchen, das von dem Geländewagen überfahren worden ist«, erzählte er. »Wir sind also zur Unfallstelle. Die Bullen waren noch da und einer von denen schilderte den Vorfall und zeigte uns die Stelle. Du kennst das ja, weiße Kreidestriche auf dem Asphalt. Und weißt du, was Biber gemacht hat?«

»Nein.«

»Er hatte einen Aktenkoffer dabei. Den öffnete er und holte einen kleinen Teddybären, drei Windlichter und einen Pappdeckel heraus, auf dem in Kinderschrift das Wort Warum? geschrieben war. Er drapierte alles an der Unfallstelle und forderte mich auf, ein Foto zu machen. Hier!«

Wayne reichte mir seine Kamera. Tatsächlich: Auf dem Display sah ich einen Teddy mit roter Schleife um den Hals, drei brennende Kerzen in rotem Glas und die Pappe.

»Ich fasse es nicht«, meinte ich kopfschüttelnd. »Das nennt man: Leser verarschen. Ob Schnack so was gut findet? Was hat das mit christlichen Grundwerten zu tun, mit Familienzeitung?«

»So ähnliche Fragen hab ich Biber auch gestellt«, berichtete Pöppelbaum. »Aber er hat nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass er das immer so macht. Er wolle die Emotionen der Leser ansprechen und der Zweck heilige die Mittel. Sein Gepäckstück nennt er ›Betroffenheitskoffer‹. Und er meinte noch, dass das im modernen Journalismus so üblich sei.«

»Damit könnte er sogar recht haben«, seufzte ich. »Bilder mit Teddys, Kerzen und der Warum?-Pappe hab ich schon hundertmal gesehen. Jetzt weiß ich wenigstens, wo die Sachen herkommen. Dabei sieht der Goldjunge aus, als könne er kein Wässerchen trüben.«

»Das täuscht«, sagte Wayne. »Der hat ganz schön zynische Sprüche drauf. Wie kaputt wird der erst mit vierzig sein?«

»Das ist unser Nachwuchs«, nickte ich. »Mit Bärchen werden wir noch einiges erleben. Seid ihr noch in der Schule gewesen?«

Wayne verneinte. »Die haben uns nicht reingelassen. Also lauerten wir den Kindern und Eltern vor der Schule auf. Wie Biber daraus aber eine Geschichte stricken will, ist mir ein Rätsel.«

»Das ist ganz einfach«, erklärte ich. »Tiefe verbale Betroffenheit garniert mit mageren Fakten aus dem Polizeibericht und dem Teddy-Bild. Das klappt. Bärchen kann sensibel, ganz bestimmt. Der Koffer ist der Beweis. Ich muss jetzt los. Kommst du allein klar?«

»Sicher. Was jetzt?«

»Birsen Aslan. Siebzehn Jahre und bereit für die große Karriere im Showbiz.«

»Soll ich mit? Fotos?«

»Noch nicht. Erst mal schnuppern.«