Ein Kommissar mit Heiligenschein
Später erinnerte ich mich nur noch an die Farbe des Treppenbelags: dunkelrot mit unregelmäßigen weißen Punkten, wie bei einer Blutwurst. Und an die ärmlich dahindümpelnden Pflanzen auf den Fensterbänken im Treppenhaus. Anthurien und Opuntien, auf denen sich Staub gesammelt hatte. Und der Geruch nach einem Putzmittel mit Ammoniak stieg in meine Nase, wenn ich an diesen Tag zurückdachte. Dass mir jemand die Tür öffnete und wer es war, daran hatte ich keinerlei Erinnerung.
»Maria, bist du wach? Kannst du mich hören?«
Plötzlich war mir wohl, denn ich wusste, dass ich in Sicherheit war.
»Du lächelst ja. Also geht es dir besser.«
Mit Mühe öffnete ich die Augen. Über mir eine weiß getünchte Decke, rechts von mir mein Lieblingshauptkommissar – verschwommen und mit einer Aura umgeben.
»Du hast ja einen Heiligenschein«, murmelte ich. »Bin ich im Himmel?«
»Damit warten wir noch«, sagte Kleist zärtlich und strich mir über die Haare. »Und jetzt schlaf dich aus. Ich passe auf dich auf.«
»Was ist denn passiert?«, fragte ich. Doch dann war ich auch schon wieder weit weg.
Wilde Träume. Ein Garten mit explodierendem Grün. Feuchtwarm. Urwaldgeräusche. Und ein schönes Gefühl. Musik.
When I am Laid In Earth … Überirdisch. Traurige Engel mit großen Flügeln. Ich war berauscht von Glückseligkeit. Wohlige Schauer schwangen durch meinen Körper.
When I am Laid, am Laid in Earth …
Ich hatte Musik nie so gehört. Jede einzelne Note brannte sich in meine Seele. Es hielt mich nicht in meinem Versteck. Eine starke Kraft zog mich mitten in die Musik hinein und ich gab mich ihr hin. Ich wollte in den Garten, doch ich konnte mich nicht bewegen. Irgendetwas hielt mich gefangen. Ich kämpfte dagegen an. Bald gab ich auf und fiel ins Schwarze.
Eine Uhr schlug satte Echos. Die Töne vermischten sich zu einem Kanon. Eine Melodie entstand. Bilder dazu. Grün und Blau, Dschungel und Himmel. Ich schwebte darüber.
»Geht es dir besser?«
Ich versuchte, die Augen zu öffnen, doch vergeblich. Ich wollte nichts hören, keine Antworten geben, sondern dort bleiben, wo ich war.
»Maria!« Eine Hand tastete nach meiner Wange. Leichte Schläge. Ich knurrte unwirsch.
»Es geht dir besser«, sagte Kleist.
»Es dauert eine Weile, bis die Drogen abgebaut sind«, sagte eine zweite Stimme.
»Wo bist du die letzten Tage gewesen, Maria?«
Tage?
»Wo warst du?«
Ich blinzelte. »Im Garten«, flüsterte ich. »Und jetzt geh weg, ich will wieder da hinein.«
»Lassen wir sie einfach schlafen«, sagte der zweite Mann. »So ein Verhör macht keinen Sinn, Herr Hauptkommissar.«
Viel später. Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen. In den Tropf, an dem ich hing, spritzte eine Gestalt in Weiß ein Schmerzmittel. Ich schloss die Augen und wartete auf die Wirkung.
Die Tür öffnete sich und Kleist trat ein.
»Hallo«, krächzte ich.
»Ah, du bist wach«, stellte er fest. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten, Maria?«
»Ich will es versuchen. Was ist bloß los mit mir? Mir ist übel und mein Kopf tut weh.«
»Jemand hat dich mit Ecstasy vollgestopft«, erklärte er. »Die Wirkung geht aber vorbei. In zwei Tagen kannst du wieder deine Mandelhörnchen knuspern. Und jetzt sag mir, was geschehen ist.«
Die Wirkung des Schmerzmittels setzte langsam ein und ich atmete tief durch.
»Ich bin zu dem Haus gegangen, in dem Frau Stickel wohnt. Ich wollte sie fragen, ob sie weiß, wo Klara ist. Der Summer ging und ich bin durch die Tür. Und dann weiß ich noch, wie die Treppe aussieht.«
»Wer hat dir die Tür geöffnet?«
»Keine Ahnung. Es ist alles weg.«
»Du warst zwei Tage verschwunden«, berichtete Kleist. »Gestern wurdest du gefunden – auf einer Autobahnbrücke. Du standest oben am Geländer und hast den Autos zugewinkt. Ein paar Leute bekamen Angst, sie dachten, du seist ein Steinwerfer und informierten die Autobahnpolizei. Die haben dich dann vom Geländer gepflückt.«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Das glaube ich dir gern«, nickte er. »Diese Gedächtnislücken sind bei Ecstasykonsum bekannt. Immerhin konntest du deinen Namen sagen und in deiner Handtasche fanden die Kollegen eine Visitenkarte mit meiner Nummer.«
»Handtasche? Die ist da?«
Kleist reichte sie mir und ich leerte sie auf der Decke aus.
Es war noch alles vorhanden, und ich konnte mich auch an alles erinnern. Der Lippenstift, der Terminkalender, die Puderdose, die Geldbörse, Haus- und Autoschlüssel, die Aspirintabletten und die Herpescreme. Auch das Handy war da – ausgeschaltet. Ich drückte auf die rote Taste, aber es tat sich nichts. Da fiel mein Blick auf den Chip, der sich unter die Puderdose verkrochen hatte. Das Handy war von fremder Hand deaktiviert worden.
Und ich bemerkte etwas, was ich noch nicht kannte. Ein kleines Stöckchen. »Friedemann?«
»Ja?«
Ich zeigte ihm das Teil. »Was ist das hier?«
»Was weiß ich. Vielleicht ein Fingernagelpolierstab oder eine Erinnerung an deinen letzten Liebhaber?«
»Wieso sollte mich dieses Ding an dich erinnern?«
»Nun gut, vielleicht ist das auch der Rest eines halben Hähnchens«, sinnierte er. »Gib mal her. Wir haben Leute, die finden heraus, was die Opfer zuletzt gegessen haben.«