Und noch ein Brief der besonderen Art

Das passte in meine Pläne. Vielleicht konnte ich Schnack ein echtes Ei ins Nest legen. Sarah hatte mir verraten, dass er und Bärchen Biber zur zweitägigen Tagung eines christlichen Forums gefahren waren. Gewissermaßen sturmfrei.

In meiner Mailbox fand ich dreißig Leserbriefe vor. Manche waren per E-Mail gekommen, andere per Post. Die hatte irgendeine schlecht bezahlte Kraft einscannen müssen. Auf den ersten Blick nichts Aufregendes.

Aber zuerst musste ich den Artikel über den Mord vom Tisch haben. Ich las die Pressemitteilung noch einmal und legte los:

 

GLAUBENSBRUDER GESTEHT MORD AN MONIKA W. – FRAU WEHRTE SICH GEGEN ZUDRINGLICHKEITEN

 

Das Verbrechen an der 32 Jahre alten Monika W. ist aufgeklärt. Ein 40 Jahre alter Glaubensbruder der Kirche der Erleuchteten hat gestanden, die schwangere Frau erwürgt zu haben, weil sie sich gegen seine Annäherungsversuche gewehrt habe. Gegen den Mann ist gestern Haftbefehl wegen Mordes ergangen.
 Wie Kripo und Staatsanwalt rekonstruierten, wollte Monika W. sich nach einem sogenannten Reinigungs-Rundown zurückziehen. Der Täter hielt sie auf und versuchte Monika W., in die er schon längere Zeit verliebt gewesen ist, zu Zärtlichkeiten zu bewegen. Dies habe sie aber strikt abgelehnt und ihm gedroht, die Kirchenleitung zu informieren. Er habe dann die Nerven verloren und sie erwürgt. Mit seinem Pkw habe er sie in das Waldstück gebracht und dort abgelegt.
 Die schnelle Aufklärung der Tat verdankt die Kripo einem hochgestellten Mitglied der Kirche der Erleuchteten. Robert F., seines Zeichens Operierender Thetan der Sekte, schloss die Teilnehmer des Reinigungskurses an ein Gerät namens E-Meter an und stellte ihnen Fragen zu Monika W. Bei dem Täter wurden starke elektrische Impulse gemessen. Nach einer Befragung durch Robert F. gestand der Mörder die Tat und wurde der Polizei übergeben.

 

In einem Extrakasten nannte ich noch ein paar Fakten zur Sekte und ihren merkwürdig komplizierten Praktiken. Ich speicherte den Artikel ab und schickte ihn dann in die Layoutseite. Fertig.

Jetzt konnte ich mich in Ruhe um das Leserforum kümmern. Dazu musste ich das Haus verlassen. Ich brauchte dringend meine Mandelhörnchen. Ab zur Bäckerei Schmitz. Ich hatte freilich noch einen anderen Grund, Anneliese Schmitz zu besuchen.

Sie winkte mir schon zu, als ich die Straße zur Bäckerei überquerte. Sie räumte gerade Brote ins Schaufenster.

»Hallo, Frau Schmitz. Wie isses?«

»Tach, Frau Grappa. Muss. Und selbst?«

»Der neue Chef ist immer noch ungewohnt für mich«, seufzte ich. »Ich vermisse Peter Jansen. Kannst du das verstehen?«

»Kann ich, Frau Grappa. Willst du zum Trost ein kleines Mittagessen? Rührei mit Speck? Gürkchen? Weißbrot?«

»Das könnte ich jetzt gut verdrücken«, sagte ich dankbar. »Sag mal, Frau Schmitz … Darf ich mal an deinen Computer? Ich muss ins Internet. Hab vergessen, was zu recherchieren.«

»Hinten im Raum. Er ist noch an. War grad bei eBay drinne.«

Ich zog den Vorhang hinter mir zu. Auf einem kleinen Tisch stand der alte Rechner, den ich der Bäckerin kürzlich besorgt hatte – inklusive DSL-Anschluss.

Ich rief die Homepage des Bierstädter Tageblattes auf und klickte das Kontaktformular an. An die Leserbriefredaktion – tippte ich.

Fünf Minuten genügten.

Guter Dinge begab ich mich zurück ins Bistro, an den gedeckten Tisch.

Nach dem Mahl packte mir die Bäckerin vier Mandelhörnchen in die Tüte.

Zurück in der Redaktion fand ich in meiner Mailbox ein Schreiben der WSDS-Pressefrau. Jessica von Neuenfels teilte mir mit, dass ich beim ersten großen Casting einen bevorzugten Platz erhalten würde. Auch einen Gruß von Pitt Brett bestellte sie mir.

Ich rief Sarah an. »Sind noch Leserbriefe eingegangen?«

Es war üblich, dass die Sekretärinnen die Briefe sichteten und weiterleiteten.

»Ich guck mal nach, Grappa«, meinte Sarah. »Ich hab schon gehört, dass der Schnack dir die Leserbetreuung an den Hals gehext hat.«

»Nur solange die Wurbel-Simonis krank ist«, stellte ich klar.

»Die hat einen Krankenschein für ein paar Tage«, verriet Sarah. »Aber die verlängert bestimmt noch.«

»Der Schnack hat ihr ganz schön zugesetzt«, machte ich auf Mitleid.

Eine Minute später hatte Sarah mir den zuletzt eingegangenen Leserbrief zugemailt. Auf den hatte ich gewartet.

 

An das Tageblatt. Hallo, ich kam neulich zufällig an einer Kreuzung vorbei, an der ein kleines Mädchen totgefahren worden ist. Da standen noch einige Polizisten und Leute rum und alle waren geschockt. Dann kam ein Wagen angefahren und zwei Leute stiegen aus. Der jüngere von beiden hatte einen Koffer dabei und holte einen Teddy, Kerzen und ein Schild heraus. Das alles stellte er dort auf die Straße, wo der Unfall passiert ist. Der Typ zündete die Kerzen an und der andere machte Fotos. Am nächsten Tag sah ich die Bilder in Ihrer Zeitung. Darunter stand, dass Mitschüler des kleinen Mädchens die Sachen dorthin gelegt hätten. Verarschen Sie die Leser immer so? Was stimmt denn noch und was nicht? Auf eine Antwort bin ich gespannt, aber die kommt ja nicht, weil kritische Briefe bestimmt weggeschmissen werden. Ich glaub euch nix mehr. Verona Müller aus Bierstadt.

 

Ich tippte die Überschrift Teddy am Unfallort über den Brief und formulierte eine Antwort an die Leserin.

 

Stellungnahme der Redaktion: Das Foto mit dem Teddy, den Kerzen und dem Schild haben wir bewusst veröffentlicht, weil es Entsetzen und Betroffenheit über den tödlichen Unfall ausdrückt. Es soll nicht die Realität abbilden, sondern Emotionen stimulieren. Wir nennen das: Symbolfoto. Natürlich wollen wir die Leser damit nicht belügen, sondern der höheren Wahrheit der inneren Betroffenheit unserer Leser dienen. Ihre Redaktion.

 

Ich setzte die Antwort unter den Leserbrief und wandte mich den anderen Anschreiben zu. Sie befassten sich mit verschiedenen Themen. Politik, Sport, Klatsch, Tratsch. Durchweg harmlos. Ich layoutete die Seite und schob den Teddy-Brief an eine prominente Stelle.

Ob Schnack mich wohl noch einmal an die Leserbriefseite heranlassen würde?

Natürlich hatte ich Gewissensbisse. Dreieinhalb Sekunden lang.

Mein Handy klingelte. »Hast du Lust, heute Abend mit mir zu essen?«, fragte Friedemann Kleist.

»Hmm …«, machte ich. »Gern. Soll ich etwas besorgen?«

»Nein. Es wird Zeit, die kleine Küche einzuweihen. Ich koche im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Für drei Personen schaffe ich das schon. Bist du dabei?«

»Dreiii Persooonen?«, dehnte ich.

»Clara wird auch da sein. Ich habe dir doch von ihr erzählt.«

»Nein, ich höre diesen Namen zum ersten Mal«, meinte ich trocken.